Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

20.
Das Südkreuz

Auf ihrem Ritt durch den australischen Busch kamen unsere Freunde einige Male an Lagern von Eingeborenen vorbei; denn eigentliche Ansiedelungen kennen diese von den Weißen gehetzten Wilden nicht.

Einmal sahen sie mit an, wie ein solcher Australier einen Baum erklomm. Der Mann hatte eine Bastschlinge zugleich um den Baumstamm und um seinen Leib geschlungen und stemmte die Füße an den Stamm, mit dem Rücken in der Schlinge zurückliegend, so daß diese straff gespannt wurde. So kletterte er Schritt für Schritt empor, sich jedesmal wieder vorneigend, um die Schlinge am Baume höher hinaufzustreifen.

»Sehen Sie,« sagte Münkhuysen zu Ernst: »Aus dieser Art des Kletterns wollen einige Gelehrte die Fußbildung des Menschen erklären. Der aufrechte Gang hätte nämlich, wie sie sagen, eine Erstarkung der mittelsten Zehe herbeiführen müssen, aber niemals die der innersten Fußzehen. Dagegen würde bei Menschenaffen, die diese australische Kletterweise übten, die innere Zehe erstarkt sein, wie dies tatsächlich der Fall ist. Auch die ganze Form unserer Fußsohle, die gerade für diese Kletterart besonders geeignet ist, hätte sich dadurch herausgebildet, daß Männer, Frauen und Kinder jahrhundertelang diese Kletterbewegungen ausführten.«

»Wahrhaftig wunderbar!« rief Mäusle aus: »Wer will uns jetzt aber beweisen, daß dieses australische Klimmsystem wirklich durch ganze Zeitalter hindurch die einzige oder hauptsächlichste Fußübung der Menschen war? Und dann, warum hat der seit Jahrtausenden übliche aufrechte Gang hernach gar keinen Einfluß mehr auf die Entwicklung der Fußform ausgeübt? Es wäre doch völlig unbegreiflich und unerklärlich, warum wir Europäer heute noch die gleiche Fußform besitzen wie diese australischen Kletterer, obgleich wir seit dem Altertum diese Art der Baumbesteigung nicht mehr üben und sich bei uns, nach den gleichen Entwicklungsgesetzen, die mittlere Zehe zur großen Zehe hätte entwickeln müssen?«

Professor Schulze stimmte dem Schwaben bei und fügte hinzu: »Man sollte meinen, wenn der Mensch von einem affenähnlichen Tier, dem Menschenaffen, wie diese neunmal Gescheiten behaupten, abstammte, müßten seine Füße ohne solche Hilfsmittel vortrefflich zum Klettern geeignet gewesen sein. Nicht die Spur! Durch den aufrechten Gang sollen sich seine Füße zunächst derart verändert haben, daß er seine bisherige Fähigkeit verlor, wie ein Affe zu klettern. Er müßte also das Klettern jahrhundertelang gar nicht mehr geübt haben, – ganz undenkbar! Plötzlich fühlte dieser Mensch mit den unpraktisch entwickelten Füßen wieder ein unabweisliches Bedürfnis, andauernd Bäume zu ersteigen. Er mußte nun erst wieder die Kletterei mühsam erlernen und wählte hierzu diese australische Methode, obgleich seine Fußform durchaus nicht für sie geeignet war, vielmehr sich erst durch diese neue Übung im Laufe von weiteren Jahrhunderten so ausbilden mußte, daß sie vorzüglich für diese Klimmweise paßte. So entstand die heutige Fußform des Menschen, und dann versagten urplötzlich alle Entwicklungsgesetze: aufrechter Gang, Sandalen, Schuhwerk, die bei völliger Vernachlässigung der so einflußreichen Kletterart längst hätten Plattfüße entwickeln müssen, konnten im Laufe der Jahrtausende die einmal festgelegte Fußform nicht im geringsten mehr ändern. Jeder Mensch in jedem Weltteil wird noch heute mit dem ›Kletterfuß‹ geboren, den er dieser Urform des Baumbesteigens verdanken soll. Auch keine spätere Art des Kletterns vermochte ihn mehr in anderer Richtung weiter zu entwickeln. Solche Aufstellungen sind derart tatsachenfremd und widersinnig, daß ein Kind ihre Unhaltbarkeit einsehen muß; und doch wird die Entwicklungslehre von Menschen geglaubt und verteidigt, die sich für ernste und vernünftige Denker halten!«

»Wissen Sie, was mir als das Natürliche, ja Selbstverständliche erscheint?« mischte sich nun Kapitän Münchhausen in die Erörterung: »Der Australier kam auf seine Klettermethode eben deshalb, weil der Bau des menschlichen Fußes sich für sie eignete. Das Umgekehrte anzunehmen, daß der Fuß sich erst im Laufe der Zeit dieser Methode anpaßte, ist einfach vernunftwidrig. Die Katze erklettert die Bäume in anderer Weise, nämlich so, wie es sich für ihre krallenbewehrten Füße paßt, die Fliege klettert nach ihrer Art, wie es ihrer Natur entspricht, und weder die Krallen der Katze noch der Fußleim der Fliege verdanken erst ihren Klimmversuchen die nachträgliche Entstehung. Der Mensch kann nähen, weil seine Finger sich dazu eignen, die Kröte macht keinerlei Versuch, das Schneiderhandwerk zu erlernen, weil ihren Pfoten die Vorbedingungen dazu fehlen. Allein die hochweise Entwicklungslehre sagt: ›Halt! Die Finger des Menschen bildeten sich zur Fähigkeit aus, die Nadel zu führen, weil der Mensch sich im Nähen übte.‹«

»Sehr richtig!« stimmte der Baron zu: »Es ist so: die Entwicklungslehre stellt alle Tatsachen und Erfahrungen gewaltsam auf den Kopf: zuerst soll der Primat oder das Urvieh irgend etwas Neues begonnen haben, und dann entwickelten sich bei ihm infolge dieser neuen Tätigkeit erst die Fähigkeiten, dieselbe auszuüben, obgleich er sie ja schon ausübte, ohne die Entwicklung abzuwarten, die erst durch seine Übungen bedingt war.«

»Ja,« bemerkte nun die kleine Eva zu aller Überraschung: »Weil der Fisch keine Lungen hat, stirbt er an der Luft. Vor grauen Zeiten aber fiel es einigen Fischen ein, sich das Leben in freier Luft anzugewöhnen, und sie starben mit nichten, sondern ihre Kiemen entwickelten sich im Lauf von Jahrmillionen zu Lungen, und das Landtier war fertig, das fortan im Wasser ertrinkt. Ich möchte nur, diese weisen Gelehrten versuchten einmal, sich das Leben im Wasser anzugewöhnen: da müßten sich ja ihre Lungen wieder zu Kiemen zurückbilden, wenn auch ganz allmählich in Millionen von Jahren, und das hätte den unschätzbaren Vorteil, daß sie nicht mehr schwatzen könnten.«

»Hören Sie, Ihre kleine Eva spricht ja wie eine Gelehrte!« sagte Neeltje erstaunt zum Baron.

»Das kommt daher, daß sie ihre Mutter so früh verlor,« meinte dieser: »Ich mochte sie keinem Kindermädchen anvertrauen und hielt sie unter meiner beständigen Obhut. So lauschte sie von Kind auf den Gesprächen der Erwachsenen und nahm frühzeitig daran teil, erst fragend, dann gelegentlich auch eigene Gedanken äußernd.«

»Aber recht hat sie!« nahm Mäusle wieder das Wort: »Durch Übung wird eine Fähigkeit zur höchsten Vollkommenheit gesteigert, das wissen wir alle. Niemals aber wird eine zuvor gar nicht vorhandene Fähigkeit entwickelt durch eine Übung, die ja erst durch ihr Vorhandensein ermöglicht wird. Die Vernunft sagt: jedes Geschöpf, auch der Australier, erklettert die Bäume in einer Art, wie sie ihm durch seinen Körperbau ermöglicht wird. Die Gedankenlosigkeit und Weltfremdheit, auch wenn sie sich ›Wissenschaft‹ nennt, behauptet, der Körperbau entwickelte sich entsprechend der gewählten Kletterweise, – und so in allen ähnlichen Fällen. Der Hund mag noch so oft versuchen, der Katze auf den Baum nachzuspringen, das Klettern wird ihm nie gelingen, weil die Natur ihn nicht dazu befähigte, und da hilft ihm die schönste Entwicklungslehre rein gar nichts. Letztere erweist sich als eine künstliche, phantastische Aufstellung, die sich auf keinerlei Tatsachen stützen kann. Sie behauptet, daß sich Organe veränderten, entwickelten, oder daß solche allmählich neu entstanden, weil ein Geschöpf ein Bedürfnis in dieser Richtung fühlte und Versuche anstellte, denen sich sein Körperbau anpaßte. Durch Jahrtausende mußte es dann solche unfertige Organe mit sich herumschleppen, die in ihrer Unfertigkeit völlig zwecklos und unbrauchbar waren.«

»Überhaupt diese Jahrmillionen!« spöttelte Schulze: »Man hat sie erfunden, um das Unwahrscheinliche einleuchtender zu machen, sie erreichen diesen Zweck jedoch nur bei der Beschränktheit. In unseren Tagen vollzieht sich jede körperliche Entwicklung stets in kurzer Zeit und ausnahmslos im Zeitraum des Lebens eines einzelnen Geschöpfs. Niemals ist zu beobachten, daß eine begonnene Entwicklung sich unfertig auf die Nachkommen vererbt und in diesen weiter entwickelt wird. Läge der Entwicklungslehre eine Spur von Tatsächlichkeit zugrunde, so müßten wir Tausende und Abertausende versteinerter Geschöpfe oder Überreste von vorzeitlichen Tieren finden in allen denkbaren Entwicklungsstadien: beispielsweise Fische, Amphibien oder Säugetiere mit Ansätzen zu Flügeln von den ersten Anfängen bis zur vollkommenen Entwicklung. Wir müßten aber auch in der heutigen Tier- und Pflanzenwelt alle möglichen Zwischenstufen in ihrer Entwicklung und ihren allmählichen Übergängen vor Augen haben, da die Entwicklung doch unaufhörlich im Gang sein müßte. Aber es zeigt sich von alledem keine Spur: wir finden in der Vorwelt wie heute stets nur fertige Geschöpfe, wenn sie uns auch nicht in allen Teilen ihres Körperbaus ganz verständlich sind. An Tatsachen, die für eine allmähliche Entwicklung sprächen, fehlt es durchaus, und einige spärliche Behauptungen vermögen diesen wesentlichen und entscheidenden Mangel nicht zu ersetzen.«

»Es ist wahr,« sagte nun auch Ernst: »Wenn ich über die Entwicklungslehre nachdachte, mußte ich immer denken, wenn sie recht hätte, müßte der Mensch längst Flügel besitzen oder schon hochentwickelte Ansätze dazu, denn wie lebhaft war seit Jahrtausenden sein Bedürfnis und seine Sehnsucht, fliegen zu können!«

»Das meine ich auch,« schloß Eva diese Unterhaltung: »Und die Perlenfischer, Schwämmesucher und andere Taucher müßten längst Kiemen haben und amphibisch leben können. Ihre Tätigkeit und Übung befähigt sie, minutenlang ungeatmet im Wasser zuzubringen, aber über eine bestimmte Grenze kam nie einer hinaus: da hört jede Entwicklung auf und der Erstickungstod tritt unfehlbar ein. Ebensowenig vererbt sich der Erfolg ihrer Übung im geringsten Maße, sondern ihre Kinder und Nachkommen müssen alle wieder immerzu ganz von vorn anfangen, bis sie so weit kommen wie ihre Väter und Voreltern, ohne je darüber hinauskommen zu können, wie es nach den angeblichen Entwicklungsgesetzen doch unbedingt sein müßte.«

Unter solchen Gesprächen erreichte man die Stelle, wo Münkhuysens Südpolfahrer, das »Südkreuz«, aus dem Stamme eines Riesenbaumes herausgearbeitet wurde.

Er war beinahe vollendet. Da die äußere Abrundung mit Säge, Beil und Hobel wenig Mühe machte, kostete die Herstellung des »Südkreuz« ungleich weniger Zeit und Arbeit als die eines gewöhnlichen Schiffes, das aus so vielen einzeln gearbeiteten und zusammengefügten Brettern besteht.

Die Dampfmaschine war inzwischen eingetroffen und wurde dem Schiffe einverleibt. Mittels mächtiger Winden wurde dann das »Südkreuz« auf ein Gestell mit walzenförmigen Rädern gehoben, das reinste Trockendock, und fest mit demselben verbunden. Dann bestiegen unsere Freunde sämtlich mittels einer Strickleiter das Verdeck; Münkhuysen ließ die Kessel heizen und die Maschine in Bewegung setzen, und – siehe da! majestätisch rollte das »Südkreuz« auf seinen zwanzig Rädern durch den Urwald, wie wenn es für Landfahrten gebaut worden wäre.

»Ich begreife jetzt!« sagte Professor Schulze, nachdem er sich von seinem anfänglichen Staunen einigermaßen erholt hatte: »Die Maschine ist darauf eingerichtet, das Wasser vor sich durch die vordere Röhre einzuziehen und somit seinen Druck zu vermindern, indem es gleichzeitig hinten das Wasser ausstößt und so den Druck hinter sich verstärkt: so bewegt es sich im Wasser fort. Ganz ebenso muß es sich vorwärts bewegen, wenn es Luft einzieht und ausstößt, da der Luftdruck vorne verringert wird, während er hinten zunimmt.«

»So ist es,« sagte Münkhuysen, der persönlich das Schiff zwischen den Bäumen durchsteuerte, indem er der Einzugs- und Ausstoßröhre eine andere Richtung gab, wenn das Schiff eine Wendung machen sollte: »In spätestens vierzehn Tagen soll mein Schiff in Sidney vom Stapel laufen.«

In der Tat erreichten unsere Freunde Sidney schon nach zwei Wochen, und das »Südkreuz« fuhr unter dem Staunen der Bevölkerung durch die breiteste Straße der Stadt an den Meeresstrand.

Eine ungeheure Menge versammelte sich anderen Tags zum Stapellauf, der unter ihren Jubelrufen glücklich vonstatten ging.

Bild: Karl Mühlmeister

Am gleichen Tage langte auch die Jacht an, die so lange in Melbourne verweilt hatte. Es wurden noch allerlei für das Unternehmen nötige oder wünschenswerte Vorräte und Gegenstände eingekauft und auf das Polarschiff verladen. Die Hauptausrüstung, die auf der Jacht mitgeführt worden war, verstaute man auf einem großen Dampfer, der bis zur Packeisgrenze mitfahren sollte, in Gesellschaft von zwei Kohlenschiffen, da das »Südkreuz« viel zu beschränkt im Raum war, um alles Nötige aufnehmen zu können.

Dies alles nahm noch einige Zeit in Anspruch, und so kam der 20. Oktober, bis unsere Freunde zur Abfahrt klar waren.

Etwas schwierig gestaltete sich die Überführung der mandschurischen Ponys an Bord des Schiffes. Münkhuysen hatte nämlich acht dieser trefflichen, äußerst abgehärteten und ausdauernden kleinen Pferde kommen lassen. Er hoffte, daß sie bei Schlittenfahrten in das Innere des Südpolarfestlandes bessere Dienste leisten sollten als die Grönlandhunde, von denen er nur vierzig Stück mitgenommen hatte, eine kleine Zahl angesichts eines so wohl ausgerüsteten Unternehmens.

Endlich war alles an Bord, und die Schiffe stachen in See. Wieder hatte sich eine gewaltige Menschenmenge auf den Hafendämmen Sidneys angesammelt, und ein vieltausendstimmiges »Hipp, hipp, hurra!« erscholl, als das »Südkreuz« den Hafen verließ und das offene Meer gewann.


 << zurück weiter >>