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15.
Das Antarktische Eis

Ernst Frank wandte sich nun wieder an den Baron mit den Worten: »Sie würden also wohl zunächst im Weddellmeer oder im Roßmeer vordringen?«

»Gewiß! und zwar beabsichtige ich zuvörderst eine Landung bei König-Eduard VII.-Land, und gedenke von da aus einen Vorstoß nach dem Südpol zu unternehmen.«

»Und es bietet keine Schwierigkeiten, die Küste zu erreichen und dort zu landen?«

»Die Bankise ist freilich ein Hindernis, aber kein unüberwindliches. Da jedoch des Küsteneises wegen ein Schiff nicht leicht bis zur Küste gelangen kann, ist eine Überwinterung notwendig, wenn die Küste untersucht werden soll. Das Schiff muß in einer Bucht einfrieren, dann kann man gefahrlos den Eisboden betreten, die Bankise ersteigen und ins Innere vordringen. Hinter der Eismauer scheint sich die eisbedeckte Küste meist eben auszudehnen oder doch nur langsam anzusteigen; dann aber wird ein weiteres Vordringen durch ungeheure Gebirgszüge erschwert; stellenweise befinden sich auch hohe Berge ganz in der Nähe der Küste.

»Soviel wurde bis jetzt beobachtet; eine Überwinterung in jenen Breiten hat aber bis auf die letzten Expeditionen noch nie stattgefunden. Roß, der größte aller Südpolarforscher, hätte eine solche gewagt, fand aber keinen geeigneten Hafen, da er mit seinen Segelschiffen nicht weit genug ins Küsteneis vordringen konnte. Mit unseren jetzigen Dampfern und Eisbrechern jedoch ist es eine Kleinigkeit, sich der Küste zu nähern. Eine wahre Schmach ist es, daß die ›Belgica‹ diese Leistung nicht vollbracht hat; freilich griff sie die antarktischen Länder auch von der ungünstigsten Seite an und trieb über ein Jahr in einer Eisscholle eingefroren langsam dahin.

»Die Eisverhältnisse sind übrigens in den antarktischen Meeren sehr verschieden; meistens aber kann man sich der Küste in eisfreiem Meer bedeutend nähern, wenn man das brüchige Packeis, das im Polarsommer nordwärts treibt, durchschifft hat.«

»Gestatten Sie,« unterbrach hier unser junger Freund den Baron: »Was versteht man eigentlich unter ›Packeis‹, von dem so viel die Rede ist?«

»O Sie Neuling!« rief Raimund lachend: »Das Eis, das sich von der Küste löst, treibt gegen Norden in großen und kleineren Schollen, oft durchsetzt mit tafelförmigen Eisbergen, die von den Gletscherrändern, welche die Bankise bilden, abbröckelten. Während im Norden die Eisberge aus Meereis bestehen und die phantastischsten gezackten Formen aufweisen, sind die südlichen Eisberge abgerissene Stücke des terrassenförmig ins Meer vordringenden Landeises oder Gletschereises. Sie gleichen daher ungeheuren Würfeln, quadratisch oder länglich geformt, mit senkrechten Wänden und flacher Oberfläche: es sind Tafelberge. Wenn so ein Gletscher seine Eismassen ins Meer vorschiebt und dort bröckeln sie ab, so sagt man: ›Der Gletscher kalbt‹. Nun, diese treibenden Massen von Landeis und Meereis nebst Eisbergen nennt man, solange sie dicht gepackt sind, ›Packeis‹; sind sie in kleinere Schollen aufgelöst, die der Schiffahrt kein wesentliches Hindernis bieten, so heißen sie einfach ›Treibeis‹. Die Eisberge der Antarktis messen oft mehrere Quadratkilometer: es sind gefährliche Riesen.

»Das Packeis weist gewöhnlich zwischen seinen Schollen Kanäle auf: da muß sich der Polarfahrer hineinwagen. Gelingt es ihm, die Eismassen zu durchqueren, so findet er dahinter meist offenes Meer bis zur Küste. Freilich ist die Fahrt durch das Packeis nicht ohne ernste Gefahren. Mancher Kanal erweist sich als Sackgasse oder er schließt sich vor dem Schiffe, sei es, daß die Schollen dicht aneinander gedrängt werden, sei es, daß bei eintretender verschärfter Kälte die Zwischenräume zufrieren. Dann kann es vorkommen, daß die Rückkehr durch die gleichen Umstände unmöglich gemacht wird, und das Schiff bleibt festgefroren in dem Eisfeld, wobei es durch schraubendes Eis zusammen gedrückt und vernichtet werden kann.

»Immerhin kann ein gutes Polarschiff in solcher Bedrängnis oft noch das Eis brechen. Ein Wagnis bleibt es immerhin, und Kühnheit und Unternehmungslust gehören dazu. Wer jedoch diese Eigenschaften nicht besitzt, und sich vor dem Eis fürchtet, wie Dumont d'Urville, der soll sich eben den Eismeeren fern halten.«

Jetzt nahm Münkhuysen wieder das Wort und erklärte: »Fast jeder, der es bisher wagte, in das Packeis einzudringen, sah sich belohnt, indem er bald in eisfreie Gewässer gelangte. Wer Glück hat und den nötigen Mut besitzt, kann sich im Polarsommer fast überall der antarktischen Küste nähern.

»Die Eisverhältnisse in den Südpolargegenden sind nämlich durchaus nicht immer dieselben, sondern wechseln vielmehr außerordentlich. Hiefür will ich Ihnen einige Beispiele mitteilen: am 14. Februar 1823 drang Weddell unter 68½° S. und 32½° W. durch zahllose Eisberge hindurch; am 18. Februar war in einer Breite von 72° 38' S. kein Stück Eis mehr zu sehen; die Sonne schien hell vom wolkenlosen Himmel und das Meer war buchstäblich bedeckt mit Vögeln, hauptsächlich Sturmschwalben. Dieser Zustand dauerte fort, und am 20. Februar waren unter 34° 17' W. und 74° 15' S. nur vier kleine Eisberge sichtbar. Leider mußte Weddell die Rückfahrt antreten ohne weiter vorzudringen, da der Zustand seiner Schiffe, seiner Mannschaft und seines Proviants ihn zur Umkehr nötigten. Erst über dem Polarkreis traf er wieder auf Eisberge. Im Oktober desselben Jahres fand Weddell zu seinem größten Erstaunen die sonst um diese Zeit leicht zugänglichen Süd-Shetlandsinseln von einem derart breiten Packeisgürtel umgeben, daß eine Landung unmöglich war.

»Dumont d'Urville und Roß (Februar 1838 und März 1842) konnten wegen des schweren Packeises Weddells Kurs nicht verfolgen.

»Wiederum trafen im November und Dezember 1892 Larsen auf dem ›Jason‹ und Evensen auf der ›Hertha‹ auffallend eisfreies Meer östlich von König-Oskar-Land bis 68° S. und westlich von Grahamland und Alexanderland bis 69° S.

»Am 24. Januar 1902 versuchte Nordenskjöld in das Packeis des Weddellmeeres einzudringen, dessen Kante er in der Nähe des 63. Breitegrads erreichte. Er drang bis 63° 30' vor, mußte aber am 2. Februar wieder umkehren, ohne es durchquert zu haben; dies war unter 45° 7' westlicher Länge. Zu gleicher Zeit lag unter dem 54. und 60. Grad westlicher Länge die Packeisgrenze weit südlicher, nämlich beim 66. Breitegrad. Die Snow-Insel, auf der Nordenskjöld seine Winterstation errichtete, befand sich damals in eisfreiem Meer.

»Am 16. September 1902, also noch im Polarwinter, war der, wärmste Tag des ganzen Jahres mit 2° über Null, und nach Norden und Süden zu war von Snow-Hill aus nur offenes Wasser zu sehen. Im folgenden Sommer jedoch wurde zwar an einzelnen Tagen eisfreies Meer gesichtet und ein solcher offener Meeresarm hinderte zum Beispiel Gunnar Andersson, von der Hoffnungsbucht aus auf Schneeschuhen die Winterstation zu erreichen. Anderseits hemmten gleichzeitig solche Packeismassen die nördliche Durchfahrt, daß es der ›Antarctic‹ nicht gelang, sie zu durchbrechen, um die Mitglieder der Winterstation zur Heimfahrt abzuholen. Der Durchbruchversuch endete mit dem Untergang des Schiffes im Schraubeis, und Nordenskjöld mit seinen Gefährten mußte unvorbereiteter Weise einen zweiten Winter im Eise zubringen.

»Im folgenden Jahre wiederum war das Weddellmeer derart eisfrei, daß die argentinische Hilfsexpedition ohne Schwierigkeit schon am 8. November, also vor Beginn des eigentlichen Sommers, bis zur Snow-Hill-Insel vordrang. Ein Vorstoß weiter nach Süden wäre damals sehr aussichtsvoll gewesen.

»Im Februar 1903 traf die schottische Expedition unter Bruce mit der ›Scotia‹ schon bei 61° südlicher Breite auf undurchdringliches Packeis und konnte erst 20 Längengrade weiter östlich nach Süden vordringen, mußte aber dort umkehren, wo Roß 1843 ebenfalls an der Weiterfahrt gehindert worden war. Am 7. März 1904 hingegen konnte Bruce beinahe Weddells Höhe erreichen, doch zwang ihn das Einbrechen des Winters zur Umkehr, da er zu einer Überwinterung nicht eingerichtet war.

»Soviel von den wechselnden Eisverhältnissen im Weddellmeer. Anderwärts in der Antarktis ist es nicht anders. Hören Sie noch einige Beispiele:

»Genau an der Stelle, wo Bellingshausen Ende Dezember 1820 durch schweres Packeis zur Umkehr genötigt wurde, drang Balleny am 28. Januar 1839 ohne wesentliches Hindernis bis 65° 30' S. durch, unter 178° 13' O. Am 1. Februar traf er unter 69° S. und 172° 11' O. auf die Packeiskante.

»Ziemlich an der gleichen Stelle drang Roß im Januar 1840 bedeutend weiter vor. Unter 171° 50' O. überschritt er den Polarkreis und traf bald darauf auf Packeis, das er vom 4. bis 9. Januar durchbrach, um sich unter 69° 15' S. und 176° 15' O. im offenen Meer zu befinden. Bei 70° 23' S. und 174° 50' O. konnte am 10. Januar selbst vom Mast aus kein Stück Eis mehr gesehen werden. Roß drang hier an der Küste des Viktorialandes bis 77° S. vor und wurde erst in der Nähe der Mac-Murdo-Bai durch das Eis aufgehalten.

»Borchgrevingk traf am 7. Dezember 1894 schon bei 62° 45' S. unter 171° 30' O. auf Packeis und erreichte das offene Meer am 14. Januar 1895 unter 69° 55' S. und 177° 50' O. Er gelangte bis 74° S. und der Weiterfahrt stellten sich keine Hindernisse entgegen; da aber das Schiff, auf dem sich der junge Gelehrte als einfacher Matrose verdingt hatte, nur auf den Walfischfang ausgegangen war und kein Walfisch sich zeigte, kehrte der Kapitän um.

»Wenn uns all diese Erfahrungen lehren, daß die Ausdehnung und die Lage des Packeises von Sommer zu Sommer wechselt – Sie wissen, daß der Südpolarsommer in unsere Wintermonate fällt – so zeigen sie auf der anderen Seite, daß, einmal das Packeis durchbrochen, eine große Annäherung an die Küste möglich ist.

»Die so auffallend wechselnden Packeisverhältnisse erklären sich übrigens sehr einfach. Das Packeis ist nämlich nur in dichten Massen auftretendes Treibeis. Die Gletscherwand der Küste schiebt ihre Eismengen im Winter beständig ins Meer vor, bis sie losbrechen. Man nennt dies das ›Kalben‹ der Gletscher, die sozusagen junge, abbröckelnde Gletscher erzeugen. Mit ihnen zerbröckelt das Meereis am Strande, und diese brüchigen Eisgefilde treiben nordwärts, bis sie mehr oder weniger zergehen. Je nach den winterlichen Witterungsverhältnissen sind diese treibenden Rieseninseln aus Eis ausgedehnter oder kleiner. Einmal ziehen sie rascher dahin, ein andermal langsamer, eisfreies Meer bis zur Küste hinter sich zurücklassend. Auch ihre Zerbröckelung ist mehr oder minder stark, so daß sie von mehr oder weniger zahlreichen, breiteren und schmäleren Kanälen durchfurcht sind, Rissen, die zum Teil die ganze Packeisfläche durchspalten, zum Teil nur kürzere oder längere Einschnitte in dieselbe darstellen.

»Übrigens sind auch die Witterungsverhältnisse in jenen Breiten sehr verschieden; während Roß in drei Reisen 1839 bis 1842 innerhalb 60° S. meist dichte Bewölkung und Nebel vorfand und nur einmal fast wolkenlosen Himmel hatte, genossen andere Forscher häufig sehr klares Wetter.

»Für mich kommen nur drei Punkte in Betracht, wo ich mit meinen Forschungen einsetzen könnte: erstens das Weddellmeer, das sich möglicherweise noch mehr dem Pole nähert als das Roßmeer; aber die Küstenverhältnisse dort sind noch unbekannt; zweitens die Mac-Murdo-Bai bei Viktorialand; aber da ist mir die englische Expedition zuvorgekommen; drittens die Stelle unter 167° W., wo Roß über die nur fünfzehn Meter hohe Bankise wegsehen konnte und der südlichste Punkt erreicht wurde; hier ist es, wo ich einsetzen will. Übrigens liegt jetzt, wie die Engländer überraschenderweise entdeckten, die Bankise fünfundvierzig Kilometer südlicher als zu Roß' Zeiten; sie ist also in diesen sechzig Jahren jährlich um sieben- bis achthundert Meter zurückgewichen und hat auch ihre Höhe geändert. Ich nehme an, die Eismauer ist dort keine zwanzig Meter hoch; für alle Fälle jedoch halte ich mich darauf gerüstet, auch eine Mauer von sechzig Metern zu ersteigen. Dort würde ich überwintern und dann den Versuch machen, den Südpol von da aus zu erreichen.«

»Und Ihnen wird es gelingen!« rief Ernst überzeugt aus; »und nichts wird Sie hindern, auch den weiteren Verlauf der Küsten festzustellen.«

»Nein!« erwiderte Münkhuysen ernst. »Ich setze mir kein anderes Ziel, als den Südpol zu entdecken; andere mögen nach mir kommen und weitere Lorbeeren ernten, selbst die Entdeckung des magnetischen Poles überlasse ich einem anderen; auf eine einzige große Aufgabe will ich mich beschränken; wollte ich gleich alle wichtigeren Fragen lösen, die der antarktische Kontinent uns noch bietet, so käme ich mir vor wie ein Kind, das seinen Geschwistern den ganzen Kuchen wegißt, so daß diese betrübten Blickes das Nachsehen haben. Auf Philipp muß noch ein Alexander folgen können,« fügte er bescheiden hinzu.

»Der Alexander sind jedenfalls Sie!« sagte Ernst lachend. »Lassen wir Roß den Philipp sein; nach Ihnen kommen nur noch Epigonen.«

Münkhuysen fing nun auch an zu lachen, indem er sagte: »Wir tun ganz, als ob wir das Ziel schon erreicht hätten, und verkaufen bereits das Fell des großen Eisbären, ehe wir ihn erlegt haben. Geduld! Wir sind doch nichts als Eintagsfliegen, die der nächsten Zukunft nicht gewiß sind.«

»Aber Pläne dürfen und müssen wir schmieden,« entgegnete unser junger Freund, »und Sie haben zweifellos noch weitere Pläne, die nach der gegenwärtigen Expedition zur Ausführung kommen sollen.«

»In der Tat, ich möchte dann auch noch den Nordpol entdecken; und zwar gedenke ich die Fahrt dorthin im Luftschiff zu unternehmen!«

»Also glückauf! Ich hoffe, Sie auch dorthin zu begleiten.«


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