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4.
Das Paläoskop

Am meisten beschäftigten sich Ernsts Gedanken mit dem merkwürdigen Versprechen seines Gastherrn, ihm Joseph in Ägypten leibhaftig zu zeigen. Noch am Abend versicherte ihn der Baron, er solle zu sehen bekommen, was sich vor Tausenden von Jahren auf der Erde begeben habe.

Der Jüngling sprach die Vermutung aus, Münkhuysen befinde sich vielleicht im Besitz von Wiedergaben uralter, neuentdeckter Steinreliefs, auf denen sich Darstellungen zeigten, die solche Vorkommnisse zum Vorwurf hätten und mit Bestimmtheit zu deuten seien, etwa durch beigefügte Hieroglyphen. Als ihm jedoch der Baron erklärte, er werde ihm die Vorgänge selber zu Gesicht führen, so daß sich alles lebendig vor seinen Augen abspielen werde, konnte Ernst doch wieder nur noch an einen Scherz denken, wie mit den berühmten Ferngläsern, vielleicht bewegliche Lichtspiele mit altertümlich gekleideten Darstellern.

Erwog er anderseits den feierlichen Ernst der Versicherungen Münkhuysens, so konnte er sich sogar des Gedankens nicht erwehren, ob nicht vielleicht des Barons zweifellos geniale Anlagen teilweise schon die Grenzen des gesunden Verstandes überschritten hätten? Nun, das würde er ja bald beurteilen können!

Als Ernst am andern Morgen das fürstliche Schlafzimmer verließ, das ihm der Hausherr zur Verfügung gestellt hatte, begegnete ihm Professor Raimund, der Physiker, der sich anscheinend auch erst erhoben hatte, denn er sah noch ganz verschlafen aus. Als der junge Mann ihn jedoch fragte, was es wohl mit Münkhuysens Versprechen vom vorhergehenden Tage auf sich habe, da kam Leben und Feuer in den Gelehrten.

»Herr Frank,« sagte er eifrig, »Sie halten ihn natürlich für verrückt? Haben wir alle getan! Denken Sie sich, wir wären den Weisen des achtzehnten Jahrhunderts mit Berichten und Beschreibungen gekommen von Telegraphen, Telephon, Phonographen, Kinematographen; wir hätten ihnen von der Photographie, den Eisenbahnen, den Röntgenstrahlen und dergleichen vorgeplaudert, – was meinen Sie, hätten die für ein Urteil über den Zustand unseres Gehirns gefällt? Wir natürlich lächeln über den beschränkten Horizont unserer Vorfahren, und dabei zeigen wir die gleiche Beschränktheit wie jene, indem wir noch Tausende von Dingen für unmöglich erklären.

»Nachdem wir gesehen, wie viel geworden ist, das noch vor kurzer Zeit als verrückte Phantasie und reine Unmöglichkeit erklärt worden wäre, sollten wir uns hüten, noch irgend etwas für unmöglich zu halten, da wir nie wissen können, welche ganz neuen Bahnen die Entdeckungen und Erfindungen der Zukunft eröffnen können.

»Was nun Münkhuysen betrifft, so ist sein Geist unserer Zeit weit voran und er hat in der Tat Erfindungen gemacht, an die niemand glauben wird, bis sie allgemein bekannt geworden sind.«

Da sie inzwischen im Speisesaal angekommen waren, wo die anderen Herren schon um den Frühstückstisch versammelt saßen, und ihnen Münkhuysen guten Morgen wünschend, entgegenkam, konnte Ernst nicht weiter fragen.

Er sollte aber bald aus allen Zweifeln in das größte Erstaunen versetzt werden; denn gleich nach dem Morgenimbiß lud ihn sein liebenswürdiger Wirt ein, ihn zu seiner Tagessternwarte zu begleiten. Sie stiegen in den Keller des Hauses hinab und von dort auf einer Wendeltreppe in eine tiefe Grube unter freiem Himmel. Hier sah man die Sterne am hellen Tage.

Münkhuysen zog ein achteckiges Rohr aus der Tasche, ziemlich kurz und dick, und schraubte es auf ein in den Erdboden eingelassenes Gestell fest. Nun begann er durch dieses ganz unbekannte Instrument nach den Sternen zu sehen. Mittels einer kleinen Kurbel stellte er sein Fernrohr ein, das er Paläoskop nannte, weil es, wie er sagte, gestatte, Blicke in uralte, vergangene Zeiten zu tun. Nach wenigen Minuten sagte er: »Jetzt habe ich ihn!« und ersuchte Ernst, durch das Okular zu schauen.

Bild: Karl Mühlmeister

Ein unwillkürliches »Ah!« staunender Bewunderung entschlüpfte des Jünglings Lippen: er sah, wie aus der Vogelschau, mitten hinein in eine altägyptische Stadt. Die Sonne neigte sich zum Untergang und beleuchtete die mit bunten Figuren bemalten westlichen Wände der Häuser, alles in rosigen Schimmer tauchend. Überall ragten aus dem Häusermeer die zierlichen Wipfel hochaufgeschossener Palmen hervor und gaben dem Stadtbild einen besonders malerischen Reiz. Dort erhoben sich majestätische Tempelhallen, deren Dächer von Riesensäulen getragen wurden. Ihre Eingänge waren bewacht von ernsten, gewaltigen Bildnissen sitzender Menschen, deren ungeschlachte Hände auf den Knien ruhten. Hier ragten Paläste von fremdartiger, phantastischer und doch märchenschöner Bauart empor.

Die Straßen waren äußerst belebt. Sie wimmelten von Fußgängern und Wagen, die gleich lebendig gewordenen Hieroglyphen durcheinanderwogten. Die bunten Farben der Gewänder und der reich verzierten Brüstungen und Räder der Fuhrwerke verliehen dem Bilde eine Pracht, wie sie unserer Zeit völlig unbekannt ist.

Weiter schweiften Ernsts Augen zum Nilstrom, der langsam an der Stadt dahinglitt, von Handelsschiffen und zierlichen Vergnügungsgondeln belebt. Silbern glänzte das Wasser und die Rosen des Abendhimmels mischten sich darein.

Weiter oben, wo das Ufer still und einsam lag, sah er grünschillernde Krokodile ans Ufer steigen oder gähnend daliegen und das schreckliche Gebiß des ungeheuren Rachens zeigen.

Der junge Mann konnte sich an dem Bilde nicht satt sehen und Münkhuysen störte ihn lange Zeit nicht in seiner Betrachtung; dann aber sagte er: »Nun bitte ich Sie, schauen Sie nach dem Palaste in der Mitte der Stadt; er ragt bedeutend über die anderen Gebäude empor.«

»Ich sehe ihn!«

»Dann blicken Sie auf das Dach des etwas niedrigeren, palastähnlichen Hauses, das daneben steht: was sehen Sie da?«

»Ich sehe einen jungen Mann von einnehmenden Gesichtszügen; er ist sehr reich gekleidet und scheint auf einem eigentümlichen Saiteninstrumente zu musizieren. Ein alter ehrwürdiger Priester steht ihm zur Seite und zeigt ihm von Zeit zu Zeit die Handgriffe; zuweilen nickt er zufrieden, zuweilen schüttelt er den Kopf und spricht einige Worte, wobei der andere sein Spiel unterbricht, um hernach wieder fortzufahren. Offenbar gibt der Priester dem vornehmen Jüngling Musikunterricht.«

»Sie haben recht gesehen!« sagte Münkhuysen feierlich. »Der Jüngling aber heißt Joseph, Sohn Jakobs, des Sohnes Isaaks, des Sohnes Abrahams, zum Trotz aller erhabenen Mythenweisheit!«

»Wie wollen Sie das wissen?« rief Ernst aus.

»Ich habe seine Lebensgeschichte mit dem Paläoskop verfolgt, sowie die seiner Vorfahren, und fand die Berichte des Alten Testamentes bestätigt; natürlich sah ich noch ungleich mehr, als uns schriftlich überliefert wurde.«

Unser Freund befand sich in einem Sturme der Aufregung; sein Verstand drohte stille zu stehen; er konnte nicht glauben, daß er nicht träume.

Münkhuysen bemerkte das wohl und sagte daher: »Kommen Sie herauf; Sie haben für das erste Mal genug gesehen, ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.«

Er führte Ernst in den Garten, der in herrlichen Anlagen sich an seinen Palast anschloß. Sie setzten sich in eine schattige Laube, von Blumen umduftet. Der Baron ließ eine Flasche Rheinwein bringen und bot dem Jüngling eine Havanna an, sich gleichzeitig eine solche ansteckend.

»Es ist bekannt,« begann er, »daß das Licht rund dreihunderttausend Kilometer in der Sekunde zurücklegt. Nun gibt es Sterne, die so weit von unserer Erde entfernt sind, daß ihr Licht tausend und noch mehr Jahre gebraucht hat, um bis zu uns zu dringen. Nehmen Sie an, Sie besäßen ein so scharfes Fernrohr, daß es Ihnen möglich wäre, zu beobachten, was auf einem solchen Sterne vorgeht. Dann würden Sie nicht etwa sehen, was heute auf ihm geschieht, sondern was vor etwa tausend Jahren dortselbst geschehen ist. Das Licht trägt die Bilder von allem, was da ist und geschieht, unaufhörlich durch den Raum; die Strahlen werden immer schwächer, weil sie sich auf immer größere Kreise verteilen, aber völlig verschwinden können sie nie oder doch erst in der Unendlichkeit, was etwa auf das gleiche herauskommt.

»Diese Erwägungen machten mich neugierig, die Vorgänge vergangener Jahrtausende auf den entferntesten Welten zu studieren; dazu benötigte ich aber ein Teleskop, gegen welches die größten Fernrohre unserer Zeit, das Lickfernrohr und das der Nizzaer Sternwarte, Zwerge sind. Ich sagte mir, daß in der Herstellung von Teleskopen nach dem bisherigen System ein bedeutender Fortschritt nicht mehr möglich sei. Die Linsen, die gegenwärtig für solche Instrumente geschliffen werden, sind so ungeheuer groß und ihre Herstellung erfordert so viel Zeit, Mühe und ängstliche Sorgfalt, daß man sich denken kann, es möchte noch die doppelte, die vierfache, vielleicht gar die zehnfache Größe mit der Zeit erreicht werden – aber dann muß es ein Ende haben: hundertfach oder gar tausendfach so große Linsen sind einfach undenkbar.

»Ich erkannte daher, daß es nötig sei, einen ganz neuen Weg einzuschlagen, das System der Zusammensetzung der Teleskope aus Linsen aufzugeben und eine völlig neue Methode zu entdecken. Es ist mir denn auch gelungen, dieses so einfache Instrument herzustellen, durch das Sie einen Blick getan haben, und von dessen Wesen ich Ihnen nur so viel verraten will, daß es unter anderem eine Reihe im Kreise angeordneter Prismen enthält. Ich kann sagen, ich habe die Multiplikation der Vergrößerung durch ganz einfache Mittel erfunden, und wo bisher die Entfernung auf ein Fünfhunderttausendstel verringert wurde, wird sie durch mein Instrument noch viele Millionenmal geringer. Dabei läßt sich mein Instrument so einstellen, daß sowohl näher gelegene als auch weit entferntere Sterne bis auf die Entfernung von etwa hundert Metern nahe gerückt erscheinen; auch läßt das Paläoskop die schwächsten Strahlen in hellem Glanze leuchten. Sie werden begreifen, daß weder der Mars noch ein anderer Planet mehr ein Geheimnis für mich hat; nur die Fülle der Beobachtungen, die ich in der kurzen Zeit gemacht habe, seit ich das Paläoskop erfand, hat mich bisher verhindert, etwas darüber zu veröffentlichen; doch führe ich stets sorgfältig Buch über meine Entdeckungen.«

»Ich begreife nun,« sagte Ernst, »wie Sie, Herr Baron, mittels Ihrer wunderbaren Erfindung die Vorgänge auf den Sternen beobachten können, die sich in grauer Zeit abgespielt haben; aber das erklärt mir durchaus nicht, wie es auch möglich sein soll, in die Vergangenheit unserer Erde und ihrer Bewohner einen Einblick zu gewinnen.«

»Ja so,« erwiderte Münkhuysen, »das ist freilich wieder etwas anderes. Mittels meines Paläoskops entdeckte ich bald Tausende von Welten, die den Astronomen bisher unsichtbar waren, weil sie kein eigenes Licht besitzen. Auf jeden Fixstern kommt durchschnittlich mindestens ein Dutzend Planeten und Monde, die ihn als ihre Sonne umkreisen. Zum Teil sind das ausgestorbene Welten gleich unserem Monde. Solche Planeten, besonders aber ihre Trabanten, zeigen häufig große spiegelnde Flächen, seien es bewegungslose Wassermassen, seien es Meere von geschmolzenem Metall und dergleichen. Diese Flächen werfen das Bild unserer Erde deutlich zurück.

»Fasse ich nun einen solchen Spiegel ins Auge, der tausend Lichtjahre von uns entfernt ist (damit will ich sagen, daß das Licht von ihm zu uns und umgekehrt tausend Jahre zu wandern hat), so brauchen die zurückgeworfenen Lichtstrahlen wiederum tausend Jahre, um zu uns zurück zu gelangen. Das Spiegelbild der Erde wird uns also dort den Anblick bieten, den die Erde vor zweitausend Jahren bot. Will ich nun irgend ein Begebnis der Vergangenheit sehen, so muß ich ausrechnen, in welcher Entfernung von der Erde das Bild desselben am heutigen Tage sichtbar sein muß, und dann einen spiegelnden Weltkörper aufsuchen, der sich in eben dieser Entfernung befindet, das heißt in der Hälfte der Entfernung, die das Bild in ununterbrochenem Laufe zurückgelegt haben würde. Ein solcher Weltkörper ist unschwer zu finden, da dieselben in unzähligen Mengen in jeder denkbaren Entfernung den Raum erfüllen. Eine wesentliche Erleichterung gewährt der Umstand, daß mein Paläoskop sich genau auf jede Entfernung einstellen läßt, so daß ich nur im Raum einen Planeten zu suchen habe, der deutlich sichtbar erscheint, wenn mein Instrument auf die fragliche Entfernung eingestellt ist. Dennoch geht es selten ohne Suchen und Ausprobieren ab, da die Daten sehr entlegener Ereignisse meist sehr unsicher sind. Habe ich aber gefunden, was ich suche, so kann ich sofort den Zeitpunkt des betreffenden Vorgangs aufs genaueste feststellen. Ich habe mir daher auch eine Zeittafel angelegt, in der ich eine große Anzahl wichtiger Ereignisse vergangener Zeiten nach Jahr, Tag und Stunde eingetragen habe.

»Leider stoße ich öfters auf Hindernisse; es bleibt mir nämlich verborgen, was sich hinter den Mauern der Häuser, unter dem Laubdach der Bäume und an anderen verborgenen Plätzen oder bei mondscheinloser Nacht abspielte. Wenn der Himmel zur Zeit des Ereignisses, das ich zu beobachten wünsche, bewölkt war, so ist überhaupt nichts zu sehen. Selbstverständlich ist für mich auch nur die Erdhalbkugel sichtbar, die zur Zeit des Vorgangs dem spiegelnden Sterne zugekehrt war, und wenn mir infolge der Umdrehung der Erde das beobachtete Bild am Horizont des Gesichtskreises entschwindet, so muß ich eben sehen, ob ich es auf einem anderen Sterne wieder auffinde. Glücklicherweise spielte sich das Leben in der Urzeit meistens im Freien und unter einem vorwiegend klaren Himmel ab.

»Übrigens kennen wir ja schon in den Röntgenstrahlen solche Lichtwellen, die das Hindernis von Mauern und Wolken zu durchbrechen vermögen, weshalb ich hoffe, daß ein vervollkommnetes Paläoskop seinerzeit gestatten wird, auch durch Mauern und Wolken hindurchzusehen.«

»Herr Baron!« rief Ernst begeistert aus, »ich bin bekehrt und werde fortan nichts mehr für unmöglich halten.«


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