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Die Unbekannte

Tout Paris glänzte eines Abends im Théâtre italien Jetzt Opéra comique (seit dem Brande von 1883. Die » Contes cruels« erschienen 1880).. Man gab »Norma«. Es war Maria Felicia Malibrans Abschiedsvorstellung.

Bei den letzten Klängen von Bellinis Gebet Casta diva hatte das gesamte Publikum sich erhoben und brachte der Sängerin stürmische Ovationen. Es regnete Blumen, Armbänder, Kränze. Ein Hauch von Unsterblichkeit umgab die große Künstlerin, die dem Tode nahe war und singend von der Welt Abschied nahm!

In der Mitte der Orchestersessel saß ein junger Mann, dessen Gesichtsausdruck eine stolze und entschlossene Seele verriet. Er klatschte, daß ihm fast die Handschuhe platzten – so leidenschaftlich war seine Bewunderung.

Niemand in der großen Welt kannte diesen Zuschauer. Er sah nicht wie ein Provinziale aus, sondern wie ein Fremder. Sein Anzug schien neu, doch der Stoff war matt und von tadellosem Schnitt. Ohne die unwillkürliche und geheimnisvolle Eleganz, die sich in seinem ganzen Wesen ausdrückte, wäre er fast sonderbar erschienen. Bei näherem Zusehen hätte man weiten Raum, Himmel und Einsamkeit um ihn gesucht. Das war das Außerordentliche. Aber ist Paris nicht die Stadt des Außerordentlichen?

Wer war er und woher kam er?

Er war ein weltfremder Jüngling, ein verwaister junger Grandseigneur, einer der letzten dieses Jahrhunderts – ein melancholischer Schloßherr, der vor drei Tagen der Nacht einer alten Burg in Cornwallis entronnen war.

Er hieß Graf Felicien de la Vierge und besaß das Schloß Blanchelande in Südengland. Ein brennender Lebensdurst, eine Neugier nach der wunderreichen Hölle Paris hatte den jungen Jägersmann eines Tages plötzlich fieberhaft ergriffen ... Er hatte sich aufgerafft und war ganz einfach da. Er hatte Paris erst diesen Morgen erreicht, und seine großen Augen strahlten noch.

Es war der erste Abend seiner Jugend! Er zählte zwanzig Jahre. Es war sein erstes Auftreten in einer Welt von Glut, Vergessen, Banalitäten, Gold und Vergnügungen. Und ganz zufällig war er an diesem Tage gekommen, wo die Malibran zum letztenmal singen sollte.

Nach wenigen Augenblicken hatte er sich an den Glanz des Theaterraumes gewöhnt. Aber bei den ersten Akzenten der Sängerin war seine Seele erbebt und die Zuschauer waren verschwunden. Die Stille des Waldes, der rauhe Wind des Klippenstrandes, das Schäumen der Wildbäche über das Felsgestein und die ernsten Dämmerungen hatten den stolzen Jüngling zum Dichter erzogen, und im Klang dieser Stimme schien ihm die Seele jener Dinge zu zittern und ihn mit fernen Rufen zurückzulocken.

In dem Augenblick, wo er der Künstlerin begeistert zuklatschte, wurden seine Hände plötzlich wie durch einen Zauberschlag gelähmt, und er blieb regungslos stehen. An der Brüstung einer Loge erschien eine junge Dame von großer Schönheit und blickte auf die Bühne. Das rote Dunkel der Loge umschattete die feinen und edlen Linien ihres Profils, das wie eine Florentiner Kamee auf ihrem Grunde erschien.

In ihren braunen Haaren leuchtete eine Gardenie. Sie stützte ihre Hand auf die Brüstung, eine Hand von vornehmster Rasseschönheit. Ihr schwarzes Moirékleid war mit Spitzen umhüllt; am Taillenschluß leuchtete ein blanker Stein, ein wunderbarer Opal, gewiß das Ebenbild ihrer Seele, in goldner Fassung. Sie schien, gleichgültig gegen alle Zuschauer, dem unbezwinglichen Zauber dieser Musik in tiefer Selbstvergessenheit zu lauschen.

Doch der Zufall wollte, daß sie die Augen unbestimmt über die Menge schweifen ließ; in diesem Augenblick begegnete ihr Blick dem des Jünglings, um im Nu aufzuflammen und wieder zu erlöschen.

Kannten sie sich schon? ... Nein. Nicht auf der Erde. Aber die, welche sagen können, wo die Vergangenheit beginnt, mögen entscheiden, wo diese zwei Wesen sich in Wahrheit schon angehört hatten; denn dieser eine Blick hatte sie ein für allemal überzeugt, daß sie nicht erst an ihrer Wiege zu leben begonnen. Wie der Blitz die Wogen und Schaumkämme des nächtlichen Meeres im Nu erleuchtet und am Horizont die silbernen Linien der Fluten erscheinen läßt – so war auch der Eindruck im Herzen dieses Jünglings kein allmählicher, als jener Blick ihn traf; es war das innere magische Geblendetsein über eine sich plötzlich enthüllende Welt! Er schloß die Augen, wie um die beiden blauen Flammen, die sich darin verloren hatten, festzuhalten; dann wieder wollte er diesem berückenden Schwindel widerstehen. Er erhob die Augen zu der Unbekannten.

Sie ließ ihre Blicke immer noch nachdenklich in den seinen ruhen, als hätte sie den Gedanken dieses weltfremden Liebhabers begriffen und als wäre das etwas ganz Natürliches! Felicien fühlte, wie er erbleichte; diese Blicke erschienen ihm wie zwei Arme, die sich schmachtend um seinen Hals schlangen. Es war um ihn geschehen! Das Antlitz dieser Frau begann sich in seinem Geiste zu spiegeln wie in einem vertrauten Spiegel, sich darin zu verkörpern und wiederzuerkennen, sich auf ewig darin zu befestigen durch eine Magie himmlischer Gedanken! Er liebte mit der ersten unvergeßlichen Liebe.

Indessen schien die junge Frau wieder in ihre Gleichgültigkeit zurückzusinken. Sie öffnete ihren Fächer, dessen schwarze Spitzen ihre Lippen berührten. Jetzt schien sie nichts mehr zu hören als die Klänge der »Norma«.

Er wollte sein Glas zu der Loge erheben, unterließ es aber in dem Gefühl der Unschicklichkeit. »Da ich sie liebe!« sagte er sich.

Er wartete ungeduldig auf das Ende des Aktes und sammelte sich. Wie sollte er das Wort an sie richten? Ihren Namen erfahren? Er kannte ja keine Seele. Morgen in der Theaterliste nachsehen? Und wenn die Loge nur zufällig für diesen einen Abend gemietet war? Die Stunde drängte, die Vision drohte zu verschwinden. Ganz einfach: er wollte ihr nachfahren ... Ein anderes Mittel schien es nicht zu geben. Dann würde er's ja merken. Dann sagte er sich in seiner hervorragenden Harmlosigkeit: »Wenn sie mich liebt, wird sie es schon merken und mir irgendein Zeichen zurücklassen.«

Der Vorhang fiel. Felicien verließ schleunigst den Zuschauerraum. Sobald er im Peristyl war, ging er einfach vor den Statuen auf und ab.

Sein Diener trat auf ihn zu; er flüsterte ihm ein paar Instruktionen zu; der Lakai zog sich in eine Ecke zurück und paßte aufmerksam auf.

Der Lärm der Ovation, die der Sängerin dargebracht ward, verebbte allmählich, wie alles Triumphgeschrei auf Erden. Die vornehme Welt kam die große Treppe herunter. Felicien heftete das Auge auf die obersten Stufen, zwischen den beiden Marmorvasen, wo der blendende Strom der Menge herabfloß.

Er sah nichts, weder die strahlenden Gesichter, noch den Schmuck, noch die Blumen im Haar der jungen Mädchen, noch die Hermelinumhänge, noch den blendenden Strom, der im Licht vor ihm hinrauschte. Und der ganze Schwarm war bald zerstoben, ohne daß die junge Frau erschien.

Hatte er sie entschlüpfen lassen, ohne sie wiederzuerkennen? ... Nein, das war unmöglich! Ein alter gepuderter, mit Pelzen bepackter Diener wartete noch im Vestibül. Aus den Knöpfen seiner schwarzen Livree glänzten die Eppichblätter der Herzogskrone.

Plötzlich erschien sie auf den höchsten Stufen der verlassenen Treppe! Allein! Schlank, in einem Samtmantel, die Haare unter einem Spitzenschal, die behandschuhte Rechte auf das Marmorgeländer stützend. Sie sah Felicien neben einer der Statuen stehen, schien seine Gegenwart aber nicht weiter zu beachten.

Sie kam ruhig die Treppe herunter. Der Diener trat auf sie zu, und sie sagte ihm leise ein paar Worte. Der Lakai verbeugte sich und verschwand, ohne länger zu warten. Einen Augenblick später hörte man einen Wagen fortfahren. Jetzt ging sie. Sie stieg die Außentreppe des Theaters herab, ganz allein. Felicien warf seinem Diener hastig die Worte zu: »Geh allein ins Hotel zurück.«

Im Augenblick befand er sich auf der Place des Italiens, ein paar Schritte hinter der Dame; die Menge hatte sich schon in die nächsten Straßen verteilt; das Echo der davonrollenden Wagen wurde immer schwächer.

Es war eine trockene, gestirnte Oktobernacht.

Die Unbekannte ging sehr langsam, als wäre sie das Gehen nicht gewöhnt. Er mußte ihr folgen, sein Entschluß war gefaßt. Der Herbstwind trug ihm das schwache Ambraparfüm zu, das sie ausströmte, und das schleppende Rauschen ihres Moirékleides auf dem Pflaster.

An der Rue Monsigny angelangt, orientierte sie sich einen Augenblick, dann ging sie anscheinend gleichgültig bis zur Rue Grammont, die leer und wenig beleuchtet war.

Plötzlich blieb der Jüngling stehen. Ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Es war vielleicht eine Fremde!

Ein Wagen konnte vorbeikommen und sie ihm für immer entführen. Morgen würde er sich an den Steinen der Stadt wundstoßen, ohne sie wiederzufinden! Er konnte ewig von ihr getrennt werden, durch den Zufall einer Straße, durch einen Augenblick, der ewig währen konnte! Welche Zukunft! Dieser Gedanke verwirrte ihn so, daß er selbst den Anstand darüber vergaß.

Er überholte die junge Dame an der dunklen Straßenecke, dann drehte er sich um, wurde leichenfahl und mußte sich an dem gußeisernen Laternenpfahl festhalten, während er sie grüßte. Eine Art von magnetischem Zauber ging von seinem ganzen Wesen aus. Er sagte einfach:

»Gnädige Frau, Sie wissen es, ich sah Sie heute abend zum ersten Male. Da ich fürchte, Sie nicht wiederzusehen, so muß ich Ihnen sagen« – hier versagte ihm die Kraft – »daß ich Sie liebe!« vollendete er leise, »und wenn Sie vorübergehen, werde ich sterben, ohne diese Worte einem Menschen zu wiederholen.«

Sie blieb stehen, lüftete ihren Schleier und blickte Felicien starr und aufmerksam an. Nach kurzer Pause sagte sie mit einer Stimme, deren Reinheit die fernsten Regungen des Geistes erkennen ließ:

»Mein Herr, das Gefühl, das Ihnen diese Blässe und diese Haltung verleiht, muß in der Tat sehr tief sein, da Sie darin die Rechtfertigung für Ihr Benehmen finden. Ich fühle mich also keineswegs verletzt. Erholen Sie sich und halten Sie mich für eine Freundin.«

Felicien war ob dieser Antwort nicht erstaunt. Es schien ihm natürlich, daß das Ideal eine ideale Antwort gab.

Der Fall gehörte in der Tat zu denen, wo beide Teile sich erinnern mußten – wenn sie dessen würdig waren –, daß sie zu der Rasse derer gehörten, welche die Formen schaffen, und nicht zur Rasse derer, welche sie befolgen. Denn was die Mehrzahl der Menschen aufs Geratewohl die Formen nennt, ist ja nur eine mechanische, knechtische und fast affenartige Nachahmung dessen, was die höheren Naturen unter allgemeinen Umständen unbestimmt geübt haben.

In einer Aufwallung naiver Zärtlichkeit küßte er die dargebotene Hand.

»Wollen Sie mir die Blume geben, die Sie den ganzen Abend in Ihrem Haar trugen?«

Die Unbekannte nahm die blasse Blume schweigend unter ihrem Spitzentuch hervor und reichte sie Felicien.

»Leben Sie nun wohl,« sagte sie, »auf immer!«

»Leben Sie wohl ...« wiederholte er stotternd. »Sie lieben mich also nicht? Ach, Sie sind verheiratet!« rief er plötzlich aus.

»Nein.«

»Frei! O Himmel!«

»Vergessen Sie mich trotzdem! Sie müssen es, mein Herr!«

»Aber Sie sind im Augenblick der Schlag meines Herzens geworden! Kann ich noch ohne Sie leben? Die einzige Luft, die ich atmen will, ist die Ihre. Was Sie da sagen, verstehe ich nicht mehr: Sie vergessen ... wieso?«

»Ein furchtbares Unglück hat mich betroffen. Es Ihnen gestehen, hieße Sie bis auf den Tod betrüben, das ist nicht nötig.«

»Welches Unglück kann Liebende trennen?«

»Eben dieses.«

Während sie so sprach, schloß sie die Augen.

Die Straße lag völlig verlassen vor ihnen. Ein Portal, das zu einem dürftigen Gärtchen führte, stand dicht neben ihnen weit geöffnet. Es schien ihnen seinen Schatten anzubieten.

Wie ein unwiderstehliches, anbetendes Kind zog Felicien die Frau unter diese finstere Wölbung und umschlang die Taille, die sich ihm nicht entzog.

Das berauschende Gefühl der warmen Seide, die sich um ihren Körper spannte, gab ihm den fieberhaften Wunsch ein, sie zu umschlingen, sie zu entführen und sich in ihrem Kuß zu verlieren. Er tat sich Gewalt an; aber der Schwindel raubte ihm die Sprache. Er stammelte nur diese wirren Worte hervor: »O Gott, wie ich Sie liebe!«

Da neigte die Frau ihr Haupt auf die Brust ihres Anbeters und sagte mit bitterem, verzweifeltem Ton:

»Ich verstehe Sie nicht! Ich sterbe vor Scham! Ich höre Sie nicht! Ich könnte Ihren Namen nicht verstehen! Ihren letzten Seufzer nicht vernehmen! Ich höre nicht den Schlag Ihres Herzens gegen meine Stirn und meine Lider! Sehen Sie nicht, welch entsetzliches Leiden mich verzehrt! Ich bin ... ach, ich bin taub

»Taub!« rief Felicien, von kalter Starre gelähmt und von Kopf bis zu Füßen bebend.

»Ja, seit Jahren. Ach, alle menschliche Wissenschaft wäre unfähig, mich aus diesem furchtbaren Schweigen zu erlösen. Ich bin taub wie der Himmel und wie das Grab. Ich möchte den Tag verfluchen, aber es ist wahr. Also lassen Sie mich gehen!«

»Taub!« wiederholte Felicien, durch diese unbegreifliche Enthüllung jedes Gedankens beraubt und so verstört, daß er nicht einmal darüber nachdachte, was er sagte. »Taub? ...«

Dann plötzlich rief er: »Aber heute abend in der Oper haben Sie der Musik doch Beifall geklatscht.«

Er hielt inne in dem Gedanken, daß sie ihn doch nicht verstand. Die Sache wurde plötzlich so furchtbar, daß sie das Lächeln herausforderte.

»In der Oper? ...« antwortete sie, ebenfalls lächelnd. »Sie vergessen, daß ich Muße genug hatte, die Gebärden vieler Gemütsbewegungen zu studieren. Bin ich denn die einzige? Das Geschick hat uns unseren Rang angewiesen und wir müssen ihn ausfüllen. Diese edle Frau, die da sang, verdiente doch wohl ein paar letzte Sympathiebeweise. Glauben Sie etwa, daß mein Beifall so viel anders war als der der begeistertesten Kenner? Ich war früher selbst musikalisch ...«

Bei diesen Worten blickte Felicien sie etwas verstört an, und indem er sich noch zum Lächeln zwang, sagte er:

»O, Sie spielen nur mit meinem Herzen, das Sie verzweifelt liebt! Sie sagen, Sie hörten nichts, und antworteten mir doch! ...«

»Ach,« erwiderte sie, »was Sie ... was Sie da sagen, mein Freund, das glauben Sie allein zu sagen! Sie sind aufrichtig, aber Ihre Worte sind nur für Sie etwas Neues. Mir sagen Sie eine Rolle auf, deren Antworten ich alle schon im voraus weiß. Seit Jahren ist es für mich immer das gleiche. Es ist eine Rolle, deren Worte und Sätze diktiert sind und mit einer wahrhaft furchtbaren Genauigkeit wiederkehren.

»Ich beherrsche sie so sehr, daß, wenn ich das Verbrechen beginge, meine Trübsal, wenn auch nur für Tage, mit Ihrem Geschick zu vereinen, Sie jeden Augenblick vergessen würden, welches verhängnisvolle Geständnis ich Ihnen gemacht habe. Die Illusion kann ich Ihnen geben, völlig, täuschend, so gut wie jede andere Frau, das versichere ich Ihnen! Ich würde sogar unvergleichlich wirklicher sein als die Wirklichkeit. Denken Sie daran, daß die Umstände immer die gleichen Worte diktieren und daß das Gesicht sie immer ein wenig widerspiegelt. Sie würden mir's nicht glauben, daß ich Sie nicht verstehe, so richtig würde ich raten. – Denken wir nicht mehr daran, nicht wahr?«

Er war diesmal wirklich erschrocken.

»Ach,« sagte er, »welche bitteren Worte haben Sie das Recht zu sprechen! ... Aber ich, wenn es so ist, will mit Ihnen alles teilen, selbst das ewige Schweigen, wenn es sein muß. Warum wollen Sie mich von Ihrem Mißgeschick ausschließen? Ich hätte ja auch Ihr Glück geteilt! Und unsere Seele kann alles, was es gibt, ersetzen.«

Die junge Frau erbebte und blickte ihn mit leuchtenden Augen an.

»Wollen wir ein bißchen gehen? Und wollen Sie mir den Arm geben in dieser finsteren Straße?« bat sie. »So können wir uns vorstellen, als gingen wir im Frühjahr bei Sonnenschein im Grünen! Auch ich habe Ihnen etwas zu sagen, was ich nicht noch einmal sagen werde.«

Die beiden Liebenden gingen Hand in Hand, wie zwei Verbannte, das Herz von schicksalsvoller Trübsal beklemmt.

»Hören Sie mich an,« sagte sie, »Sie können den Klang meiner Stimme ja hören. Warum habe ich wohl gefühlt, daß Sie mich nicht beleidigten? Und warum habe ich Ihnen geantwortet? Wissen Sie es? ... Ich habe nicht nur ganz einfach gelernt, in den Gesichtszügen und Gebärden die Gefühle zu lesen, welche die Handlungen eines Menschen bestimmen, sondern noch etwas ganz anderes: ich ahne mit ebenso tiefer und sozusagen fast unendlicher Sicherheit den Wert und die Eigenart dieser Gefühle und ihre innere Harmonie bei dem, der zu mir spricht. Als Sie es sich herausnahmen, diesen schrecklichen Verstoß von vorhin zu begehen, war ich vielleicht die einzige Frau, die sofort seine wahre Bedeutung erfassen konnte. – Ich habe Ihnen geantwortet, weil es mir schien, als leuchtete auf Ihrer Stirn jenes unbekannte Zeichen derer, bei denen der Gedanke, statt durch ihre Leidenschaften verdunkelt, beherrscht und geknebelt zu werden, alle Lebensregungen erhebt und vergöttlicht und das Ideal aus allen Empfindungen hervorleuchten läßt. Vernehmen Sie mein Geheimnis, mein Freund! Das Verhängnis, das meinen Körper getroffen hat, so schmerzvoll es zu Anfang für mich war, hat mich von mancher Knechtschaft befreit! Es hat mich aus jener geistigen Taubheit erlöst, der die meisten Frauen zum Opfer fallen. Es hat meine Seele für die Schwingungen der ewigen Dinge empfänglich gemacht, welche die Mehrzahl meines Geschlechtes nur in der Verzerrung kennt. Ihre Ohren sind jenen wunderbaren Echos, jenem herrlichen Nachzittern verschlossen. So danken sie ihrem scharfen Gehör nur das Vermögen, das rein Instinktive und Äußere in den zartesten und reinsten Wonnen zu vernehmen. Sie sind wie die Hesperiden, Wächterinnen jener Zauberfrüchte, deren magischen Wert sie nie erfahren werden! Ach, ich bin taub ... aber sie! Was hören sie denn? ... Oder besser: was vernehmen sie in den Reden, die an sie gerichtet werden, außer dem verworrenen Klang, in Übereinstimmung mit dem Mienenspiel des Sprechers! Sie beachten den äußeren Sinn, aber nicht die tiefe, offenbarende Eigenheit, kurz, den wahren Sinn jedes Wortes; sie begnügen sich, die Absicht auf Schmeichelei herauszuhören, und das genügt ihnen in reichem Maße. Das nennen sie »das Positive des Lebens« mit so einem Lächeln ... na, Sie werden es ja sehen, wenn Sie das Leben mitmachen! Sie werden sehen, welche geheimnisvollen Meere von Offenherzigkeit, Anmaßung und niederer Frivolität dieses köstliche Lächeln ganz allein birgt! – Der Abgrund zaubervoller, göttlicher, dunkler Liebe, die gestirnt ist wie die Nacht, wie sie die Wesen Ihres Schlages empfinden – versuchen Sie das einer von ihnen begreiflich zu machen! ... Wenn Ihre Worte auch bis zu ihrem Hirn dringen, so werden sie darin entstellt, wie eine lautre Quelle, die durch einen Sumpf fließt ... In Wahrheit also hat solch eine Frau Ihre Worte gar nicht gehört. ›Das Leben,‹ sagen sie, ›ist unfähig, diese Träume zu erfüllen, und Sie fordern zu viel von ihm!‹ Ach, als ob das Leben nicht von den Lebenden gemacht würde!«

»Mein Gott!« murmelte Felicien.

»Jawohl,« fuhr die Unbekannte fort, »keine Frau entgeht diesem Schicksal ihres Geschlechts, der geistigen Taubheit, wenn sie sich nicht mit einem unschätzbaren Lösegeld freikauft, wie ich. Die Männer nennen die Frauen geheimnisvoll, weil sie sich nur durch Taten ausdrücken. Stolz und hochmütig auf dies Geheimnis, von dem sie selbst nichts wissen, lassen sie die Männer gern in dem Glauben, daß man sie erraten könnte. Und jeder Mann, der sich schmeichelt, der erwartete Errater zu sein, begeht Diebstahl an seinem Leben, um eine steinerne Sphinx zu freien. Und keiner kann sich vorher zu dem Gedanken erheben, daß ein Geheimnis, so furchtbar es sei, wenn es niemals ausgedrückt wird, dem Nichts gleich kommt.«

Die Unbekannte war stehen geblieben. »Ich spreche bitter heute abend,« fuhr sie fort. »Und der Grund ist dieser: ich beneide die Frauen nicht mehr um das, was sie besitzen, seit ich dahinterkam, welchen Gebrauch sie davon machen – und ich selbst ohne Zweifel davon gemacht hätte! Aber Sie hier, Sie hier, den ich vor Jahren so geliebt hätte! ... Sie sehe ich, Sie errate ich! ... Ich erkenne Ihre Seele in Ihren Augen ... Sie bieten sie mir dar, und ich kann sie nicht nehmen! ...«

Die junge Frau verbarg ihr Gesicht in den Händen.

»Ach,« flüsterte Felicien ganz leise, während ihm die Tränen in die Augen traten, »ich kann wenigstens die deine küssen im Hauch deiner Lippen! Verstehe mich! Nimm das Leben, wie es ist! Du bist so schön! ... Das Schweigen wird unsere Liebe unauslöschlicher und erhabener machen, meine Leidenschaft wird um all deinen Schmerz, um all unsre Schwermut zunehmen! Teures Weib, sei für ewig mein, laß uns zusammen leben!«

Sie betrachtete ihn und weinte auch. Dann legte sie die Hand auf den Arm, der sie umschlungen hielt.

»Sie werden selbst sagen, daß es unmöglich ist,« sagte sie, »hören Sie mich an. Ich will Ihnen das Letzte sagen ... Denn Sie werden mich nie mehr hören ... und ich will nicht vergessen werden.«

Sie sprach langsam, den Kopf auf die Schulter des jungen Grafen gelehnt:

»Zusammen leben, sagen Sie ... Sie vergessen, daß das Leben nach den ersten Verzückungen eine Vertrautheit annimmt, wo das Bedürfnis nach Mitteilung unvermeidlich wird. Das ist ein geheiligter Augenblick! Und es ist der grausame Augenblick, wo die, welche sich geheiratet haben, die unabwendbare Strafe dafür empfangen, daß sie der Eigenheit, dem wirklichen, einzigen Sinn der Worte, den der Sprecher in sie hineingelegt, so wenig Wert beigemessen haben. »Die Illusionen sind vorüber,« sagen sie sich und wähnen so mit einem trivialen Lächeln die schmerzliche Verachtung zu bemänteln, die sie in Wahrheit für ihre Art von Liebe empfinden – und die Verzweiflung, die sie verspüren, sich das selbst einzugestehen. – Denn sie wollen nicht merken, daß sie nur das besessen haben, was sie sich wünschten! Sie sind nicht imstande zu glauben, daß – außer dem Gedanken, der alle Dinge verklärt – alle Dinge auf Erden nur Illusionen sind. Und daß jede Leidenschaft, die allein sinnlich aufgefaßt und erwidert wird, für die, welche sich ihr hingeben, bald bitterer wird als der Tod. – Schauen Sie die Menschen an, die an Ihnen vorübergehen, und sagen Sie mir, ob ich mich täusche. – Wir dagegen, wenn dieser Augenblick käme! ... Ich hätte Ihren Blick, aber nicht Ihre Stimme! Ich hätte Ihr Lächeln ... aber nicht Ihre Worte! Und ich fühle, daß Sie nicht reden werden wie die anderen! ... Ihre schlichte und ursprüngliche Seele muß sich mit einer fast entschiedenen Lebhaftigkeit ausdrücken, nicht wahr? Alle Stufen Ihres Empfindens können sich also nur durch die Musik Ihrer Worte verraten! Ich würde wohl fühlen, daß Sie von meinem Bilde ganz erfüllt sind, aber die Form, die Sie meinem Wesen in Ihren Gedanken geben, die Art, wie Sie mich auffassen, die man nur mit ein paar von Tag zu Tag gefundenen Worten schildern kann, – diese Form ohne feste Linien, die kraft jener göttlichen Worte unbestimmt bleibt und sich ins Licht projizieren möchte, um damit zu verschmelzen und in die Unendlichkeit, die wir im Herzen tragen, einzudringen, – diese einzige Realität werde ich nie kennen lernen! Nie! ... Die unaussprechliche Musik, die in der Stimme eines Liebenden liegt, dieses Murmeln voll unerhörter Modulationen, das uns bannt und erbleichen macht – ich würde verdammt sein, es nicht zu hören! Ach, der, welcher auf die erste Seite einer göttlichen Symphonie die Worte schrieb: »Ebenso klopft das Geschick an die Tür,« der hatte die Stimme der Instrumente gekannt, ohne meine Trübsal zu erfahren! – Er schrieb aus seiner Erinnerung heraus! Aber ich, wie soll ich mich der Stimme erinnern, mit der Sie mir zum ersten Male sagten: »Ich liebe dich! ...

Der junge Graf war bei diesen Worten finster geworden: was er empfand, war Schrecken.

»O« rief er aus, »Sie öffnen ja Abgründe von Unglück und Zorn in meinem Herzen! Ich habe den Fuß auf der Schwelle des Paradieses, und ich soll mir selbst das Tor aller Freuden verschließen! Sind Sie eine Meisterin der Versuchung? ... Mir ist, als sähe ich in Ihren Augen, ich weiß nicht welchen Stolz leuchten, mich in Verzweiflung gebracht zu haben.«

»Ich werde dich nie vergessen!« antwortete sie. »Wie kann man die Worte vergessen, die man ahnt, ohne sie zu hören?«

»Ach, gnädigste Frau, Sie töten mutwillig all die jungen Hoffnungskeime, die ich in Ihnen begraben muß! ... Trotzdem: wenn du mit mir das Leben teilst, so werden wir die Zukunft gemeinsam besiegen! Fassen wir mehr Mut zu unsrer Liebe. Komm, werde mein!«

In einer unerwarteten weiblichen Regung drückte sie ihre Lippen im Dunkel auf die seinen, sanft, mehrere Sekunden lang. Dann sagte sie müde:

»Freund, ich sage dir, es ist unmöglich. Es gibt Stunden der Schwermut, wo meine Schwäche Sie reizen würde, sie mir noch lebhafter vorzuhalten! Sie könnten es ja doch nicht verschmerzen, daß ich Sie nicht hören kann ... noch es mir verzeihen, ich versichere es Ihnen! Sie würden einfach vom Schicksal gezwungen, nicht mehr mit mir zu sprechen, in meiner Gegenwart keine Silbe mehr zu sagen. Nur Ihre Lippen würden zu mir sprechen: »Ich liebe Sie,« ohne daß Ihre Stimme durch die Stille bebte. Sie würden mir schließlich alles aufschreiben! Nein, das ist unmöglich! Ich will mein Leben nicht um einer halben Liebe willen entweihen. Ich bin ledig und doch Witwe eines Traumes und will ungesättigt bleiben. Ich sage Ihnen, es gibt keinen Austausch zwischen Ihrer und meiner Seele. Und doch waren Sie der, welcher bestimmt war, mein ganzes Wesen zu besitzen. Und gerade darum hab' ich die Pflicht, Ihnen meinen Leib zu entziehen. Ich nehme ihn mit mir fort! Er ist mein Kerker! Möchte ich bald von ihm erlöst sein! – Ich will Ihren Namen nicht wissen ... Ich will ihn nicht lesen! ... Lebewohl! Lebewohl!«

Ein Wagen rollte dicht vorbei, an der Ecke der Rue Grammont. Felicien erkannte undeutlich den Lakaien aus der Vorhalle der Oper, als er auf einen Wink der jungen Frau das Trittbrett des Wagens herunterschlug.

Sie ließ Feliciens Arm los, entschwand ihm wie ein Vogel und stieg ein. Im nächsten Augenblick war alles verschwunden.

Der Graf de la Vierge reiste am nächsten Tage wieder nach seinem einsamen Schloß Blanchelande. Man hat nichts mehr von ihm gehört.

Er konnte sich rühmen, auf den ersten Schlag eine aufrichtige Frau getroffen zu haben, die den Mut zur eignen Meinung besaß.


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