Jack London
Die Insel Berande
Jack London

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Etwas geschieht

Am nächsten Morgen stellte David Scheldon fest, daß es ihm schlechter ging. Kein Zweifel, er war merklich schwächer, und zudem machten sich weitere ungünstige Anzeichen bemerkbar. Auf Ärger wartend, begann er seinen Rundgang. Er brauchte Ärger. Wenn er gesund gewesen wäre, würde die gespannte Lage ernst genug gewesen sein, wie die Dinge aber lagen und bei seiner zunehmenden Hilflosigkeit mußte etwas geschehen. Die Schwarzen wurden immer mürrischer und herausfordernder, und das Erscheinen der Leute in der Nacht auf der Veranda – eines der schwersten Vergehen auf Berande – war von übler Vorbedeutung. Früher oder später mußten sie ihn kriegen, wenn er sie nicht zuerst kriegte, wenn er ihren schwarzen Seelen nicht wieder einmal die überlegene Herrschaft des weißen Mannes klarmachte.

Enttäuscht kehrte er nach Hause zurück. Es hatte sich keine Gelegenheit geboten, einen Fall von Frechheit oder Ungehorsam festzustellen, wie sie bisher jeden Tag vorgekommen, seit die Krankheit Berande ergriffen hatte. Diese Ruhe war an und für sich schon verdächtig. Sie wurden immer tückischer. Es tat ihm leid, daß er in der Nacht nicht gewartet hatte, bis die Leute hereingeschlichen waren. Dann hätte er einen oder zwei niederknallen können, was den andern eine neue, mit Blut geschriebene Lehre gewesen wäre. Er war einer gegen zweihundert, und er fürchtete am meisten, daß die Krankheit ihn überwältigen und ihn in ihre Gewalt bringen könnte. Im Geist sah er schon, wie die Schwarzen die Plantage überfielen, das Lager plünderten, die Häuser in Brand steckten und nach Malaita flohen. Und er sah seinen eigenen Kopf, gedörrt und geräuchert, das Kanuhaus eines Kannibalendorfes zieren. Wenn die Jessie nicht kam, mußte er etwas tun.

Die Glocke, die die Arbeiter an die Arbeit rief, hatte kaum geläutet, als Scheldon Besuch erhielt. Er hatte sich sein Ruhebett auf die Veranda stellen lassen und lag dort, als Kanus ankamen und auf den Strand geschoben wurden. Vierzig, mit Speeren, Bogen, Pfeilen und Kriegskeulen bewaffnete Männer sammelten sich vor der Pforte, aber nur einer trat ein. Sie kannten die Gesetze von Berande, wie jeder Eingeborene das Gesetz auf den Besitzungen aller Weißen in dem auf Tausende von Meilen verstreuten Salomon-Archipel kannte. In dem Manne, der den Weg heraufkam, erkannte Scheldon Seelee, den Häuptling des Dorfes Balesuna. Der Wilde stieg nicht die Stufen empor, sondern blieb unten stehen und sprach zu dem weißen Herrn oben.

Seelee war intelligenter als die meisten seines Stammes. Seine eng beieinanderstehenden, kleinen Augen zeugten von Grausamkeit und List. Eine G-Saite und ein Patronengürtel machten seine ganze Kleidung aus. Die geschnitzte Perlmutterschale, die ihm von der Nase bis zum Kinn hing und ihn am Sprechen hinderte, diente nur als Zierat, und die Löcher in seinen Ohren hatten nur den Zweck, Pfeife und Tabak zu tragen. Die Stümpfe seiner ausgebrochenen Schneidezähne waren schwarz gefärbt vom Betelsaft, den er hin und wieder ausspie.

Wenn er sprach oder zuhörte, schnitt er Grimassen wie ein Affe. Er sagte »ja«, indem er die Augenlider senkte und das Kinn vorschob. Die kindische Arroganz seiner Sprache stand in krassem Widerspruch zu der unterwürfigen Haltung, die er vor der Veranda einnahm. Er hatte viele Anhänger und war Herr und Meister des Dorfes Balesuna. Aber der Weiße, der keine Anhänger hatte, war Herr und Meister von Berande – ja, er, der Einzelne, hatte sich gelegentlich sogar zum Herrn und Meister des Dorfes Balesuna gemacht. Seelee erinnerte sich nicht gern dieses Vorfalls. Damals hatte er die Natur der Weißen kennen und verabscheuen gelernt. Er hatte sich strafbar gemacht, indem er drei Durchbrennern aus Berande Unterschlupf gewährte. Sie hatten ihm alles, was sie besaßen, für das Obdach und die für das Entkommen nach Malaita versprochene Hilfe gegeben. Das hatte ihm die Aussicht auf eine einträgliche Zukunft verschafft, in der das Dorf zu einer Station der Untergrundbahn zwischen Berande und Malaita werden konnte.

Unglücklicherweise kannte er das Wesen der Weißen nicht. Dieser merkwürdige Weiße belehrte ihn, als er bei Tagesanbruch vor seinem Grashause erschien, eines Besseren. Im ersten Augenblick hatte es ihn belustigt, er fühlte sich so vollkommen sicher inmitten seines Dorfes. Aber im nächsten Augenblick hatten ihn, ehe er schreien konnte, ein paar Handfesseln, die der Weiße in der Hand hielt, auf den Mund getroffen und das Hilfegeschrei in seiner Kehle erstickt. Gleichzeitig hatte ihn die andere Faust des Weißen hinter dem Ohr getroffen, so daß er von dem folgenden nichts mehr wußte. Als er wieder zu sich kam, lag er in dem Boot des Weißen, das nach Berande fuhr. Auf Berande war er wie ein gewöhnlicher Nigger behandelt, war in Ketten gelegt und mit Handschellen an Händen und Füßen gefesselt worden. Nachdem sein Stamm die drei Durchbrenner wiedergebracht, wurde er freigelassen. Aber dann hatte der furchtbare Weiße ihn und Balesuna noch mit einer Strafe von zehntausend Kokosnüssen belegt. Nie wieder hatte er den Malaita-Leuten Unterschlupf gewährt. Statt dessen machte er sich nun ein Geschäft daraus, sie einzufangen. Das war sicherer. Zudem bekam er eine Kiste Tabak für jeden. Sollte dieser Weiße ihm aber je eine Gelegenheit bieten – daß er ihm krank in die Hände fiele, daß er, Seelee, ihm in den Rücken käme, wenn der Weiße im Busch stolperte und fiel – nun, dann gab es einen Kopf, der in Malaita etwas wert war.

Scheldon war über das, was Seelee ihm sagte, erfreut. Der siebente von den letzten Ausreißern war gefaßt worden. Er wurde hereingeschleppt. Es war ein kräftiger Mann, dessen Arme mit Kokosfaserstricken gebunden waren; das geronnene Blut vom Kampfe mit seinen Überwältigern klebte ihm noch am Körper. »Mich savvee du gut fella, Seelee«, sagte Scheldon, während der Häuptling ein viertel Wasserglas voll starkem Genever hinuntergoß. »Fella Boy gehören mir kurze Zeit klein bißchen. Dies fella Boy stark fella zuviel. Ich geben dir fella eine Kiste Tabak – mein Wort, eine Kiste Tabak. Dann, du gut fella, ich geben dir drei Faden Kaliko, ein fella Messer groß fella zuviel.«

Der Tabak und die andern Gegenstände wurden von zwei Hausboys aus dem Lager gebracht und dem Häuptling von Balesuna ausgehändigt, der die Zusatzbelohnung mit einem verbindlichen Grunzen entgegennahm und zu seinen Kanus zurückging. Auf Scheldons Anweisung legten die Hausboys dem Gefangenen Hand- und Fußschellen an und fesselten ihn an einen der Pfosten des Hauses. Als die Arbeiter um 11 Uhr von der Plantage kamen, ließ Scheldon sie vor der Veranda zusammentreten. Alle gesunden, einschließlich derer, die im Hospital helfen mußten, waren zur Stelle. Selbst die Frauen und Kinder der Plantage waren mit den übrigen in zwei Reihen angetreten – eine Horde von kaum weniger als zweihundert nackten Wilden. Außer dem Zierat aus Perlen, Muscheln und Knochen trugen ihre durchbohrten Ohren und Nasenflügel Sicherheitsnadeln, Nägel, Haarnadeln, rostige Pfannenstiele und Büchsenöffner. Einige hatten sich Federmesser in die krausen Locken geklemmt. Auf der Brust des einen hing ein Porzellantürknauf, auf der eines andern ein Messingrad aus einer Weckuhr. Ihnen gegenüber, aufs Verandageländer gestützt, stand der Weiße. Jeder einzelne von ihnen hätte ihn mit dem kleinen Finger umwerfen können. Trotz seiner Feuerwaffen wäre es für die Horde eine Kleinigkeit gewesen, ihn über den Haufen zu rennen, und dann hätten sein Kopf und die Plantage ihnen gehört. Haß, Mordgier und Rachedurst besaßen sie im Übermaß. Aber eines fehlte ihnen, eben das, was er besaß: der Zorn des Herrschenden, der nicht zu löschen war, der immer noch in diesem von Krankheit zermürbten Körper glimmte und jederzeit bereit war, aufzulodern und sie zu vernichten.

»Narada! Billy!« rief Scheldon scharf.

Zwei Mann schoben sich unwillig vor und warteten. Scheldon gab einem Hausboy den Schlüssel zu den Handschellen, und der Gefangene wurde losgemacht. »Du fella Narada, du fella Billy, nehmen dies fella Boy und machen ihn an Beinen fest, Hände ganz hoch!« befahl Scheldon.

Während dies langsam und unter dem Murren der Zuschauer geschah, brachte einer der Hausboys eine schwere Peitsche. Scheldon hielt eine Ansprache:

»Dies fella Arunga mich machen cross auf ihn zuviel. Ich nicht bestehlen dies fella Arunga, ich nicht betrügen. Ich sagen, ›all right, du kommen zu mir Berande, arbeiten drei fella Jahre.‹ Er sagen ›all right, mich kommen zu dir drei fella Jahre.‹ Er kommen. Er kriegen viel gut fella Kai-kai, viel gut fella Geld. Was Name er laufen weg. Mich zuviel cross auf ihn. Ich zeigen was Name dies fella. Ich bezahlen Seelee, groß fella Herr in Balesuna, eine Kiste Tabak, weil fangen dies fella Arunga. Schön. Arunga bezahlen dies fella Kiste Tabak. Sechs Pfund dies fella Arunga bezahlen. Das heißen ein Jahr mehr dies fella Arunga arbeiten Berande. Schön. Jetzt er kriegen zehn fella Hiebe dreimal. Du fella Billy geben Hiebe, geben dies fella Arunga zehn fella dreimal. Alle fella Jungen zusehen, alle fella Marys zusehen; sie jemals möchten weglaufen, sie denken stark fella zuviel, nicht weglaufen. Billy, stark fella zuviel zehn fella dreimal.« Der Hausboy reichte Billy die Peitsche, aber der nahm sie nicht. Scheldon wartete ruhig. Die Augen aller Kannibalen waren in Zweifel, Furcht und Gier auf ihn gerichtet. In diesem Augenblick handelte es sich für den einsamen Weißen um Sein oder Nichtsein.

»Zehn fella dreimal, Billy«, sagte Scheldon ermunternd, aber es lag ein gewisser metallischer Klang in seiner Stimme.

Billy runzelte die Stirn, hob den Blick und senkte ihn wieder, regte sich aber nicht.

»Billy!«

Scheldons Stimme explodierte wie ein Pistolenschuß. Der Wilde erschrak sichtlich. Ein Grinsen lief über die grotesken Züge der Zuschauer, und ein leichtes Kichern war zu hören.

»Meinen, du wollen zuviel Hiebe das fella Arunga, du schicken ihn fella Tulagi?« sagte Billy. »Ein fella Regierungsagent befehlen Prügel. Das fella Gesetz. Mich savvee fella Gesetz.«

Es war Gesetz, und Scheldon wußte das. Aber er wollte heute und morgen am Leben bleiben und nicht sterben in der Erwartung, daß das Gesetz nächste oder übernächste Woche in Kraft träte.

»Zuviel sprechen du!« schrie er wütend. »Was Name, he? Was Name?«

»Mich, savvee Gesetz«, wiederholte der Wilde hartnäckig.

»Astoa!«

Ein anderer Mann sprang vor und blickte ihn unverschämt an. Scheldon suchte sich die schlimmsten Kerle für diese Lehre aus.

»Du fella Astoa, du fella Narada, binden dies fella Billy neben anderen fella auf selbe fella Art. Fest fella binden«, warnte er sie.

»Du fella Astoa nehmen das fella Peitsche. Tüchtig groß fella zuviel zehn fella dreimal. Savvee!«

»Nein«, grunzte Astoa.

Scheldon griff nach der Büchse, die er an das Geländer gelehnt hatte, und spannte sie.

»Ich kennen dich, Astoa«, sagte er ruhig. »Du arbeiten Queensland sechs Jahre.«

»Mich fella Mission«, unterbrach ihn der Schwarze mit wohlberechneter Frechheit.

»Queensland du bleiben Gefängnis ein fella Jahr. Weiß fella Herr verdammter Narr dich nicht aufhängen. Du zuviel schlimm fella. Queensland du bleiben Gefängnis sechs Monate zweimal. Zwei fella Mal du stehlen. Du Mission? Schön. Du savvee ein fella Gebet?«

»Ja, mich savvee Gebet«, lautete die Antwort.

»Schön. Dann du beten jetzt, kurze Zeit klein bißchen. Du sagen ein fella Gebet verdammt schnell, dann mich töten dich.«

Scheldon richtete die Büchse auf ihn und wartete. Der Schwarze blickte sich nach seinen Genossen um, aber keiner rührte sich, um ihm zu helfen. Sie waren gespannt, was da kommen sollte und starrten regungslos auf den Weißen, der, den Tod in der Hand, auf der großen Veranda stand. Scheldon hatte gewonnen, und das wußte er. Astoa trat unschlüssig von einem Fuß auf den andern. Er blickte den Weißen an und sah über das Visier hinweg in seine Augen.

»Astoa!« sagte Scheldon, den psychologischen Moment wahrnehmend. »Ich zählen drei fella Mal. Dann ich schießen dich fella tot, gute Nacht, alles aus.«

Und Scheldon wußte, daß er ihn auf der Stelle erschießen mußte, wenn er drei gezählt hatte. Der Schwarze wußte es ebenfalls, und das war der Grund, warum Scheldon es nicht zu tun brauchte, denn, als er eins gezählt hatte, streckte Astoa die Hand nach der Peitsche aus. Und recht kräftig handhabte er sie, aufgebracht darüber, daß seine Genossen ihn im Stich gelassen hatten. Mit jedem Hiebe machte er seiner Wut Luft. Von der Veranda aus trieb Scheldon ihn an, kräftig zu schlagen, bis die beiden gepeitschten Wilden schrieen und heulten und das Blut ihnen vom Rücken troff. Es war ein tüchtiger Denkzettel.

Als der letzte von der Bande mit den beiden heulenden Übeltätern durch die Pforte verschwunden war, sank Scheldon halb ohnmächtig auf sein Ruhebett.

»Ich bin ein kranker Mann«, murmelte er. »Ein kranker Mann.

Aber ich kann heute nacht ruhig schlafen«, fügte er eine halbe Stunde später hinzu.

 


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