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Die Räuber

Nayrac und Pibrac, ein Zwillingspaar von Landstädten, durch einen unter den Orleans angelegten Kommunalweg verbunden, erfreute sich unter einem glücklichen Himmel der völligen Harmonie von Sitten, Geschäften und Anschauungen. – Wie überall zeichneten sich die Behörden durch Leidenschaften aus; wie überall besaß die Bürgerschaft ebenso das allgemeine Ansehen wie das eigene. So lebten alle friedlich und fröhlich in diesen paradiesischen Gegenden, als es eines Abends im Oktober geschah, daß der alte Geiger von Nayrac, dessen Beutel leer war, den Küster von Pibrac auf offener Landstraße ansprach und ihn im Schutze der Dunkelheit in sehr bestimmtem Tone um etwas Kleingeld bat.

Der Glöckner bekam einen jähen Schreck und entschuldigte sich höflich, da er den Geiger nicht erkannte. Als er aber nach Pibrac heimkehrte, erzählte er sein Abenteuer in solcher Weise, daß die durch seinen Bericht erhitzte Phantasie seiner Mitbürger aus dem armen Bierfiedler von Nayrac eine Rotte verlungerter Räuber machte, die den Süden heimsuchte und die Landstraße durch ihre Morde, Brandstiftungen und Räubereien verheerte. – Die Spießbürger beider Städte unterstützten dies Gerücht; denn es ist eine alte Wahrheit, daß jeder gute Eigentümer dazu neigt, die Schandtaten derer zu übertreiben, die ihm an seine Kapitalien wollen. Nicht, als ob sie sich hätten hinters Licht führen lassen, o nein! Sie hatten den Küster ins Gebet genommen, nachdem er kräftig gezecht hatte. Er hatte sich verschnappt, und sie wußten nun besser als er, was an der Geschichte dran war! ... Gleichwohl hatten sie das leichtgläubige Volk genasführt. Die ehrbaren Städter behielten das Geheimnis für sich, wie sie alles, was sie haben, zu behalten lieben, eine Beharrlichkeit, die ja überhaupt das Denkmal aller besonnenen und aufgeklärten Leute ist. – In der Mitte des November, als es auf dem Turm des Friedensgerichts von Nayrac zehn Uhr schlug, kehrte ein jeder mit noch pfiffigerer Miene als gewöhnlich heim, den Hut verwegen aufs Ohr geklemmt, so daß die Ehefrauen, als sie ihren Gebietern an den Backenbart sprangen, sie »Musketiere« nannten, was beider Herzen hold kitzelte.

»Du weißt, Frau, morgen bei Tagesgrauen muß ich fort.«

»O Gott!«

»Es ist Zahltag, ich muß selbst zu den Pächtern ...«

»Nein, du gehst nicht.«

»Warum nicht?«

»Die Räuber ...«

»Ha, ich habe schon mehr erlebt!«

»Du gehst nicht ...!« schloß jede Gattin, wie es sich unter Leuten geziemt, die einander erraten.

»Ei, sieh mal, Kind, sieh mal ... Weil ich deine Angst voraus sah, und um dich zu beruhigen, haben wir ausgemacht, alle zusammen zu fahren in einem großen Kremser, den wir zu dem Zweck gemietet haben, und unsere Jagdflinten mitzunehmen. Unsere Pachtgüter sind dicht beieinander, und am Abend kommen wir zurück. Also trockne deine Tränen, und da ich müde bin, so erlaube mir, daß ich mir die beiden Zipfel meines Tuches auf dem Kopfe zusammenknote.«

»Ah, sobald ihr alle zusammen fahrt, hat es nichts auf sich. Du mußt dich den anderen anschließen,« flüsterte jede Gattin, plötzlich beruhigt.

Die Nacht war köstlich. Die Bürger träumten von Angefallenwerden, Blutbädern, Zusammenstößen, Turnieren und Lorbeeren. Sie erwachten also frisch und munter im fröhlichen Sonnenschein.

»Auf denn!« murmelte ein jeder, indem er seine Strümpfe mit einer Gebärde heldischer Sorglosigkeit anzog und so laut aufstand, daß die Gattin es hören konnte. »Die Stunde hat geschlagen. Man stirbt nur einmal!«

Die Damen sahen diese modernen Paladine bewundernd scheiden und stopften ihnen in Anbetracht des Herbstwetters die Taschen voll Brustbonbons. Die Herren entrissen sich, taub gegen das Schluchzen der Frauen, bald den Armen, die sie zurückhalten wollten ...

»Noch einen letzten Kuß!« sagte ein jeder auf seinem Hausflur. Dann eilten sie alle dem Marktplatz zu, wo bereits einige Hagestolze, ihrer Genossen harrend, den Kremser umstanden und ihre Flintenläufe in der Sonne blitzen ließen, während sie stirnrunzelnd neue Zündhütchen aufsetzten.

Es schlug sechs Uhr. Der Kremser setzte sich in Bewegung unter den kräftigen Klängen der Parisienne, welche die vierzehn Grundbesitzer anstimmten. An den fernen Fenstern winkten fiebernde Hände verzweifelt mit Taschentüchern, während das Heldenlied erschallte:

En avant, marchons
Contre leurs canons!
A travers le fer, le feu des bataillons!

Und die Rechte in der Luft schwenkend, brüllten sie: Courons à la victoire!

Den Takt schlugen die gewaltigen Peitschenhiebe, mit denen der Rentner, der den Wagen kutschierte, den drei Pferden um die Köpfe knallte.

Es war ein schöner Tag.

Ein jeder speiste bei seinem Pächter, kniff die Tochter beim Nachtisch in die Backen, sackte den Pachtzins ein und verabschiedete sich mit ein paar sinnigen Sprichwörtern, wie: »Glatte Rechnung macht gute Freunde,« oder: »Wer was taugt, verdient was,« oder: »Bete und arbeite,« oder: »Handwerk hat goldenen Boden,« oder: »Schuldentilgen ist Reicherwerden,« und anderen landläufigen Redensarten. Dann entzog er sich den üblichen guten Wünschen, nahm Platz in dem Kremser, der sie von Pachthof zu Pachthof alle wieder auflas, und fuhr in der Dämmerung zurück nach Nayrac.

Trotzdem hatte sich ein Schatten auf ihre Gemüter herabgesenkt. Aus den Erzählungen von Bauern entnahmen die Gutsbesitzer, daß der Geiger Schule gemacht hatte. Sein Beispiel war ansteckend geworden. Der alte Sünder hatte sich anscheinend mit einer Horde wirklicher Diebe zusammengetan, und besonders jetzt zur Zeit der Pachtzahlung war die Straße positiv unsicher. Infolgedessen setzten die Helden, nachdem der Dunst des Weißweins bald verflogen war, jetzt einen Dämpfer auf ihre Parisienne.

Die Nacht brach herein. Die Pappeln warfen lange, schwarze Schatten auf die Straße, und der Wind wühlte in den Hecken. Die Geräusche der Nacht unterbrach nur das eintönige Trott der drei Belgier, und in der Ferne hörte man das unheimliche Heulen eines verlaufenen Hundes. Fledermäuse schwirrten über die Köpfe der Insassen hin, die der erste Mondstrahl fahl beleuchtete ... Brr! ... Sie klemmten ihre Flinten jetzt in krampfhaftem Zittern zwischen die Knie und fühlten im Stillen von Zeit zu Zeit nach, ob der Geldsack noch an Ort und Stelle war. Keiner sprach ein Wort. Welch eine Angst für ehrbare Leute!

Plötzlich am Kreuzweg, o Schrecken! – tauchten schaurige, verzerrte Gesichter auf. Flintenläufe blitzten; man hörte Pferdegetrappel, und ein furchtbares »Wer da?« erscholl durch die Finsternis; denn in diesem Moment verschwand der Mond zwischen zwei schwarzen Wolken.

Ein großes Gefährt, mit Bewaffneten besetzt, versperrte die Landstraße. Wer waren diese Leute? Augenscheinlich Missetäter! Banditen! Ja augenscheinlich! – Ach nein! Es war der Zwillingstrupp der braven Bürger von Pibrac. Es waren die aus Pibrac, die genau auf denselben Gedanken verfallen waren, wie die aus Nayrac! Die friedlichen Rentner beider Städte, die sich auf der Landstraße begegneten und nach Hause fuhren!

Totenbleich starrten sie einander an. Der heftige Schreck, den sie einander verursachten, die fixe Idee, die ihre Hirne in Banden hielt, hatte auf allen diesen gutmütigen Gesichtern die wirklichen Instinkte hervortreten lassen, wie ein Windstoß, der über einen See fährt, den Grund an die Oberfläche wirbelt. So war es ganz naturgemäß, daß sie sich gegenseitig für die Räuber hielten, die sie fürchteten.

Im Nu betörte sie ihr gegenseitiges Geflüster in der Dunkelheit; die von Pibrac griffen in zitternder Hast nach den Waffen, ein Flintenschuß stieß gegen die Bank, und der Schuß ging los. Er traf einen derer von Nayrac und zerschmetterte auf seiner Brust eine irdene Terrine mit ausgezeichneter Gänseleberpastete, die er sich instinktiv als Schild und Schutz vorgehalten hatte.

Ha, dieser Feuerstrahl! Er war der Schicksalsfunke im Pulverfaß! Das Übermaß ihrer Angst machte sie rasend. Ein ununterbrochenes wütendes Gewehrfeuer begann. Der Instinkt der Lebens- und Geldverteidigung machte sie blind. Mit zitternden, raschen Griffen stopften sie die Patronen in ihre Flinten und schossen mitten in den Haufen hinein. Die Pferde fielen; einer der Kremser stürzte um und spie Verwundete und Geldsäcke aus. In der Verstörtheit ihres Schreckens sprangen die Verwundeten wie Löwen wieder auf und beschossen sich weiter; in dem Pulverqualm konnte keiner den anderen erkennen! ... Hätten Gendarmen in diese wütende Raserei eingegriffen, so hätten sie ihre Aufopferung ohne Zweifel mit dem Leben bezahlt. Kurz, es war ein Vernichtungskampf; die Verzweiflung hatte sie mit der mörderischsten Energie beseelt, welche die Klasse der ehrbaren Leute auszeichnet, wenn man sie zum äußersten treibt!

Derweilen zitterten die wahren Räuber – das heißt das halbe Dutzend armer Teufel, die allerhöchstens hier und da eine Brotkruste, ein Stückchen Speck oder ein paar Sous gemaust hatten – am ganzen Leibe in einer entfernten Diebeshöhle, als sie die furchtbaren, immer stärkeren Gewehrsalven und das Mordgeschrei der Bürgersleute hörten, das der Wind von der Landstraße herüberwehte.

In ihrem Schrecken bildeten sie sich ernstlich ein, daß eine gewaltige Treibjagd gegen sie im Gange wäre.

Sie hatten ihre harmlose Kartenpartie bei der Weinkanne unterbrochen und waren leichenblaß aufgestanden, ihr Oberhaupt anblickend. Der alte Geiger war dem Umsinken nahe. Seine langen Beine schlotterten. Die Überraschung hatte ihn ganz verblüfft. Was er hörte, überstieg seinen Verstand.

Nach ein paar Minuten der Ratlosigkeit jedoch, als das Gewehrfeuer noch immer anhielt, sahen die braven Räuber, wie er plötzlich erbebte und den Finger nachdenklich an die Nasenspitze legte.

»Kinder,« sagte er, sich aufrichtend, »es ist unmöglich. Es ist nicht auf uns gemünzt ... Es ist ein Mißverständnis ... Eine Verwechslung ... Laufen wir mit unseren Blendlaternen hin, um den armen Verwundeten Hilfe zu bringen ... Der Spektakel kommt von der Landstraße ...«

Mit tausend Vorsichten schlüpften sie durch das Dickicht und erreichten so die Unglücksstelle, deren Schrecken der Mond jetzt mit seinem Licht übergoß.

Der letzte Bürger, der noch lebte, hatte sich in der Hast, mit der er seine glühende Waffe wieder lud, aus Unachtsamkeit selbst erschossen.

Beim Anblick dieses furchtbaren Schauspiels, der blutigen, von Toten bedeckten Landstraße standen die Räuber bestürzt und sprachlos, trunken vor Verblüffung und ihren Augen nicht trauend. Ein dunkles Begreifen des Ereignisses begann in ihren Hirnen aufzudämmern.

Plötzlich pfiff der Führer, und auf sein Zeichen scharten sich die Laternen im Kreis um den Fiedler.

»Ach, liebe Freunde,« murmelte er mit Grabesstimme, während seine Zähne so klapperten, als hätte er noch mehr Angst als vorhin, »o, meine Freunde! ... Lesen wir möglichst schnell das Geld dieser würdigen Bürgersleute auf, und machen wir uns über die Grenze! Reißen wir aus, was uns die Beine tragen können! Und setzen wir nie mehr den Fuß in dies Land!«

Und als seine Helfershelfer ihn offenen Mundes und mit wirren Gedanken anstarrten, wies er mit dem Finger auf die Leichen, indem er immer wieder murmelte: »Ausreißen, ausreißen, fix, fort!« Dann sprach er, zu seinen Leuten gewendet, nicht ohne Schauder das absurde, doch elektrisierende Wort: »Sonst denkt man ... wir waren es.«


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