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Das zweite Gesicht

An einem Winterabend, als wir, vor einem starken Kaminfeuer sitzend, bei einem unserer Freunde Tee tranken, kam die Unterhaltung auf einen der dunkelsten Gegenstände: das Wesen jener außerordentlichen, verblüffenden, geheimnisvollen Vorahnungen, die in das Leben mancher Menschen eingreifen.

»Folgende Geschichte,« sagte mein Freund, der Baron Xavier de la V..., ein blasser, junger Mann, der durch lange militärische Strapazen in Afrika zerrüttete Nerven und eine ungewöhnliche Menschenscheu bekommen hatte, »folgende Geschichte will ich ohne jeden Kommentar erzählen. Sie ist wahr.«

Wir zündeten uns Zigaretten an und lauschten seinem Bericht.

»Es war im Jahre 1876, eines Abends um acht Uhr, bei der Heimkehr von einer sehr interessanten spiritistischen Sitzung, als mich wieder einmal jene angeborene Schwermut befiel, gegen die ich mich mit aller Kraft meines Geistes umsonst wehrte. Vergebens hatte ich auf ärztliche Anordnung Eisen in allen Formen eingenommen, alle Vergnügungen mit Füßen getreten und das Quecksilber meiner Passionen zur Temperatur der Samojeden herabgedrückt. Nichts half. Ich bin, scheint es, nun einmal ein schweigsamer und grämlicher Geselle. An jenem Abend also, als ich heimgekehrt war und mir vor dem Spiegel eine Zigarre ansteckte, merkte ich, daß ich totenbleich war. Ich ließ mich in ein weites Fauteuil nieder, ein altes Möbel, worin mir der Flug der Stunden bei meinen langen Träumereien minder drückend erscheint. Der Schwermutsanfall steigerte sich trotzdem bis zu tiefem Mißbehagen, ja bis zur völligen Mutlosigkeit. Keine weltliche Zerstreuung schien mir imstande, diese Schatten zu verscheuchen, besonders in dem schauderhaften Getriebe von Paris nicht, und so entschloß ich mich denn, die Hauptstadt versuchsweise zu verlassen und etwas Natur zu genießen, ein paar herzhafte Jagdpartien zu machen und dergleichen körperliche Anstrengungen mehr, um mich abzulenken.

Kaum hatte ich diesen Gedanken gefaßt, als mir – im nämlichen Augenblick – der Name eines seit Jahren vergessenen alten Freundes durch den Geist fuhr. Der Abbé Maucombe, sagte ich halblaut.

Das letztemal, als ich ihn gesehen, war im Augenblick seiner Abreise zu einer langen Pilgerfahrt nach Palästina. Auch hatte ich von seiner Rückkehr vernommen. Er hauste in der schlichten Priesterwohnung eines Dörfchens in der unteren Bretagne.

Er mußte irgendein Zimmer, einen Unterschlupf zur Verfügung haben. Gewiß hatte er während seiner Reisen ein paar Raritäten gesammelt, alte Bücher, Gegenstände vom Libanon. Die Seen in der Nachbarschaft der alten Schlösser hatten gewiß wilde Enten ... Was kam mir gelegener? Und wollte ich die letzten Oktoberwochen vor dem Winterfrost noch in jenen roten Felsschluchten verbringen und die langen Herbstabende über den bewaldeten Höhen glänzen sehen, so mußte ich mich sputen.

Die Stutzuhr schlug neun.

Ich stand auf. Als Mann des Entschlusses griff ich zum Hut, zog Reisemantel und Handschuhe an, nahm Flinte und Handkoffer, blies die Lichter aus und schloß das Geheimschloß meiner Tür – meinen Stolz – mit boshafter Freude dreimal um.

Dreiviertel Stunden später saß ich im Zuge nach der Bretagne; auf der Bahn hatte ich noch Zeit gefunden, meinem Vater ein paar Zeilen in Bleistift zu senden, daß ich abreiste.

Am nächsten Morgen war ich in R..., von wo man nur noch zwei Stunden bis Saint-Maur, dem Dorfe des Abbé Maucombe, hat. Den Tag über machte ich Besuche in der Stadt bei mehreren alten Schulfreunden, und um fünf Uhr nachmittags ließ ich in der »Goldenen Sonne«, wo ich abgestiegen war, satteln. Gegen Sonnenuntergang erreichte ich das Dorf. Die Leute, die mir den Weg zu der Priesterwohnung zeigten, schienen sehr an ihrem Abbé zu hängen. Endlich langte ich an.

Der ländliche Anblick des Häuschens, die grünen Fensterkreuze und Läden, die drei Sandsteinstufen, das Efeu- und Klematisgerank und die Teerosen, die bis zum Dache hinaufkletterten, der rauchende Schlot mit der Wetterfahne – alles verkündet mir Ruhe, Gesundheit und tiefen Frieden. Über den Gartenzaun hingen die rostroten Blätter eines anstoßenden Obstgartens. Die beiden Fenster des oberen Stockwerkes leuchteten in der Glut der Abendröte, dazwischen befand sich eine Nische mit dem Heilandsbilde. Ich saß still ab, band das Pferd an den Fensterladen und erhob den Klopfer, während ich mich noch einmal nach dem Horizont umdrehte.

Der Himmel glühte hinter den fernen Eichen- und Fichtenwäldern, über denen die letzten Vögel schwebten; das Abendrot spiegelte sich feierlich in einem schilfbedeckten Teich. Die Natur war so schön, die Lüfte so ruhig, und auf die verlassenen Felder senkte sich das Schweigen herab. Ich blieb stumm stehen, den Klopfer in der Hand.

O du, sagte ich zu mir, du hast kein Asyl deiner Träume. Dir erscheint kein gelobtes Land mit Palmen und frischen Wassern im Morgenschein, wenn du lange unter den kalten Sternen gepilgert bist. Du warst fröhlich beim Aufbruch, aber jetzt bist du düster, Herz, das für andre Einsamkeiten gemacht ist als die, deren Bitternis du mit schlechten Genossen teilst! Doch schau: hier kann man niedersitzen auf dem Stein der Schwermut! Hier stehen die toten Träume wieder auf und greifen dem Tode vor! Wenn du den wahren Wunsch zum Tode hegst – tritt näher! Hier verzückt dich der Anblick des Himmels bis zum Selbstvergessen!

Ich war in jenen Zustand der Abspannung geraten, wo die gereizten Nerven bei den geringsten Eindrücken mitschwingen. Ein Blatt fiel neben mir zu Boden; ein leiser Fall ließ mich aufschaudern. Und der magische Horizont erfüllte meine Augen. Ich setzte mich einsam auf die Schwelle nieder.

Ein paar Augenblicke später, da es kälter wurde, wachte ich zur Wirklichkeit auf. Ich erhob mich schnell und griff wieder zum Klopfer, indem ich das lachende Häuschen ansah.

Doch kaum hatte ich ihm den zerstreuten Blick zugekehrt, als ich stutzte. Ich fragte mich, ob ich nicht zum Opfer eines Trugbildes geworden. War das das Häuschen, das ich eben gesehen hatte? Und wie kam es, daß ich jetzt erst die langen Risse zwischen den vergilbten Blättern gewahrte? Dies Haus sah seltsam aus. Die Fensterscheiben loderten in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne; die gastliche Tür lud mich mit ihren drei Stufen ein, aber als ich näher zusah, waren sie geglättet, und verwischte Schriftspuren waren darin, als kämen sie von dem nahen Kirchhof, dessen Kreuze ich jetzt seitwärts auf hundert Schritt erblickte. Und das Haus schien mir jetzt so verändert, daß es einem grauen konnte, und als ich in meiner Bestürzung den schweren Klopfer fallen ließ, hallte der Schlag unheimlich im Innern wie Totengeläut.

Derartige Gesichte, die mehr geistig als körperlich sind, verschwinden rasch. Ja, ich war ganz ohne Zweifel das Opfer einer geistigen Abspannung geworden. Es drängte mich, ein menschliches Antlitz zu sehen, das mir diese Erinnerung verscheuchen half, und ich schob den Riegel auf, ohne weiter zu warten.

Ich trat ein. Die Tür, die mit einem Uhrgewicht beschwert war, schloß sich geräuschlos hinter mir. Ich befand mich in einem langen Gang, an dessen Ende Nanon, die alte Haushälterin, die Treppe herabkam, mit einem Licht in der Hand.

»Herr Xavier!« rief sie freudig aus, als sie mich erkannte.

»Guten Abend, meine gute Nanon!« antwortete ich, indem ich ihr hastig Flinte und Handtasche anvertraute. Meinen Reisemantel hatte ich in der »Goldenen Sonne« vergessen.

Ich stieg die Treppe hinauf. Eine Minute später umarmte ich meinen alten Freund.

Die Bewegung der ersten Worte und die Wehmut der Vergangenheit bedrückten uns beide eine Weile. Nanon brachte die Lampe und meldete, daß angerichtet sei.

»Mein lieber Maucombe,« sagte ich zu ihm, als wir Arm in Arm die Treppe hinuntergingen, »die Geistesfreundschaft ist doch ein ewiges Ding, und ich sehe, wir teilen beide dies Gefühl.«

»Es gibt christliche Geister von sehr naher himmlischer Verwandtschaft,« antwortete er mir. »Ja, die Welt hat manch anderen minder vernünftigen Glauben, für den sich Anhänger finden und mit Glück, Blut und Pflichtgefühl eintreten. Das sind Fanatiker!« schloß er lächelnd.

Wir traten ins Eßzimmer. Während der Mahlzeit machte er mir zarte Vorwürfe, daß ich ihn solange vergessen hätte, und erzählte mir, wie es in seinem Dorfe jetzt zuginge. Nach dem Kaffee drehte ich mir eine Zigarette und blickte meinen Wirt aufmerksam an.

Er mochte fünfundvierzig Jahre zählen. Lange, graue Haare umrahmten sein kräftiges, mageres Antlitz. Seine Augen leuchteten von mystischem Verstande. Die Züge waren streng und regelmäßig, die Gestalt, hoch und schlank, schien den Jahren zu trotzen. Seine Worte waren klug und sanft und der Klang seiner Stimme voll; sie mußte aus kräftigen Lungen kommen. Kurz, er schien mir von fester Gesundheit.

Nach der Mahlzeit gingen wir in sein kleines Arbeitszimmer hinauf.

Der Mangel an Schlaf auf der Reise macht frostig. Der Abend war empfindlich kalt, fast wie im Winter, und so fühlte ich mich erst behaglich, als ein Armvoll Rebenholz vor meinen Knien prasselte. Die Füße auf die Feuerböcke gestemmt und die Ellenbogen auf die Armlehnen der gebräunten Ledersessel gestützt, unterhielten wir uns, natürlich von Gott. Ich war müde und hörte stumm zu. Er schloß seine Worte mit einem Zitat von Josef de Maistre: »Zwischen den Menschen und Gott steht nur der Hochmut.«

Wir nahmen unsere Lichter zur Hand und gingen zu Bette. Ein langer Korridor, ganz wie im unteren Stock, trennte mein Zimmer von dem meines Wirtes. Er wollte mich durchaus zur Ruhe geleiten, sah nach, ob mir nichts fehlte, und als wir uns die Hände gaben und Gutenacht sagten, fiel der helle Schein meines Lichtes auf sein Antlitz. Ich erbebte.

Stand da ein Sterbender vor meinem Bett? Das Gesicht, das ich sah, war nicht das gleiche wie beim Abendessen, nein, es konnte nicht sein! Oder doch, wenn ich es unbestimmt wiedererkannte, so dünkte es mich, als ob ich es erst in diesem Augenblick wirklich sähe. Der Abbé machte mir jetzt den gleichen Eindruck, den mir durch eine dunkle Vision sein Häuschen gemacht hatte.

Der Kopf, den ich sah, war ernst und bleich, totenbleich, und die Lider geschlossen. Hatte er mich vergessen? Betete er? Was tat er nur so? Seine Erscheinung war plötzlich so feierlich geworden, daß ich die Augen schloß. Als ich sie nach einem Augenblick wieder aufschlug, stand der gute Abbé immer noch da, aber nun erkannte ich ihn wieder! Gottlob, sein freundliches Lächeln verscheuchte alle Unruhe in mir. Der Abbé war fort, ehe ich Zeit zu einer Frage hatte. Es war ein plötzlicher Traumzustand gewesen, eine Halluzination ...

Maucombe wünschte mir zum zweitenmal gute Nacht und ging.

Ein guter Schlaf, dachte ich, das ist alles, was mir nottut.

Unvermittelt dachte ich an den Tod. Ich erhob meine Seele zu Gott und legte mich zur Ruhe. Bei Übermüdung schläft man nicht gleich ein; alle Jäger wissen das. Trotzdem hoffte ich schnell einzuschlafen. Nach zehn Minuten wurde ich gewahr, daß die nervöse Spannung nicht nachließ. Ich hörte das Holz und die Wände knacken. Ich vernahm leises Ticken. Jedenfalls von Totenwürmern. Jedes kaum merkliche Nachtgeräusch durchfuhr mich wie ein elektrischer Schlag.

Draußen im Garten stießen die schwarzen Äste im Wind aneinander. Alle Augenblicke klopfte ein Efeuzweig an mein Fenster. Mein Gehörsinn war überreizt wie bei Verhungernden.

Ich habe zwei Tassen Kaffee getrunken, sagte ich mir, daran liegt es.

Ich stützte mich auf das Kopfkissen und starrte beharrlich in das Licht neben meinem Bett, mit jener gespannten Aufmerksamkeit, die der Blick beim völligen Fehlen jedes Gedankens hat.

Ein kleines Weihwasserbecken von buntem Porzellan mit einem Buchsbaumzweige darin hing neben dem Kopfende des Bettes. Ich netzte meine Lider mit dem geweihten Wasser, um sie zu kühlen; dann löschte ich das Licht aus und schlief ein. Das Fieber ließ nach, und der Schlaf stellte sich ein.

Plötzlich klopfte es dreimal kurz und gebieterisch an die Tür.

»Ja!« rief ich emporfahrend.

Jetzt erst merkte ich, daß ich schon geschlafen hatte. Ich wußte nicht, wo ich war. Ich wähnte mich in Paris. Darüber vergaß ich auch den Hauptgrund meines Erwachens; ich dehnte mich behaglich im Bette und dachte an nichts.

Doch halt, sagte ich mir plötzlich. Hat es nicht geklopft? Wer kann mich wohl jetzt noch besuchen? ...

Jetzt erst ward ich mir dunkel bewußt, daß ich nicht in Paris, sondern in der Priesterwohnung des Abbé Maucombe in der Bretagne war.

Im Nu war ich aus dem Bett und mitten im Zimmer.

Mein erster Eindruck war – neben der Kälte an den Füßen – der einer großen Helligkeit. Der Vollmond stand dem Fenster gegenüber über der Kirche und warf durch die weißen Vorhänge ein bleiches Dreieck auf den Fußboden.

Es mußte Mitternacht sein.

Meine Gedanken waren wirr. Was war denn nur? Der Schatten war so seltsam.

Als ich mich der Tür näherte, fiel ein feuriger Fleck durch das Schlüsselloch und tanzte über meine Hand und meinen Ärmel. Es war jemand hinter der Tür: es hatte also wirklich geklopft.

Etwas machte mich stutzig, so daß ich dicht vor der Tür stehen blieb. Der Lichtfleck auf meiner Hand war eisig, blutig und leuchtete nicht. Dabei sah ich im Türspalt kein Licht auf dem Korridor. Es war wie der phosphoreszierende Blick einer Eule durch das Schlüsselloch.

In diesem Moment schlug draußen die Kirchuhr im Nachtwind.

»Wer ist da?« fragte ich leise.

Der Schimmer erlosch; ich wollte näher treten ... Da ging die Tür langsam und lautlos auf, ganz weit ...

Vor mir stand auf dem Gange eine hohe, schwarze Gestalt, ein Priester, den Dreispitz auf dem Haupte. Der Mond beschien ihn ganz, außer dem Antlitz. Ich sah nur das Leuchten seiner beiden Augen, die mich feierlich und starr anblickten.

Der Hauch des Jenseits umgab diesen Besucher und legte sich schwer auf meine Seele. Der Schrecken lähmte mich und steigerte sich im Nu bis zum Angstdelirium; ich blickte die furchtbare Erscheinung sprachlos an.

Plötzlich erhob der Priester langsam den Arm und bot mir einen schweren, unbestimmten Gegenstand an. Es war ein Mantel. Ein großer, schwarzer Regenmantel. Er hielt ihn mir hin, als wollte er ihn mir umhängen! ...

Ich schloß die Augen, um das nicht zu sehen. Aber ein Nachtvogel flog mit furchtbarem Schrei zwischen uns vorbei und der Wind seiner Flügel berührte meine Lider. Ich schlug die Augen auf und fühlte, daß er durchs Zimmer schwirrte.

Vor Angst röchelnd, denn ich hatte nicht mehr die Kraft zu schreien, streckte ich die beiden geballten Fäuste vor, stieß die Tür zu und drehte den Schlüssel wild um. Die Haare standen mir zu Berge.

Seltsam: das alles schien kein Geräusch zu machen. Es war mehr, als der Mensch ertragen kann.

Ich erwachte. Ich fand mich im Bett sitzend, die Hände ausgestreckt, eiskalt, die Stirn schweißgebadet, während das Herz mit dumpfen Schlägen gegen den Brustkasten hämmerte.

O, welch furchtbarer Traum, sagte ich zu mir.

Trotzdem wollte die grauenhafte Beklemmung nicht weichen. Es dauerte über eine Minute, bis ich es wagte, nach Streichhölzern zu greifen. Ich fürchtete, im Dunkeln einer kalten Hand zu begegnen, die die meine freundschaftlich drückte.

Selbst das Knistern der Hölzchen in dem eisernen Leuchter ließ mich zusammenzucken. Ich zündete das Licht wieder an – und sofort fühlte ich mich wohler.

Ich beschloß, ein Glas kaltes Wasser zu trinken, um mich ganz zu beruhigen, und stand zu diesem Zweck auf. Als ich am Fenster vorbeikam, bemerkte ich, daß der Mond genau so stand wie in meinem Traume, trotzdem hatte ich ihn vor dem Einschlafen nicht gesehen. Und als ich mit dem Licht in der Hand das Türschloß untersuchte, fand es sich, daß es von innen zugeschlossen war; auch dies hatte ich vor dem Zubettgehen nicht getan.

Bei diesen Entdeckungen warf ich einen Blick um mich. Ich begann die Sache recht ungewöhnlich zu finden. Ich legte mich wieder hin, stützte den Arm aufs Kissen, suchte mir Vernunft einzureden, mir zu beweisen, daß dies alles nur ein Anfall von besonders hellsichtigem Somnambulismus sei. Aber statt ruhiger, ward ich dadurch nur aufgeregter. Schließlich übermannte mich die Müdigkeit und wiegte meine schwarzen Gedanken in tiefen Schlaf.

Als ich erwachte, schien die helle Sonne in mein Zimmer.

Es war ein schöner Tag. Meine Uhr, die am Kopfende hing, stand auf zehn. Ich stand hastig auf und dachte gar nicht mehr an den schlechten Anfang der Nacht. Das frische Wasser belebte mich vollends, und ich ging hinunter.

Der Abbé war im Eßzimmer; er saß vor seinem Frühstücksteller und wartete auf mich, während er die Zeitung las. Wir drückten uns die Hand.

»Gut geschlafen, lieber Xavier?« fragte er mich.

»Ausgezeichnet,« erwiderte ich zerstreut nach alter Gewohnheit.

Nanon kam und brachte uns das Frühstück.

Während der Mahlzeit führten wir eine gesetzte und doch fröhliche Unterhaltung. Wer heilig lebt, der allein kennt die Freude und weiß sie mitzuteilen.

Plötzlich fiel mir mein Traum wieder ein.

»Übrigens,« rief ich aus, »mein lieber Abbé, fällt mir ein, daß ich diese Nacht einen sonderbaren Traum hatte ... wie soll ich sagen ... aufregend, erstaunlich, schrecklich? Urteilen Sie selbst.«

Und während ich einen Apfel schälte, begann ich die finstere Halluzination meines ersten Schlummers mit allen Einzelheiten zu erzählen. In dem Augenblick, wo ich von der Gebärde des Priesters sprechen wollte, wie er mir den Mantel anbot, ging die Tür auf, noch ehe ich den Satz begonnen. Es war Nanon, die mit der Vertraulichkeit einer echten Pfarrersköchin mitten in die Unterhaltung hereinplatzte und mir einen Brief hinhielt.

»Hier ist ein Eilbrief,« sagte sie, mich unterbrechend. »Der Bote hat ihn eben gebracht.«

»Ein Brief, schon!« rief ich aus, meine Geschichte vergessend. »Von meinem Vater. Was gibt es denn? Verzeihen Sie mir, lieber Abbé, wenn ich lese.«

»Gewiß, gewiß,« begütigte dieser, die Geschichte gleichfalls vergessend und an dem Briefe unwillkürlich Anteil nehmend.

Ich erbrach ihn.

»Das ist aber recht ärgerlich, verehrter Wirt,« sagte ich. »Kaum angekommen, muß ich Sie wieder verlassen.«

»Wie?« fragte der Abbé, seine Tasse absetzend.

»Man schreibt mir, ich solle gleich zurückkommen. Es handelt sich um einen Prozeß von größter Wichtigkeit. Ich dachte, es würde erst im Dezember zur Verhandlung kommen, – und nun erfahre ich, daß der Termin in diesen vierzehn Tagen stattfindet, und da ich allein die letzten Schritte tun kann, durch die wir obsiegen, muß ich fort! ... Das ist recht verdrießlich.«

»Wirklich, es ist ärgerlich!« bestätigte der Abbé. »Aber wenigstens versprechen Sie mir, sobald die Geschichte fertig ist ... Die Hauptsache ist das Heil der Seele, ich hoffte, etwas für die Ihre tun zu können – und nun entfliehen Sie! Ich dachte schon, Gott hätte Sie hergesandt ...«

»Mein lieber Abbé,« rief ich aus, »ich lasse Ihnen meine Flinte hier. In drei Wochen spätestens bin ich wieder bei Ihnen, und dann für einige Wochen, wenn es Ihnen recht ist.«

»So gehen Sie in Frieden,« sagte Maucombe.

Den ganzen Tag über zeigte mir der Abbé wohlgefällig seinen bescheidenen ländlichen Besitz. Während er sein Brevier las, streifte ich einsam in der Umgegend umher und atmete die frische Luft mit Wohlgefallen ein. Nachher erzählte er mir von seiner Reise nach Palästina. So kam der Abend heran. Nach einer frugalen Mahlzeit sagte ich zum Abbé:

»Mein Freund, der Schnellzug geht um 9 Uhr. von hier bis R... sind eineinhalb Stunden Wegs. Eine halbe Stunde geht darauf, das Pferd in der Herberge abzugeben und die Rechnung zu begleichen. Es ist sieben. Ich muß Sie jetzt verlassen.«

»Ich werde Sie ein Stückchen begleiten,« sagte der Priester. »Dieser Spaziergang wird mir gut tun.«

»Übrigens ist hier meines Vaters Adresse,« sagte ich zerstreut, »für den Fall, daß Sie mir schreiben wollen.« Nanon nahm die Karte und steckte sie hinter den Spiegel.

Drei Minuten danach verließen wir, der Abbé und ich, die Priesterwohnung und schlugen die Landstraße ein. Ich führte mein Pferd am Zügel. Kaum waren wir fort, so begann ein feiner, kalter Regen, von einem abscheulichen Winde begleitet, uns auf Gesicht und Hände zu schlagen. Ich blieb stehen.

»Nein, alter Freund,« sagte ich, »das werde ich ganz gewiß nicht dulden. Ihr Leben ist kostbar und diese eisige Dusche ist sehr ungesund. Kehren Sie um. Dieser Regen könnte Sie gefährlich durchnässen. Nochmals, ich bitte Sie, kehren Sie um.«

Nach kurzem Zögern gab der Abbé, in Gedanken an seine Gemeinde, meinen Gründen nach.

»Ich nehme ein Versprechen mit, mein Freund?« sagte er.

Und als ich ihm die Hand reichte:

»Einen Augenblick! Ich denke, Sie haben einen weiten Weg vor sich – und dieser feine Regen dringt wirklich durch.«

Er schauderte zusammen. In diesem Augenblick erhob sich der Mond über den Fichtenhöhen und umflutete uns mit seinem trüben, bleichen Schein. Unsere und des Pferdes Schattenbilder malten sich gigantisch auf dem Wege. Und von den alten Steinkreuzen her, die drunten in der Bretagne unter hohen Bäumen ragen, hörte ich in der Ferne einen schrillen Schrei: es war der rauhe und beunruhigende Fistelton des Käuzchens. Eine Eule mit phosphorglänzenden Augen, deren Schein auf dem großen Ast einer Steineiche zuckte, schwirrte zwischen uns vorbei und setzte diesen Schrei fort. –

»Vorwärts,« beharrte der Abbé, »ich bin in einer Minute wieder zu Hause. Also nehmen Sie, nehmen Sie diesen Mantel. Ich hänge sehr daran!« setzte er mit einem Tone hinzu, den ich nie vergessen werde. »Sie können ihn mir mit dem Herbergsdiener zurückschicken; er kommt alle Tage ins Dorf ... Ich bitte Sie darum.«

Während der Abbé so sprach, hielt er mir den Mantel hin. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, sein breiter Dreispitz verschattete es ganz; aber ich sah seine Augen, die mich feierlich und starr ansahen.

Er warf mir den Mantel um die Schultern und befestigte ihn besorgt und zärtlich, während ich, aller Kraft beraubt, die Augen schloß. Und mein Schweigen benutzend, kehrte er rasch heim. Ich sah ihn an der Straßenbiegung verschwinden.

Mechanisch saß ich auf. Dann blieb ich regungslos sitzen. Jetzt war ich allein auf der Landstraße. Ich hörte die tausend Geräusche der Nacht. Als ich aufblickte, sah ich am fahlen Himmel riesige trübe Wolken ziehen und den Mond bedecken. Ich hielt mich aufrecht, obwohl ich weiß wie ein Tischtuch sein mußte.

Nur Ruhe, sagte ich zu mir. Ich fiebere, und ich bin somnambul. Das ist alles.

Eine geheime Last drückte mir auf die Schultern; umsonst suchte ich sie zu erheben. Und siehe, aus der Tiefe des Horizonts, vom Kirchhof her, strich ein Schwarm Seeadler mit lautem Flügelrauschen und furchtbaren, unbekannten Lauten über meinem Kopf weg. Sie ließen sich in der Ferne auf dem Kirchturm und dem Dache der Priesterwohnung nieder, und der Wind wehte mir ihr schrilles Geschrei zu. Meiner Treu, ich hatte Angst. Warum? Wer wird das jemals ergründen. Ich habe im Feuer gestanden und Degen mit Degen gekreuzt, meine Nerven sind vielleicht fester als die der blutärmsten Phlegmatiker. Trotzdem gestehe ich ganz einfach ein, ich hatte damals Angst. Ich habe es mir sogar zur Ehre angerechnet. Möge jeder, der es kann, bei solchen Dingen furchtlos bleiben.

Ich bearbeitete also schweigend die Flanken meines armen Pferdes, schloß die Augen, krampfte die Faust in die Mähnenhaare und gab dem Tier die Zügel hin. Mein Mantel stand senkrecht hinter mir ab; ich fühlte, daß mein Pferd wild dahin galoppierte. Von Zeit zu Zeit muß mein dumpfes Gemurmel ihm den abergläubischen Schauder mitgeteilt haben, der mich wider Willen schüttelte. So kamen wir in weniger als einer halben Stunde nach R... Als der Hufschlag auf dem Vorstadtpflaster schallte, hob ich den Kopf und atmete auf. Endlich sah ich Häuser. Erleuchtete Läden. Menschliche Gestalten hinter den Scheiben. Ich sah Menschen vorbeigehen. Das Land der Alpträume lag hinter mir! –

In der Herberge setzte ich mich ans Feuer. Die Unterhaltung mit den Fuhrknechten setzte mich in Extase. Ich war wie von den Toten auferstanden. Ich goß ein Glas Rum hinunter und kam schließlich wieder in Besitz meiner Geisteskräfte. Ich fühlte mich dem Leben zurückgegeben. Etwas schämte ich mich sogar meiner Panik.

Wie ruhig fühlte ich mich nun, als ich den Auftrag des Abbé Maucombe ausrichtete. Mit welchem weltmännischem Lächeln betrachtete ich den schwarzen Mantel, als ich ihn dem Hotelwirt aushändigte! Die Halluzinationen waren zerstoben. Der Mantel schien nichts Besonderes an sich zu haben, als daß er sehr alt und mit einer Art bizarrer Zärtlichkeit ausgeflickt war. Gewiß gab der Abbé das Geld für einen neuen Mantel lieber zu Almosen hin – so wenigstens erklärte ich mir die Sache.

»Das trifft sich gut,« sagte der Wirt. »Der Hausknecht muß gerade nach dem Dorfe hin; er wird den Mantel noch vor zehn Uhr beim Abbé Maucombe abgeben.«

Eine Stunde später saß ich im Zuge, die Füße auf der Wärmflasche, in meinen wiedererlangten Reisemantel gehüllt, und zündete mir eine gute Zigarre an. Ich bedauerte ein wenig, daß ich versprochen hatte, wiederzukommen.

Ich mußte mich einige Tage in Chartres aufhalten, um die Schriftstücke zusammenzubringen, durch die wir den Prozeß später gewannen. Ganz voll von dem Gedanken an Akten und Schikanen, kehrte ich am siebenten Tage nach meiner Abreise von Saint-Maur nach Paris zurück.

Ich ging sofort nach Hause, es war gegen neun Uhr. Ich fand meinen Vater im Wohnzimmer. Er saß bei einer Lampe und hielt einen offenen Brief in der Hand.

»Gewiß,« sagte er nach einigen Worten, »weißt du nicht, welche Nachricht mir dieser Brief bringt! Der gute alte Abbé Maucombe ist seit deiner Abreise gestorben.«

Ich schrak bei diesen Worten zusammen, »Was?« stieß ich hervor.

»Jawohl, gestorben, vorgestern um Mitternacht. Er hatte sich auf der Landstraße erkältet. Der Brief ist von der alten Nanon. Die Ärmste scheint gänzlich den Kopf verloren zu haben. Sie wiederholt zweimal eine seltsame Nachricht ... über einen Mantel ... hier lies es selbst ...«

Damit reichte er mir die Todesnachricht hin, und ich las die einfachen Worte:

»Er wäre glücklich, sagte er noch zuletzt, daß er in diesem Mantel stürbe und begraben würde, den er von seiner Pilgerfahrt nach Palästina heimgebracht und der das Grab gestreift hätte.«


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