Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

22.
Im Packeis

Zwischen 155 und 160 Grad östlicher Länge von Greenwich steuernd, bekam man am 2. Dezember bereits unter 60 Grad S. den ersten Eisberg zu sehen, dessen Tafelform und senkrecht abfallende Wände ganz den Charakter der antarktischen Eisberge trug. Zwei Tage darauf war unter 65° 20' S. die Packeiskante erreicht.

Hier mußte der große Dampfer mit den Kohlenschiffen zurückbleiben, während das »Südkreuz« sich kühn in das Eis begab.

Holm machte Ernst auf einen dunklen Widerschein am südlichen Himmel aufmerksam: »Ein günstiges Vorzeichen!« meinte er: »Wissen Sie, was dieser eigentümliche Schatten bedeutet?«

»Nein!« entgegnete unser Freund neugierig.

»Es ist ein sicheres Anzeichen dafür, daß sich hinter dem Packeise offenes Meer befindet.«

Vorerst aber befand man sich im Eis, und wenn es anfangs auch durch breite Rinnen flott vorwärts ging, so schien es doch bald anders zu werden: die Temperatur sank plötzlich und das Wasser erstarrte rings um das »Südkreuz«. Dazu kam ein heftiger Orkan, der die Schollen gegeneinander trieb. So geriet ein Teil der Eismassen in Bewegung.

Die Eisberge boten einen großartigen Anblick. Die meisten zeigten die Würfel- oder Tafelform, die für das antarktische Gebiet, im Gegensatz zum arktischen, bezeichnend ist.

»Woher kommt es eigentlich, daß diese Eisberge so viereckig sind?« fragte Eva: »Auf Abbildungen sieht man sie doch meist als phantastisch gezackte Gebilde.«

»Wenn es sich um Eisberge des hohen Nordens handelt, ja!« erläuterte Raimund: »Denn dort herrscht das Meer vor und das im Wasser gebildete Eis erscheint zerfressen und voller Spitzen und Kanten. Am Südpol dagegen befindet sich zweifellos ausgedehntes Land mit gewaltigen Gletschern, die in einer mächtigen Eismauer über die Küste ins Meer abfallen. In diesem Gletschereis entstehen, teils durch Temperaturwechsel, teils durch die Hebung und Senkung des Meeres durch Ebbe und Flut, Risse und Spalten. Fortwährend lösen sich hiedurch mehr oder minder große Blöcke los, um dann frei im Wasser schwimmend nordwärts zu treiben.

»Das gibt diese gleichmäßig geformten Tafelberge, die oft ungeheure Größenverhältnisse aufweisen. Dieser dort ragt zum Beispiel etwa fünfzig Meter über den Wasserspiegel empor und mag dreieinhalb Kilometer in der Länge messen. Hier rechts ist noch ein größerer Koloß: ich schätze ihn auf fünf Kilometer Länge und siebzig Meter Höhe. Da nun das Eis, infolge seines geringen spezifischen Gewichtes, siebenmal so tief unter Wasser taucht, als es darüber ragt, so läßt sich leicht ausrechnen, daß die Gesamtdicke des Blocks gegen sechshundert Meter betragen muß. Dieser Umstand bringt es mit sich, daß solche Eismassen in seichtem Wasser häufig auf Grund stoßen und zeitweise die Küste absperren, wohl gar ein Schiff einschließen.«

»Nein! Ist das dort drüben ein prächtiger Eisberg!« rief nun Eva aus, auf einen Riesen weisend, der sich langsam dem Schiff näherte: »Das ist einmal ein echter Nordländer: sollte der sich vom Nordpol hierher verirrt haben?« und sie lachte.

»Das nun gerade nicht,« sagte Kapitän Münchhausen: »Der sah in seiner Jugend auch nicht anders aus, wie die übrigen; allein er ist ein alter Kracher, verwittert und zerfressen durch die Schmelzkraft der Sonne.«

Der bezeichnete Eisberg bot wirklich einen märchenschönen Anblick mit seinen Spitzen und Zacken, Türmen und Türmchen, mit seinen Zinnen und Nadeln, Bogen und Höhlungen, von denen wiederum Zapfen in allen Größen niederhingen. Die Strahlen der Sonne brachen sich tausendfach im Regenbogenglanz im Kristall dieser Eisburg, deren gewaltige Wände blitzten und flimmerten, als seien sie mit Edelsteinen übersät. Unten aber schäumten die Eisschollen wie Wogengischt an den starren Mauern empor und zersplitterten daran mit donnerndem Getöse.

»Oho!« rief Maibold: »Der Kerl droht, uns gefährlich zu werden! Ich habe zwar das größte Vertrauen zu der Widerstandskraft Ihres Fahrzeugs, verehrter Baron; aber der Riese steuert geradewegs aus uns los, und ein Zusammenstoß mit ihm möchte doch bedenklich ausfallen.«

Das »Südkreuz« befand sich mitten im Packeis in einer offenen Rinne, deren Eingang schmal und vielfach gewunden gewesen war. Es schien darum nicht möglich, durch einen Rückzug dem rasch herantreibenden Eisberg ausweichen zu können.

Münkhuysen erwiderte dem Doktor: »Bedenklich ist die Sache, und ihr Ausgang nicht abzusehen; doch hoffe ich, unser Schiff hält den Stoß aus.«

Gleich darauf kam der Koloß heran, das Packeis vor sich herschiebend und zersplitternd. Im letzten Augenblick jedoch, als schon alle bangten, er möchte das Schiff zu Staub zermalmen, glitt er vorüber und streifte nur leicht die Bordwand. Weiter hinten aber blieb der rücksichtsvolle Schwimmer im dichteren Packeise stecken und versperrte dadurch dem »Südkreuz« den Rückweg.

Das war recht unerfreulich, denn die offene Wasserstraße erwies sich als eine Sackgasse, da eine ausgedehnte Eisscholle den Weg nach Süden verlegte.

Mit voller Wucht prallte das Schiff aus dieses Hindernis. Wer sich auf den Beinen befand, wurde durch den jähen Stoß zu Boden geschleudert. Die Scholle knisterte und krachte, doch hielt sie stand.

Das »Südkreuz« mußte zurück, so weit es ging, und einen neuen Anlauf nehmen. Als es dann zum zweitenmal gegen die Scholle stieß, barst diese auseinander. Wasser und Eissplitter sprudelten an den Flanken des Fahrzeugs empor, das sich nun zwischen den Trümmern hindurch weiterarbeitete.

Nach kurzer Zeit saß es aber wieder fest im Eise, und diesmal konnte es weder vor noch zurück. Die Insassen sollten nun aus eigener Erfahrung kennen lernen, was man unter »Schraubeis« versteht. Das Eis, das sich um das Schiff drängte, begann nämlich zu schrauben: große Blöcke schoben und türmten sich aufeinander in drehender Bewegung, und schraubten sich so an den Schiffswänden empor.

Hätte das »Südkreuz« einen Kiel besessen, so wäre dieser durch das zusammengepreßte Eis festgeklemmt und abgedrückt worden, und dann wäre das Schiff unrettbar verloren gewesen; nun aber bewährte sich seine Bauart aufs trefflichste: die gewaltige Pressung drückte es allmählich mit seinen glatten, gerundeten Wänden aus dem Eise heraus; es hob sich empor über die Eismassen, die gedroht hatten, es zu zerquetschen und zu begraben, und nun bestand nur noch die Gefahr, daß es Jahr und Tag auf dem Eise sitzen bleiben müsse und willenlos mit ihm dahintreiben werde, wie einst die »Belgica«.

Zum Glück erhob sich in der Nacht ein tobender Blizzard, wie man die Schneestürme der Südpolargegenden nennt, und brach das nicht allzudicke Eis. Das Schiff hatte wieder offenes Fahrwasser; allein der hochausspritzende Gischt, der sofort in der eisigen Luft gefror, bedeckte Masten und Takelwerk, Verdeck und Wandungen mit einer dichten Eisschicht, die das »Südkreuz« beinahe zum Sinken gebracht hätte.

Mit Beilen und Äxten mußten die Eismassen abgesplittert und über Bord geworfen werden, namentlich galt es, die Steuerrohre vom gefrorenen Seewasser zu befreien, da sie ihren Dienst versagten, und unbeweglich waren.

Dann aber ging die Fahrt wieder flott vorwärts durch offenes Wasser.

Am folgenden Tag brachte jedoch ein schneidender Wind auch dieses Wasser zum Gefrieren, so daß es den Anblick einer Suppe bot, auf der Fettaugen schwimmen, oder, in diesem Falle »Eisaugen«. Diese runden Gebilde schmolzen zusammen und bildeten tellerartige runde Scheiben von dreißig Zentimetern bis zu einem Meter Durchmesser und mit rings aufgebogenen Rändern.

»Nein, wie drollig!« bemerkte Eva bei diesem Anblick: »Da schwimmen ja lauter Fruchttörtchen!«

»Oder Eierkuchen,« belehrte sie ihr Vater: »Diese Art der Eisbildung nennt man ›Eierkucheneis‹.«

Die »Eierkuchen« vereinigten sich bald zu einer Eiskruste. Ein wesentliches Hindernis konnte diese nicht bilden, weil sie zu dünn war: man gelangte rasch hindurch, und zwar diesmal in völlig, eisfreies Meer.

Hier tummelten sich zahlreiche Raubwale oder Potfische, und Riesensturmvögel flogen über die blaue Fläche hin. Einer derselben geriet auf das Schiff, wo er vollständig hilflos war; denn zwischen den Masten und dem Tauwerk ist es diesen Vögeln unmöglich, sich in die Luft zu erheben, da sie zum Anflug eines größeren, völlig freien Raums benötigen.

Der Sturmvogel war ein Albatros mit krummem Schnabel, Schwimmhäuten und einer erstaunlichen Flügelspannweite. Der Albatros ist der größte fliegende Vogel der heutigen irdischen Vogelwelt.

Man schrieb den 6. Dezember, als das Packeis hinter dem »Südkreuz« zurückblieb, das sich nun aus 68° 45' Süd und 170° 5' Ost befand, also bereits den Polarkreis überschritten hatte.

Münkhuysen ließ jetzt einen streng südlichen Kurs einhalten und unmittelbar auf Kap Adare zusteuern, das am 8. Dezember in Sicht kam. Nun ging es östlich an der Possessioninsel vorbei, während sich zur Rechten deutlich die Küste von Viktorialand mit der Eismauer oder Bankise und dem hohen Mount Sabine zeigte.

Am 9. Dezember ließ man die Coulmaninsel rechts liegen und konnte bei schönstem Wetter die Gipfel des Mount Murchison und des Mount Melbourne erkennend Am 10. war die Franklininsel erreicht und im Westen erschien die hohe Kette der Prince-Albert-Berge auf Viktorialand.


 << zurück weiter >>