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41.
Die Seeschlange

In den nächstfolgenden Tagen konnten unsere Freunde immer noch staunend aus respektvoller Entfernung die Ungeheuer der Urwelt beobachten und auch manches neue bekamen sie zu Gesicht.

Um ihre Zelte hatten sie einen hohen, dicken Steinwall errichtet, der von innen zu bequemer Ausschau erstiegen werden konnte. Ohne solchen Schutz hätten sie in beständiger Sorge leben müssen, daß sie eines schönen Tages oder eines Nachts von den plumpen Riesen zermalmt würden, die den Wald und den Meeresstrand belebten.

Der Aufenthalt war notwendig, weil auf die Italiener gewartet werden mußte, die mit den Hundewagen nachkamen und mehrere Tage brauchten, um den Weg zurückzulegen, der mit den Ballonstelzen so wenig Zeit in Anspruch genommen hatte.

Es galt, das sämtliche Gepäck über das Binnenmeer zu schaffen. Münkhuysen hatte, in Voraussicht derartiger Hindernisse, ein zerlegbares Boot mitgenommen, das in einigen Fahrten alles hinüberbringen konnte. Freilich konnte hier nicht daran gedacht werden, Menschen und Güter einer solchen Nußschale anzuvertrauen, angesichts der furchtbaren Geschöpfe, die dieses Meer der Schrecken unsicher machten.

Da war aber in der Nähe eine Landzunge, die beinahe bis zum jenseitigen Ufer vorsprang: das Meer verengte sich an dieser Stelle bis auf einen schmalen Seearm von etwa achtzig Meter Breite. Die so gelegen kommende Landzunge war offenbar ein uralter Damm, der als Brücke über das Meer führte, denn man fand darauf deutliche Spuren früherer Pflasterung. Dies war das erste sichere Zeichen dafür, daß die Gegend vorzeiten von Menschen bewohnt war, die eine gewisse Kulturstufe erreicht haben mußten. Die letzte Strecke dieses gewaltigen Werkes war von den Wellen, vielleicht auch von einem Erdbeben zerstört, ins Meer gesunken. Einzelne Bäume hatten auf dem fünfhundert Meter breiten Damme Wurzel geschlagen, und gerade an seiner Spitze ragte ein Baumriese von über hundert Meter Höhe und ganz gewaltigem Umfang.

Münkhuysen beschloß, ihn zu fällen, so daß er sich als Brücke über die Meerenge legte. Diese mächtige Brücke vermochte kein Saurier zu zerstören; allerdings drohte immer noch die Gefahr, daß ein Plesiosaurus mit seinem langen Halse einen oder den anderen während des Überganges herunterschnappen könnte: es würde also immerhin gelten, Vorsicht zu üben.

Äxte und Sägen waren auf alle Fälle auf den Ballonstelzen mitgenommen worden; an den Sprossen ließ sich ja viel befestigen, ohne den Läufer zu beschweren, da er nur entsprechend weniger Ballast aufzunehmen hatte. Die amerikanischen Baumsägen, welche Münkhuysen vorsorglich gewählt hatte, waren zum Niederlegen von Riesenbäumen besonders geeignet. Vier Tage lang dauerte die Arbeit des Einsägens, denn der Stamm war unten über fünfzehn Meter breit und dick.

Als man annehmen konnte, die Lücke sei groß genug, füllte man sie mit Schießpulver, legte eine Lunte und zog sich zurück. Bald erfolgte eine heftige Explosion, der Stamm neigte sich und stürzte dann mit Donnergekrach gegen das jenseitige Ufer. Er fiel genau so, wie Holm es berechnet hatte, und bildete nun eine Brücke, wie sie nicht besser gewünscht werden konnte. Sie war an der schmalsten Stelle, dreißig Meter unter dem Gipfel, noch vier Meter breit, so daß die Wagen bequem darüber fahren konnten. Nun wurde noch in der Mitte eine vertiefte, drei Meter breite Rinne eingeebnet, die eine geeignete Fahrstraße bildete.

Mittlerweile waren die Italiener mit dem Gepäck eingetroffen und wurden sofort über die Brücke geschickt, während die anderen es vorzogen, auf ihren Ballonstelzen das Meer zu durchwaten, das am Ende der Landzunge nur fünfundzwanzig Meter tief war. Sie konnten mit wenigen Schritten hinübergelangen und ersparten sich die Mühe, die Stelzen besonders hinüberzuschaffen.

Plötzlich stieß Doktor Maibold einen gellenden Schrei aus: »Sehen sie dort, dort!« rief er schreckensbleich und deutete nach rechts ins Meer hinaus. Alle wandten sich dorthin und da wurde ihnen ein Anblick, der ihre Nerven aufs äußerste erschütterte: über den Meeresspiegel erhob sich ein Kopf, gleich dem eines Krokodils, nur geschmeidiger und von nie gesehener Größe, umwallt von einer weißen Mähne, so daß er sich auch mit einem riesigen Pferdehaupt vergleichen ließ. Aus dem aufgesperrten, wohl zwei Meter langen Rachen starrten drei Reihen scharfer Zähne; die grünschillernden, widerlichen Augen drängten sich gleich Kürbissen hervor. Und dieses unförmliche Haupt erhob sich höher und immer höher über dem Wasserspiegel und wiegte sich an einem Schlangenleib, der einem Urwaldbaum an Dicke glich und sich nach allen Seiten hin bog, neigte und wand in blitzschnellen Bewegungen.

Die ganze Tierwelt auf dem Wasserspiegel ergriff alsbald die Flucht; doch schon hatte das entsetzliche Gebiß einen Plesiosaurus geköpft, einen Ichthyosaurus mitten durchbissen und selbst von einem Uferbaum ein Megatherium gezerrt. Und nun zerriß es die gemordeten Opfer und verschlang ihre Leiber in großen Brocken.

Dieser unerfreuliche Anblick machte den Zuschauern große Lust, sich in eine minder belebte Gegend zurückzuziehen, und doch mußten sie durch dieses Schreckensmeer hindurch, wollten sie ihr Ziel erreichen. Die Erkenntnis der grausigen Gefahren, denen sie entgegengingen, ließ auch die Mutigsten unter ihnen erzittern, und nur der Baron und Mäusle waren nicht aus ihrer kaltblütigen Ruhe zu bringen. Eva ihrerseits schien mit mehr Neugier als Entsetzen das gräßliche Ungeheuer zu betrachten.

Schon war die Seeschlange mit ihrem blutigen Mahl zu Ende und wiegte ihr Riesenhaupt hoch über den Menschenzwerglein, ausspähend, was sie zunächst erhaschen solle.

Die Italiener und die Hunde auf der Brücke schienen am meisten gefährdet. Die mandschurischen Ponys scheuten und stürzten sich ins Meer. Das war ihr Verderben, denn dadurch erregten sie die Aufmerksamkeit des Ungeheuers, das sie rasch hintereinander verzehrte. Dies mochte die Rettung der Italiener sein.

Kapitän Münchhausen schien sich zuerst gefaßt zu haben: »Meine einzige Hoffnung ist die,« sagte er, »daß dies unangenehme Vieh so kleine Wesen, wie wir sind, nicht beachten wird.«

Maibold konnte trotz seiner Angst eine spöttische Bemerkung nicht unterdrücken: »Na!« meinte er: »Einen so fetten Brocken, wie Sie einer sind, wird es sich schwerlich entgehen lassen: seien Sie auf der Hut, Kapitän!«

»Bin ich auch,« brummte dieser: »Ich gehe keinen Schritt voran, ehe Sie nicht das abscheuliche Reptil unschädlich gemacht haben, und das können Sie ohne Sorge tun, da es bekanntlich für Sie überhaupt nicht vorhanden ist.«

Der Doktor bezeigte jedoch nicht die geringste Lust, mit dem so hartnäckig geleugneten Fabeltier anzubändeln; er getraute sich unter solchen Umständen nicht einmal, den Übergang zu unternehmen und begann, sich eiligst zurückzuziehen, da das Haupt der Seeschlange sich bedenklich der Stelle näherte, auf der er stand.

Münkhuysen hatte einen Alpenstock erfaßt und erhob sich mit seinem Flugzeug in die Lüfte. Er sah seine Gefährten in dringender Gefahr und war entschlossen, den Kampf mit dem Ungetüm aufzunehmen, obgleich ihm stürmische und flehende Rufe nachschollen, von solchem aussichtslosen Wagnis abzustehen.

Maibolds rasche Flucht schien der Schlange den Entschluß eingegeben zu haben, gerade dieses Menschenkind zum nächsten Opfer zu wählen. Sie streckte den Hals über die Landzunge, und schon glaubten alle den Flüchtling verloren, als der Baron gerade noch rechtzeitig die Spitze seines Stockes in das eine Auge des Reptils stieß. Zischend schoß die lange, gespaltene Zunge weit aus dem Rachen hervor, während Münkhuysen seine Waffe zu neuem Stoß zurückzog und dadurch mit deren Widerhaken das getroffene Auge völlig zerfetzte.

Alle sahen in starrer und ängstlicher Spannung dem Kampfe zu: das Entsetzen lähmte sie. Nur Mäusle bestieg seine Stelzen und rief: »Ein Schuft, wer unseren kühnen und opfermutigen Führer in seiner Bedrängnis im Stiche läßt!« Da raffte sich Ernst auf und folgte seinem Beispiel; Raimund und Holm taten desgleichen.

Im Augenblick, da das Auge des Untiers zerstört wurde, ging ein wütendes Schnauben aus seinem Schlunde, das gleich einem Sturmwind die Wipfel der Uferbäume umbog. Grünliches, schleimiges Blut quoll aus der Wunde, zugleich aber geschah etwas, das niemand für möglich gehalten hätte. Der Baron schwebte fast zwanzig Meter hoch über dem Scheusal und schickte sich an, mit seiner ebenso langen Lanze, als welche der Alpenstock gelten durfte, einen zweiten Stoß zu führen, womöglich in das andere Auge, – da fuhr das Reptil wie ein Blitz in die Höhe, so daß sein Kopf volle dreißig Meter über den Meeresspiegel ragte. Jedermann hatte geglaubt, es habe sich bisher schon so weit, als ihm möglich war, über das Wasser erhoben, und nun wuchs der Leib mit einem Schlag um das Dreifache empor! Wie lang mußte er sein, da er doch zum größten Teil im Wasser ruhen mußte!

Münkhuysen flog zur Seite; doch schon erfaßte der herabschießende Kopf mit seinem Gebiß einen der Flügel und zermalmte ihn knirschend und krachend: da hing der Baron, einer Mücke gleich, vollständig wehrlos in der Gewalt des Ungetüms.

Mäusle war schon ins Meer gestiegen, und Ernst folgte ihm klopfenden Herzens. Die Seeschlange hob das Haupt, um sein Opfer in den Schlund gleiten zu lassen, als Mäusle ihr rechtes, noch unverletztes Auge mit dem Widerhaken seiner langen Stange faßte und aufschlitzte. Das geblendete Tier stieß einen wütenden Pfiff aus und ließ den erfaßten Flügel los, so daß Münkhuysen ins Meer fiel, den Sturz durch die schwachen Bewegungen seines noch heilen Flügels mildernd.

Inzwischen waren zwei junge Seeschlangen aufgetaucht, etwa einen Meter dick, mit Köpfen größer als die ausgewachsener Krokodile, und Augen gleich stattlichen Äpfeln. Sie wanden sich an Ernsts und Mäusles Stelzen empor, und die beiden mußten sich diesen neuen Angreifern zuwenden. Als jedoch des Barons Leib ins Wasser klatschte, glitten die Schlangen rasch hinab, um sich des hilflosen Opfers zu bemächtigen.

Der Schwabe und der junge Frank hatten genug zu tun, sich der alten Schlange zu erwehren, die das Meer aufpeitschte und aufwühlte und mit ihrem Kopf so rasend hin und her fuhr, daß sie jeden Augenblick gewärtig sein mußten, von ihm getroffen und zerschmettert zu werden. Glücklicherweise war sie ja blind, und so gelang es den beiden Helden, ihr auszuweichen und ihr Kopf und Hals unaufhörlich mit kräftigen Stichen zu durchbohren.

Raimund und Holm waren dem Baron zu Hilfe geeilt und stachen auf die jungen und doch so riesigen Seeschlangen so heftig ein, daß diese ihre Absichten auf Münkhuysen aufgeben mußten, um sich der eigenen Haut zu wehren. Dies benutzten die Kameraden am Strande, um den völlig erschöpften und dem Ertrinken nahen Münkhuysen mit ihren Haken ans Ufer zu ziehen. Eva schwang einen Alpenstock, von dem man hätte meinen sollen, sie könne ihn kaum emporheben, und beteiligte sich tapfer am Rettungswerk. Die Aufforderung, sich in Sicherheit zu bringen, hatte sie mit Verachtung zurückgewiesen.

Ehe Münkhuysen geborgen war, tauchte eine dritte junge Schlange auf und wollte nach ihm schnappen. Dies wäre ihr sicher gelungen, und der Verunglückte wäre noch im letzten Augenblick verloren gewesen, wenn nicht Evas Geistesgegenwart, Behendigkeit und Furchtlosigkeit sein Leben gerettet hätte. Das junge Mädchen stieß ihre Lanze in den offenen Rachen. Der wohlgezielte Stoß drang so tief ins Fleisch, daß Eva die Waffe infolge des Widerhakens nicht mehr frei bekam, vielmehr riß die Seeschlange, zurückschießend, das kleine Fräulein, das den Schaft nicht losließ, ins Wasser.

Mäusle und Ernst Frank hatten nach heftigem Kampf die alte Seeschlange erledigt. Münchhausen und Neeltje hatten sie vom Ufer aus wacker unterstützt, jeden Augenblick benutzend, da sie Gelegenheit hatten, ihr eine Kugel in den Kopf zu senden, ohne Gefahr, die Kämpfer im Wasser zu treffen. Das Ungeheuer sank schließlich, vom Blutverlust erschöpft, ins Wasser zurück, und der Schwabe gab ihm den Rest, während Ernst sich nach neuer Arbeit umsah.

Da bemerkte er Evas Unfall und eilte ihr zu Hilfe. Das mutige Mädchen hielt immer noch ihren Alpenstock fest und wollte ihn nicht preisgeben. Die junge Seeschlange war mit dem festsitzenden Haken im Rachen wehrlos und strengte sich umsonst an, loszukommen. Als nun aber Ernst von seiner Stelzenhöhe aus ihren Kopf mit Stichen bearbeitete, machte sie einen neuen verzweifelten Versuch, der sie endlich befreite, wenn auch mit einer klaffenden Wunde im Schlund. Das Reptil zog es nun vor, im Wasser zu verschwinden, statt sich auf weitere Kämpfe mit diesen unbekannten Insekten einzulassen, die mit so scharfen Stacheln bewehrt waren und sie in solch empfindlicher Weise zu benutzen verstanden.

Eva schwamm nun mit ihrer Stange ans Ufer zurück, das sie triefend erkletterte.

Inzwischen tobte der Kampf auf dem Meere weiter, denn Raimund und Holm konnten sich nur mit Mühe der Bisse erwehren, mit denen sie beständig durch die beiden Reptile bedroht wurden, mit denen sie im Handgemenge standen, wenn man so sagen darf.

Mäusle und Ernst, die nunmehr freie Hand hatten, wollten ihnen beispringen, als plötzlich ein gewaltiger Flügelschlag daherrauschte. Das Geschöpf, das jetzt durch die Lüfte nahte, war wohl geeignet, neues Entsetzen hervorzurufen. Einen Vogel konnte man es nicht nennen: es war ein geflügeltes Reptil mit Schwingen von mehr als vier Metern Länge. Während Raimund und Holm zurückwichen, schoß das Ungetüm herab, schlug die mächtigen Krallen in den Hals der einen Schlange und flog mit ihr in den Fängen auf die andere zu, der es den Kopf abbiß.

»Das ist jetzt der richtige Drache, wie ihn uns die sogenannten Sagen schildern, der fliegende Lindwurm!« sagte Münchhausen zu Neeltje, die schaudernd dem neuen Kampfe zusah: »Ich möchte ihm nicht in die Klauen geraten oder gar zwischen die mörderischen Zähne!«

»Jetzt erst bewundere ich die Ritter, die sich in den Kampf mit einem Drachen wagten,« erwiderte Frau Mäusle.

»Nun,« meinte der Kapitän: »Solche tapfere Ritter haben Sie ja vor Augen, und Ihr Gatte ist noch der mutigste und erfolgreichste von allen.«

»Daß er ein Held ist, weiß ich, seit ich ihn kenne,« entgegnete Neeltje: »Sie hätten, wie ich, miterleben sollen, was er in Afrika geleistet hat, so daß sein Name bei Negern und Weißen in unsterblichem Ruhme erstrahlt. Ich sehe aber nun, daß es der todesmutigen Ritter noch mehr gibt, wenn auch keiner meinem Michael gleichkommen dürfte.«

»Es gibt auch noch eine andere Art von Helden, Maulhelden und Spötter,« sagte der Dicke, nach dem Doktor zurückblickend, der als einziger sich der Gefahr nicht ausgesetzt hatte und in sicherer Entfernung stand.

Jetzt erspähte Maibold den günstigen Augenblick: er sah, daß die Brücke zurzeit von keiner Seite her bedroht war, und rannte mit außerordentlicher Behendigkeit herbei, um über die gefährliche Strecke zu gelangen, solange kein Saurier und keine Seeschlange in der Nähe war.

Aber der Mann hatte Pech! Das geflügelte Reptil, das sich an den Seeschlangen gesättigt hatte, erspähte den flüchtigen Hasen, flog auf ihn zu und erfaßte ihn mit den fürchterlichen Klauen.

Mäusle war jedoch der Brücke nahe. Zwar konnte er den Drachen nicht erreichen, der sich anschickte, mit seiner Beute aufzufliegen, wohl um sie seinen Jungen als Abendbrot vorzusetzen, doch warf er seinen Alpenstock gleich einem Wurfspeer so wuchtig und glücklich, daß dieser den einen Flügel durchbohrte und schwer daran hängen blieb. Trotzdem vermochte das gewaltige Reptil sich in die Luft zu erheben, wenn auch nur mühsam.

Ernst war herbeigeeilt und der Schwabe entriß ihm schnell seinen Stock. Im nächsten Augenblick haftete auch diese zweite Lanze im Flügel. Jetzt ließ der Lindwurm den Doktor fahren, da er diese Last nicht mehr emporzutragen vermochte, und flatterte zum drittenmal auf, da der zweite Lanzenwurf ihn wieder hatte zurücksinken lassen.

»Holla! Er will uns unsere kostbaren Alpenstöcke entführen!« rief Mäusle: »Wurfspieße her!«

Holm und Raimund, die nun ebenfalls herbeigekommen waren, reichten ihm bereitwilligst ihre Stöcke, da sie sich bewußt waren, sie nicht so sicher handhaben zu können, wie der Schwabe.

Bild: Karl Mühlmeister

Der Drache dachte aber nicht an Flucht, sondern offenbar an blutige Rache.

Trotz der beiden zwanzig Meter langen Stangen im linken Flügel flog er heran. Doch ein drittes Wurfgeschoß lähmte seinen Fittich, so daß er auf den Wasserspiegel sank, wo ihm der vierte Speer den Hals durchbohrte. Tot war er noch nicht, allein jetzt schossen Neeltje und Münchhausen auf ihn und durchlöcherten mehrfach seinen Kopf, bis sein rasendes Umsichschlagen nachließ.

»Ist der Kerl wohl tot?« fragte Mäusle und nahte sich dem Unhold.

»Bleiben Sie, bleiben Sie, tollkühner Mensch!« rief ihm Raimund warnend und besorgt zu, denn der Lindwurm erhob den rechten Flügel.

»Ach was!« erwiderte der Schwabe kühl: »Mit einem Flügel kann er nicht fliegen und unsere Alpenstöcke müssen wir ihm wieder abnehmen. Heda, Fräulein Eva, Sie Wassermaus, reichen sie mir den Ihrigen.«

Eva, die allerdings einer triefenden Maus nicht unähnlich sah, streckte ihm ihren Stab hin und Mäusle zog mit dem Haken das immer noch zappelnde Getier ans Ufer. Dort stieg er von den Stelzen herab und riß die Lanzen aus dem endlich regungslosen Körper.

Der Baron hatte sich wieder erholt, und nun begaben sich alle über die Baumbrücke ans andere Ufer, solange die durch das Erscheinen der Seeschlangen verscheuchten Saurier noch ferne blieben.

Drüben stand Maibold bei den Wagen. Er war wieder ganz munter, da er jede augenblickliche Gefahr beseitigt sah und sich inzwischen auch gründlich gestärkt hatte mit Speise und einer Flasche Wein. Eigentlich hätte er sich bei Mäusle bedanken sollen, dessen mutiges Eingreifen ihn zweimal aus dringendster Lebensgefahr errettet hatte, mit Einsetzung des eigenen Lebens; doch dachte er nicht mehr daran, das heißt, an die überstandene Gefahr dachte er wohl zeitlebens, nur das vergaß er, daß er dem Schwaben sein Leben verdankte.

»Sie können Gott danken, daß Sie mit einigen Schrammen davongekommen sind,« sagte Mäusle: »Oder haben die Drachenklauen Sie ernstlich verwundet?«

»Nicht der Rede wert! Ich habe die kleinen Löcher schon verpflastert und verbunden.«

»Also danken Sie Gott, sage ich noch einmal, denn die Sache hätte schlimm für Sie ablaufen können, da Sie an keine Gegenwehr dachten.«

In seiner alten Art wollte der Doktor durch spöttische Überlegenheit imponieren, nachdem er sich so kläglich benommen hatte: »Gott danken?« sagte er: »Die moderne Wissenschaft hat erwiesen, daß es einen Gott nicht gibt und alles sich allmählich aus dem ewigen Stoff nach ewigen Naturgesetzen entwickelt hat. Wer aus der Höhe des Fortschritts und der Ergebnisse der neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse steht, kurzum, wer gebildet sein will, glaubt an keinen Gott, noch an biblische Ammenmärchen mehr.«

»Meinetwegen glauben Sie an ewige Naturgesetze, die sich selbst erfunden und aufgestellt haben, und an einen ewigen Stoff, der sich von selber ohne Verstand und Leben zum geordneten Weltsystem entwickelte. Wenn Sie jedoch meinen, dieser kindliche Glaube sei das Ergebnis neuester wissenschaftlicher Forschungen, so haben Sie dies Ihren mangelhaften Kenntnissen zuzuschreiben. Lesen Sie doch einmal den vierzehnten Psalm, so werden Sie finden, daß Ihr Glaubensbekenntnis schon mehrere Tausend Jahre alt ist, also keinesfalls als Fortschritt gerühmt werden kann, denn schon dort heißt es: »Die Toren sprechen in ihrem Herzen, es ist kein Gott!« übrigens ist meine persönliche Überzeugung die, daß es wohl keinen Menschen auf Erden gibt, der wirklich so einfältig ist, zu glauben, die ganze Welt sei von selbst entstanden, während er jeden auslachen würde, der behaupten wollte, ein elender Stuhl oder ein erbärmlicher Tisch sei das Ergebnis einer ursachlosen Entwicklung. Wer behauptet, er glaube an keinen Schöpfer, tut dies nur, weil er an keinen Gott glauben will, weil ein solcher Glaube ihm unbequem wäre. Im tiefsten Innern ist er, meiner Überzeugung nach, seiner Sache durchaus nicht gewiß. Und eben deshalb nennt die Schrift solche Gottesleugner »Toren«. Sie gleichen dem Vogel Strauß, der seinen Kopf in den Sand steckt, denn sie leben im Wahn, durch ihr Leugnen den ihnen so unbequemen Gott und das ewige Gericht aus der Welt schaffen zu können. Was kann sie das helfen? Gott ist doch da, und wird auch sie zur Rechenschaft ziehen. Ihre Torheit ist nur ihr eigener Schade und ihr Verderben. Darum dauern mich diese Ärmsten im tiefsten Herzen, die sich so schwer selbst betrügen. Aber eines dürfen Sie sich sagen, wenn ich an keinen Gott glaubte, so würde ich mein kostbares Leben ängstlicher in acht nehmen, wie Paulus sagt: dann wäre die beste Weisheit »lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!« Keinesfalls wäre ich dann so unvernünftig gewesen, mich um Ihre Lebensgefahr zu kümmern. Wenn Sie also zu gebildet sind, um Gott zu danken, der Ihr Leben schützte, so danken Sie der toten Natur, an die Sie glauben, daß es noch Menschen gibt, die am Gottesglauben festhalten.«

Der Schwabe hatte dies in ehrlicher Entrüstung gesprochen, weil er am allerwenigsten leiden konnte, wenn sich einer mit seinem Unglauben brüstete, als sei der Blödsinn eine höhere Stufe der Weisheit.

Bei den letzten Worten war Eva herangetreten, die sich im ersten aufgeschlagenen Zelte umgezogen hatte, um aus den nassen Kleidern zu kommen. Sie wandte sich nun auch an den etwas kleinlaut gewordenen Doktor, indem sie sprach: »Darf ich mir gestatten, Sie daran zu erinnern, daß ich Ihnen ein Zusammentreffen mit der Seeschlange vorhersagte. Sie glaubten jedoch nur an ein Gemenge von Seetang? Wie konnten Sie doch heute vor einem Gewirr von Algen sich fürchten, während die anderen es furchtlos bekämpften? Glauben Sie nicht, Herr Doktor, ich wolle mir herausnehmen, Sie zu tadeln, es würde mich bloß interessieren, Ihre Gründe zu hören.«

»Die Sache ist einfach,« erwiderte Maibold unwirsch: »Ich habe die Seeschlange gesehen und nach den Beschreibungen erkannt. Ich glaube daher als vernünftiger Mensch an die Seeschlange …«

»An die Sie bisher als vernünftiger Mensch nicht glaubten,« fiel Schulze ein, der auch herbeigekommen war, nachdem er während des aufregenden Kampfes treulich und eifrig mit seiner nie fehlenden Büchse unzähligemal vorbeigetroffen hatte.

»Jawohl!« sagte Maibold ärgerlich: »Aber an das Einhorn und andere Fabeltiere glaube ich als vernünftiger Mensch nun und nimmermehr!«

Das Ufer war auf dieser Seite nur im Osten mit Wald bestanden, westlich dagegen zeigte sich eine weite, sanftansteigende Ebene, und hier, in sicherer Entfernung vom Strande und vom Wald wurden die Zelte aufgeschlagen und mit einem Schutzwall umgeben. Die heutigen Anstrengungen und Aufregungen machten eine frühe Rast notwendig, und nach einem kräftigen Imbiß begab man sich bald zur Ruhe.

Am anderen Morgen ging es weiter, über einen Hügelrücken weg und dann wieder auf lieblichen, mäßig ansteigenden Wiesen auswärts. Nur einzelne Baumgruppen unterbrachen die Prärie. Aber was für eine herrliche Gegend war das! Alle erklärten, noch nie in ihrem Leben einen Anblick genossen zu haben, der sich irgendwie an Reizen und Wundern mit dieser Landschaft hätte vergleichen lassen. Hier, wo die Pflanzen sich seit Vorzeiten unter günstigen Bedingungen ungestört entwickelten, erreichten sie einen geradezu fabelhaften Umfang, und ihre Blüten strahlten in märchenhafter Farbenpracht. Die Stengel der Gräser und Blumen glichen jungen Baumstämmen und die Blumen selber hatten meist so ungeheuer große Kelche, daß sich ein Mann bequem darin verbergen konnte. Unbeschreiblich lieblich und beinahe betäubend war der Duft, der diesen Gefilden entströmte.

Eine milde Wärme umspielte unsere Freunde, die schon lange ihre Pelze abgelegt und an die Stelzen gebunden hatten; ein frischer, salziger Wind wehte kühlend vom Meere her, kurz, es war ein wahres Paradies, das sie durchwanderten. An Vierfüßlern sah man hier nur Schafe, Antilopen und ähnliche harmlose Geschöpfe, allerdings sämtlich von unerhörter Größe; mächtige Vögel mit glänzendem Gefieder und strahlenden Farben erfreuten das Auge sowohl, wie auch das Ohr, so daß sogar der wenig musikalische Professor Raimund äußerte: »Im Vergleich mit diesen paradiesischen Tönen, erscheint selbst Nachtigallenschlag wie das eintönige Gezwitscher der Sperlinge!«

Am meisten entzückten jedoch die Riesenschmetterlinge, die nicht in beständig flatterndem Flügelschlag sich fortbewegten, wie ihre kleinen Artgenossen im Norden, sondern gleich Vögeln schwebend die Luft durchschnitten, nur von Zeit zu Zeit sich flatternd in der Höhe haltend oder höher steigend. Ihre Flügel erreichten bis zu drei Meter Spannweite und wiesen eine Farbenpracht und Feinheit der Zeichnung auf, die wirklich traumhaft erschienen. Und wie anmutig wiegten sie sich auf den bunten Blumenkelchen, deren Größe der ihrigen so harmonisch entsprach, daß der Eindruck des Ungeheuerlichen den Genuß des Auges nicht zu beeinträchtigen vermochte!

Wie wohl tat der Friede dieser Märchengefilde nach den kaum überstandenen Schrecken des Urweltmeers!


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