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Sei ein Mann

Unter tiefgestirntem Himmel schlug es an der Börse Mitternacht. Schwermütig pfiff der Oktoberwind durch die Straßen. Vergilbte und verstaubte Blätter wirbelten durch die Luft, prallten gegen die Steine, fegten über den Asphalt und verschwanden dann wie Fledermäuse im Dunkel; sie mahnten an alle nichtigen Tage des Lebens. Immer seltener wurden Wagen und Passanten; hier und dort tauchten schon die Stocklaternen der Lumpensammler auf, wie Irrlichter, die den Kehrichthaufen entstiegen, über denen sie hin und her tanzten. Die Boulevard-Theater, in denen sich den Abend lang alle Medici, Salviati und Montefeltre um die Wette erdolcht hatten, lagen jetzt wie Höhlen des Schweigens, von ihren Karyatiden beschirmt, im Dunkeln.

An der Ecke der Rue Hauteville stand unter einer Laterne vor einem eleganten Restaurant ein großer, finster dreinschauender Mann mit glattrasiertem Gesicht, langen grauen Haaren, einem mächtigen Schlapphut, schwarzen Handschuhen, einem Stock mit Elfenbeingriff, gehüllt in einen dunkelblauen alten Radmantel, der mit zweifelhaftem Astrachan besetzt war. Er hatte auf seinem Nachtwandlerweg wie mechanisch Halt gemacht, als zögere er, die Straße zu überschreiten, die ihn vom Boulevard de Bonne Nouvelle trennte. Strebte dieser verspätete Fußgänger seiner Wohnung zu? Hatte ihn der Zufall eines Nachtspazierganges an diese Straßenecke geführt? Es war schwer, das aus seinem Aussehen zu erraten. Jedenfalls hatte er plötzlich rechts neben sich einen jener schmalen, hohen Spiegel erblickt, wie sie manchmal neben den Türen großer Restaurants angebracht sind, und war stehen geblieben, hatte sich vor seinem Spiegelbild aufgepflanzt und maß es nun vom Hut bis zu den Stiefeln keck mit den Blicken. Dann lüftete er mit einemmal seinen Filzhut, mit einer Gebärde, die seinen Beruf verriet, und grüßte sich sehr höflich.

Es war der berühmte Tragöde Chaudval, geborener Lepeinteur, genannt Montaneuil, der Sprößling einer sehr ehrbaren Lotsenfamilie von Saint Malô, den der geheime Ratschluß des Schicksals zum ersten Heldendarsteller in der Provinz, zum Lockvogel bei Gastspielreisen im Ausland und zum oft glücklichen Nebenbuhler von Frédérick-Lemaître gemacht hatte.

Während er sich so verdutzt im Spiegel betrachtete, zogen die Kellner des Restaurants den letzten Stammgästen die Überzieher an und nahmen ihnen die Hüte vom Nagel; andere stülpten geräuschvoll den Inhalt der Sammelbüchsen um und legten die Scheidemünzenernte des Tages auf einen Teller. Dann wurden die Fensterladen in ihren eisernen Rahmen verbolzt und nur der Laden des Spiegels wurde inmitten des allgemeinen Aufbruches vergessen.

Bald war der Boulevard ganz still. Nur Chaudval, der diese ganze Verwandlung nicht bemerkt hatte, stand immer noch in seiner ekstatischen Haltung vor dem Spiegel an der Ecke der Rue Hauteville. Der fahle Mondscheinglanz des Spiegels gab dem Künstler ein Gefühl, als ob er in einem Teiche bade. Chaudval schauerte zusammen. Ach! In diesem grausamen, düsteren Spiegel hatte der Schauspieler erkannt, daß er alt wurde. Er stellte fest, daß sein Haar, noch gestern von der Farbe von Salz und Pfeffer, heute weiß wie Mondschein war. Es war aus mit ihm! Ade, Beifall und Kränze, Ade, Rosen Thaliens und Lorbeer Melpomenes! Es galt, für ewig Abschied zu nehmen, mit Händedrücken und Tränen, von Naiven und Liebhaberinnen! Nun hieß es, schleunigst vom Thespiskarren herabsteigen und sehen, wie er davonfuhr und die Kameraden entführte. Sehen, wie der Goldflitter und die bunten Schleifen, die morgens, im sonnigen Winde der Hoffnung, bis auf die Räder herabflatterten, nun an einer Wegbiegung im Dunkel verschwanden.

Chaudval ward sich plötzlich bewußt, daß er fünfzig Jahre alt war. Er seufzte. Ein Nebel umflorte seine Augen, eine Art Greisenfieber ergriff ihn und weitete seine Augäpfel. Der starre, verstörte Blick, den er in das wahrsagerische Spiegelglas bohrte, gab seinen Pupillen das Vermögen, die Gegenstände zu vergrößern und sie mit Feierlichkeit zu umgeben, wie es die Physiologen an Personen, die von einer sehr heftigen Empfindung ergriffen werden, festgestellt haben.

Der lange Spiegel veränderte sich also unter seinen Blicken, die von trüben und müden Gedanken erfüllt waren. Kindheitserinnerungen, Meeresküsten und silberne Flüsse tanzten durch sein Gehirn. Und der Spiegel ward in seiner Vorstellung (vielleicht war's die Wirkung der Sterne, die seine Fläche vertieften) zum stillen Wasser eines Golfes. Dann weitete er sich noch mehr, dank den Seufzern des Greises, und ward zu Meer und Nacht, diesen zwei alten Freundinnen verlassener Herzen ...

Eine Weile berauschte er sich an dieser Vision. Aber die Laterne, die den kalten Nebel hinter ihm rötete, erschien ihm in der Tiefe des furchtbaren Spiegels plötzlich wie der blutige Schein eines Leuchtturmes, der dem verlorenen Schiff seiner Zukunft den Weg zum Schiffbruch wies.

Er schüttelte diesen Alp ab und richtete seine hohe Gestalt wieder auf, mit einem nervösen, falschen und bitteren Gelächter, das die zwei Polizisten unter den Bäumen aufschreckte. Zum Glück für den Künstler glaubten sie, es handle sich um einen Betrunkenen oder vielleicht um einen enttäuschten Liebhaber, und setzten ihren dienstlichen Gang fort, ohne den unglücklichen Chaudval zu beachten.

»Gut, verzichten wir!« sagte er einfach und leise, wie ein zum Tode Verurteilter, der plötzlich aufwacht und zum Scharfrichter sagt: »Ich stehe Ihnen zur Verfügung, mein Lieber.« Dann begann der alte Schauspieler, blöde und einfältig vor sich hinzureden: »Es war doch sehr schlau von mir, daß ich neulich Mademoiselle Pinson, meine gute Freundin (die das Ohr des Ministers besitzt und sogar sein Lager teilt), bat, ihn zwischen zwei glühenden Liebesergüssen um die Stelle als Leuchtturmwächter für mich zu bitten, die schon meine Väter an den Küsten des Atlantischen Ozeans innehatten. Und schau: jetzt verstehe ich auch die seltsame Wirkung, die die Laterne in dem Spiegel auf mich ausübte. Das war mein Hintergedanke. Die Pinson wird mir sicher mein Patent schicken. Und ich werde mich also auf meinen Leuchtturm zurückziehen wie eine Ratte in einen Käse. Ich werde den Schiffen fern auf dem Meere leuchten. Ein Leuchtturm! Das sieht immer aus wie eine Theaterdekoration. Ich bin allein auf der Welt. Das ist das Asyl, das sich für meine alten Tage ziemt.«

Plötzlich hielt Chaudval in seiner Träumerei inne. »Ha!« sagte er, sich nach der Brust tastend, »da, der Brief, den mir der Postbote gab, als ich die Tür verließ, ist sicher ihre Antwort. Ich wollte ins Restaurant gehen, um ihn zu lesen, und vergaß es. Wahrhaftig, ich komme herunter! Schön, da ist er!«

Er zog aus seiner Tasche ein großes Kuvert; als er es aufriß, fiel ein gefaltetes amtliches Schreiben heraus, das er hastig aufhob und im rötlichen Schein der Laterne durchflog.

»Mein Leuchtturm, meine Anstellung!« rief er. »Gerettet, o Gott!« setzte er wie aus alter mechanischer Gewohnheit und mit plötzlicher Fistelstimme hinzu, die so ganz anders klang als die seine, daß er sich umblickte, ob noch jemand da wäre. »Nur Ruhe!« gebot er sich dann. »Sei ein Mann!«

Aber bei diesem Wort blieb Chaudval, geborener Lepeinteur, genannt Montaneuil, plötzlich stehen, als sei er in eine Salzsäule verwandelt.

»Hm!« machte er nach einer Pause. »Was habe ich da eben verlangt? Ein Mann zu sein? Ja, warum denn nicht?« Er kreuzte die Arme und dachte. »Da stelle ich nun seit fast fünfzig Jahren die Leidenschaften der anderen dar; ich spiele sie, ohne sie zu empfinden. Denn eigentlich habe ich nie etwas empfunden. Ich bin also nur zum Scherz da, wie die anderen. Ich bin also nur ein Schatten! Leidenschaften, Gefühle! Wirkliche Taten! Wirkliche! Das ist's, was den wirklichen Mann ausmacht. Also, weil das Alter mich zwingt, in die Menschheit zurückzutreten, muß ich mir Leidenschaften verschaffen, irgendein wirkliches Gefühl ... Denn ohne das hat man keinen Anspruch auf den Mannesnamen. Das ist sonnenklar. Aber welches! Ich muß eins suchen, das zu meiner endlich erwachten Natur stimmt.« Nach einer Weile melancholischen Sinnens sprach er weiter. »Liebe? ... Zu spät. Ruhm? Den kenne ich. Ehrgeiz? Lassen wir dieses Hirngespinst den Staatsmännern!« Plötzlich stieß er einen Schrei aus: »Ich hab's: die Reue! Das paßt zu meinem Theaterblut.«

Er betrachtete sich in dem Spiegel, während er eine wie durch übermenschliches Grausen verstörte und verzerrte Miene annahm. »Das ist's!« schloß er. »Nero, Macbeth, Orest! Hamlet! Herostrat! Die Geister! ... Ja, ja, auch ich will mal wirkliche Geister sehen! Wie all diese Leute, die das Glück hatten, keinen Schritt ohne Geister zu tun.«

Er schlug sich vor die Stirn. »Aber wie? ... Ich bin so unschuldig wie ein neugeborenes Lamm.« Und wieder nach einer Pause:

»Ha, wenn's nur darauf ankommt! Wer den Zweck will, muß auch die Mittel wollen! Ich habe ein Recht, um jeden Preis das zu sein, was ich sein sollte. Ich habe ein Recht, ein Mensch zu sein! Um Reue zu empfinden, muß man Verbrechen begangen haben. Sei's darum! Was schadet's, wenn es zu einem ... guten Zweck geschieht? Ja! Ich werde gräßliche Verbrechen begehen. Wann? Auf der Stelle. Nur nichts aufschieben! Was für welche? Ein einziges! Aber ein großes! Ein schauerlich grauenhaftes. Eins, das alle Furien der Hölle entfesselt! Und welches? Das glänzendste, Donnerwetter! Bravo! Ich hab's: eine Brandstiftung! Also: ich brauche nur Brand zu stiften, meine Koffer zuzuschnallen und hinter der Fensterscheibe einer Droschke meinen Triumph inmitten der entsetzten Menge zu genießen, die Flüche der Sterbenden auf mich zu laden und dann den Nordwestzug zu besteigen. Mit lebenslänglicher Reue versorgt! Dann verkrieche ich mich in meinen Leuchtturm! Bin im Licht! Mitten im Weltmeer! Wo die Polizei mich folglich nie entdecken kann, da mein Verbrechen ja selbstlos war! Und ich werde allein darüber stöhnen.« Chaudval richtete sich empor und improvisierte einen Vers, der eines Corneille würdig war:

»Der Untat Größe schirmt mich vor Verdacht.«

»Gesagt, getan. Und nun,« sprach der große Tragöde, während er einen Pflasterstein aufhob und sich versicherte, ob auch alles umher still war, »und nun sollst du kein Bild mehr widerspiegeln.« Und er schleuderte den Stein in den Spiegel, der in tausend glitzernde Scherben zerbarst.

Als er dieser ersten Pflicht genügt hatte, eilte er, höchst befriedigt von seiner ersten Mannestat, auf den Boulevard, wo er einen Wagen heranwinkte, hineinsprang und verschwand.

Zwei Stunden später spiegelte sich der Feuerschein eines ungeheuren Brandes, der in großen Petroleum-, Öl- und Streichholzspeichern ausgebrochen war, in allen Fensterscheiben des Faubourg du Temple. Bald erschienen die Feuerlöschzüge von allen Seiten und ihre unheimlichen Hornsignale brachten die Einwohner dieses Volksviertels im Nu auf die Beine. Das Pflaster erdröhnte von unzähligen hastigen Schritten; die Menge füllte die Place du Château d'Eau und die angrenzenden Straßen. In kaum fünfzehn Minuten sperrten Truppenabteilungen die Brandstätte ab. Polizisten hielten beim blutigen Fackelschein die Andrängenden zurück.

Die Wagen, die nicht mehr weiter konnten, blieben stehen. Alles schrie. Durch das schreckliche Prasseln der Flammen drangen schrille Rufe. Die Opfer der Feuersbrunst brüllten, von dieser Hölle erfaßt, und die Dächer der Häuser stürzten über ihnen zusammen. Hunderte von Familien waren obdach- und brotlos.

Hinter der Menge, die auf der Place du Château d'Eau stand, hielt eine einzelne Droschke, mit zwei schweren Koffern bepackt. Und in dieser Droschke saß Chaudval, geborener Lepeinteur, genannt Montaneuil. Von Zeit zu Zeit lüftete er den Vorhang und betrachtete sein Werk. »O!« flüsterte er bei sich, »wie verhaßt fühle ich mich Gott und den Menschen! Ja, das ist wirklich das Werk eines Verworfenen!«

Das Gesicht des guten Schauspielers leuchtete. »O, ich Elender!« murmelte er; »welche schlaflosen Nächte werden mich strafen, wenn mich die Geister meiner Opfer umgeben! Ich fühle in mir die Seele des Nero, der Rom aus Künstlerbegeisterung verbrannte! Wie Herostrat fühle ich mich, da er aus Ruhmsucht den Tempel von Ephesos ansteckte! Wie Rostoptschin, da er Moskau aus Vaterlandsliebe verbrannte! Wie Alexander, da er Persepolis seiner unsterblichen Thaïs zuliebe in Flammen setzte! ... Ich bin Brandstifter aus Pflicht, weil ich kein anderes Mittel habe, um zu leben! Ich lege Feuer an, weil ich mir selbst schuldig bin, ein Mann zu sein. Ha, welch ein Mann werde ich sein! Wie werde ich leben! Ja, ich werde endlich empfinden, was man empfindet, wenn man Seelenqualen leidet! Welche herrlichen Nächte des Grausens werde ich genießen! Ich atme auf! Ich fühle mich neugeboren! Ich lebe! ... Wenn ich denke, daß ich Schauspieler war! Jetzt, wo ich in den Augen der blöden Masse nur ein Bissen für den Scharfrichter bin, will ich mit Blitzeseile entfliehen. Ich will mich in meinen Leuchtturm einschließen, um dort in Frieden meine Reue zu genießen.«

Am übernächsten Abend erreichte Chaudval unbehelligt seinen Bestimmungsort und ergriff Besitz von seinem alten, verlassenen Leuchtturm, der an der normännischen Küste liegt; eine müßige Flamme auf einem baufälligen Turm, die ministerielles Mitleid für ihn wieder angezündet hatte. Das Feuerzeichen hatte kaum irgendwelchen Wert: es war ein zweckloser Posten, eine Sinekure, eine Wohnung mit einem Lichte darüber, das außer Chaudval kein Mensch brauchte.

Der würdige Tragöde schloß sich hier ein, nachdem er sein Bett, Lebensmittel und einen großen Spiegel hinaufgeschafft hatte, in dem er sein Mienenspiel studieren konnte. Hier war er über jeden menschlichen Verdacht erhaben. Rings um ihn schluchzte das Meer, in dem der alte Himmelsabgrund seinen Sternenglanz badete. Er sah die Fluten, vom Winde gehetzt, seinen Turm umbranden, wie ein Säulenheiliger die Sandwolken beim Hauch des Schimiel an seiner Säule zerschellen sieht. Gedankenlos sah er in der Ferne den Rauch der Dampfer und die Segel der Fischerboote dahinziehen. Der Träumer vergaß jeden Augenblick sein Licht. Er stieg die steinerne Treppe hinauf und hinab.

Am Abend des dritten Tages saß Lepeinteur, wie wir ihn nun nennen wollen, in seinem Zimmer, sechs Fuß über dem Meer, und las eine Pariser Zeitung, worin der Bericht über den großen Brand von vorgestern stand.

»Ein unbekannter Übeltäter hat ein paar Streichhölzer in das Petroleumlager geworfen. Ein Riesenbrand, der die Feuerwehr und die Bevölkerung der angrenzenden Stadtgegenden die ganze Nacht auf den Beinen hielt, ist im Faubourg du Temple ausgebrochen. Mehr als hundert Opfer sind zu beklagen; viele unglückliche Familien sind dem größten Elend preisgegeben ... Der ganze Platz ist geschwärzt, und die Ruinen rauchen noch ... Der Name des Verbrechers, der den Frevel begangen hat, ist unbekannt, ebenso der Beweggrund des Verbrechens.«

Chaudval sprang vor Freude hoch und rieb sich fiebernd die Hände.

»Welch ein Erfolg!« rief er. »Welch wundervoller Verbrecher bin ich! Werde ich genug von Geistern geplagt werden? Wie viele werde ich sehen! Ich wußte ja, daß ich ein Mann werden würde! Ach, das Mittel war hart, ich muß es bekennen. Aber es mußte ja sein! Es mußte sein!«

Beim Weiterlesen sah er, daß eine Wohltätigkeitsvorstellung zugunsten der Abgebrannten stattfinden solle. »Halt!« murmelte er; »ich hätte mein Talent in den Dienst meiner Opfer stellen sollen! Das wäre eine würdige Abschiedsvorstellung gewesen! Ich hätte Orest gespielt. Ich wäre so natürlich gewesen ...«

Fortan lebte Chaudval in seinem Leuchtturm. Nacht auf Nacht sank hernieder ... Etwas verblüffte den Tragöden. Etwas Furchtbares! Ganz im Gegensatz zu seinen Hoffnungen und Prophezeiungen empfand er gar keine Reue in seinem Gewissen. Kein Geist erschien. Er empfand nichts, absolut nichts. Er konnte die Stille nicht begreifen. Er faßte es nicht. Manchmal, wenn er sich im Spiegel betrachtete, merkte er, daß sein gutmütiges Gesicht gar nicht verändert war. Wütend stürzte er sich auf die Signale, gab falsche Zeichen und weidete sich an der Hoffnung, daß irgendein Dampfer dadurch scheitern werde. Um der widerspenstigen Reue nachzuhelfen, sie zu stacheln und anzuregen! Um die Geister zu beschwören!

Verlorene Mühe! Unfruchtbare Missetaten! Eitle Anstrengungen! Er empfand nichts. Er erblickte kein drohendes Gespenst. Er schlief nicht mehr: so sehr nagten Verzweiflung und Schande an ihm. In einer Nacht bekam er Kongestionen. Er rang in seiner leuchtenden Einsamkeit mit dem Tode, und während die Wogen ihn umrauschten und die Stürme seinen im Unendlichen verlornen Turm peitschten, schrie er: »Gespenster! ... Um Gottes willen! ... Nur ein einziges Gespenst möchte ich sehen! Ich hab's doch verdient!«

Aber Gott gewährte ihm diese erflehte Gnade nicht, und der alte Mime bat noch mit seinem letzten Atemzuge vergebens, ihn Gespenster sehen zu lassen. Daß er, um diesen Wunsch erfüllt zu finden, nur sich selbst anzusehen brauchte, begriff er nicht.


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