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Das Wunder

Etwa einen Kilometer von Avignon erhob sich im Jahre 1860 die Rhône aufwärts in der Nähe der grünen Ufer eine einsame, schmutzig aussehende Baracke, nur ein Stockwerk hoch, deren einziges Fenster eisenbeschlagene Läden hatte. Sie lag in Sicht einer schützenden Gendarmeriekaserne, die am Ende der Vorstadt an der Straße stand.

Dort lebte seit langen Jahren ein alter Jude, Vater Moses genannt. Es war kein boshafter Jude, trotz seines erloschenen Augenlichtes und seiner kahlen Seeadlerstirn, die eine eng anliegende Mütze von unbestimmtem Stoff und ungewisser Farbe umrahmte. Im übrigen war er noch frisch und rege und hätte mit Ahasver bei etlichen Gewaltmärschen wohl Schritt gehalten. Doch ging er nie aus und empfing nur mit unendlicher Vorsicht Besuche. Nachts sicherte er sich durch ein ganzes System von Fußangeln und Wolfsgruben hinter seiner schlecht verschlossenen Tür. Er war hilfsbereit, namentlich gegen seine Glaubensgenossen, mildtätig gegen jedermann, und verfolgte nur die Reichen, denen er Geld lieh; denn er liebte es, Schätze zu sammeln. An diesem praktischen und gottesfürchtigen Manne waren die skeptischen Ideen unseres Jahrhunderts abgeprallt; sein wilder Glaube war unberührt geblieben, und Moses betete zwischen zwei Wuchergeschäften ebenso gut wie zwischen zwei Almosen. In seinem seltsamen Herzen hielt er darauf, auch die kleinsten Dienste zu vergelten. Vielleicht wäre er sogar empfänglicher gewesen für die grünende Landschaft, die sich vor seinem Fenster erstreckte, wenn er mit seinen hellgrauen Augen die Gegend durchforschte ... hätte ihm nicht ein ferner Gegenstand auf einer kleinen Bodenerhebung, der flußabwärts über die Uferwiesen hinwegragte, den Horizont verleidet. Von diesem Etwas wandte er die Blicke mit einer Art von übrigens sehr begreiflicher Verlegenheit, einer unüberwindlichen Abneigung ab.

Es war ein uralter Kalvarienberg, den die modernen Ädilen angesichts seiner archäologischen Merkwürdigkeit duldeten. Einundzwanzig Stufen führten zu dem mächtigen mittelsten Kreuz empor, das eine, durch ihr Alter fast unkenntliche gotische Christusfigur trug; zu beiden Seiten ragten die beiden kleineren Kreuze der Schächer Diphas und Gesmas.

Eines Nachts saß Vater Moses, die Füße auf einem Schemel, die Bänderbrille auf der Nase, die Mütze gegen die Lampe gekehrt, über seinen kleinen Tisch gebeugt, der mit Diamanten, Gold, Perlen und Wertpapieren bedeckt war, und schloß eine Rechnung in einem verstaubten Buche ab. Das Fenster stand offen.

Es war sehr spät geworden! Alle Kräfte seines Wesens waren so an seiner Arbeit beteiligt, daß seine Ohren gegen die eitlen Geräusche der Natur taub blieben. Und doch hatten zahlreiche ferne, verstreute und bedrohliche Rufe schon stundenlang die Finsternis und die Stille durchbohrt. Jetzt drückte die riesige grelle Mondscheibe den blauen Raum herab, und man vernahm kein Geräusch mehr.

»Drei Millionen!« rief Vater Moses, indem er die letzte Ziffer ausfüllte.

Aber die Freude des Greises, die ob des verwirklichten Traumes in seinem Herzensgrunde frohlockte, schlug jäh in einen Schauer um. Denn – es war kein Augenblick daran zu zweifeln – eine Eiseskälte umfing mit einemmal seine Füße, so daß er, den Schemel umstoßend, rasch aufsprang.

O Graus! Plätscherndes Wasser überschwemmte die Stube und umflutete seine mageren Beine. Das Haus krachte in allen Fugen. Seine Augen schweiften zum Fenster hinaus und erblickten, sich schreckhaft erweiternd, eine furchtbare Überschwemmung, die alle Niederungen und Felder bedeckte. Die Rhône war plötzlich angeschwollen und weit über ihre Ufer getreten.

»Gott Abrahams!« stammelte er.

Trotz seines tiefen Schreckens verlor er keine Sekunde. Er riß seine Kleider herunter, bis auf die geflickte Hose, zog die Schuhe aus und stopfte das kostbarste vom Tische, Diamanten und Papiere, durcheinander in ein ledernes Beutelchen, das er sich um den Hals hängte. Sein Gold, so meinte er, würde er unter den Trümmern seines Häuschens nach der Katastrophe schon wieder hervorholen. Im Nu war er durch das Zimmer, um ein Bündel schon durchnäßter Banknoten von einer alten Truhe zu retten. Dann stieg er auf das Fensterbrett, sprach dreimal das Wort Kadosch (das heißt auf Hebräisch Heiliger) und stürzte sich im Vertrauen auf seine Schwimmkunst und die Gnade seines Gottes in die Flut.

Hinter ihm versank sein Haus lautlos in den Wassern.

Weit und breit kein Nachen! – Wohin sich retten? Er schwamm auf Avignon zu, aber das Wasser vergrößerte nun die Entfernung – es war zu weit für ihn! Wo sich ausruhen und Grund finden? ... Ach, der einzige Lichtblick war drunten auf der Anhöhe ... der Kalvarienberg, dessen Stufen bereits unter dem Wogenschwall in den Strudeln der empörten Fluten verschwanden.

Dieses Bild um Zuflucht bitten? Nein, niemals!

Der alte Jude nahm es ernst mit seinem Glauben, und wiewohl die Gefahr dringend war, wiewohl die modernen Gedanken und die Kompromisse, die sie einflüstern, ihm wohl bekannt waren, so widerstand es ihm doch, etwas – wenn auch nur sein irdisches Heil – diesem ... Ding da zu danken.

Sein Schattenbild spiegelte sich in den Fluten, auf denen der Sternenschein bebte ... Es war wie bei der Sintflut. Moses schwamm aufs Geratewohl. Plötzlich schoß ihm ein finsterer, genialer Gedanke durch den Kopf.

Ich vergaß, sprach er prustend zu sich, während das Wasser ihm von den beiden Bartspitzen troff, ich vergaß, daß da auch der arme »böse Schächer« hängt! ... Meiner Treu, ich finde nichts dabei, mich zu dem trefflichen Gesmas zu retten und zu warten, bis man mich erlöst.«

Alle Bedenken waren gewichen. Er schwamm mit energischen Stößen durch die brandenden Wogen im schönsten Mondenschein nach den drei Kreuzen. Noch eine Viertelstunde, und sie ragten auf hundert Meter Entfernung riesenhaft auf vor seinen halb erfrorenen und erstarrten Gliedern. Sie standen jetzt ohne sichtbare Stütze auf der weiten Wasserfläche.

Als er sich schnaufend umschaute nach dem linken Kreuze, zu dem er hinstrebte, siehe da krachten die beiden Seitenkreuze, die schwächer waren als das mittelste, unter dem Andrang des Flusses; das wurmstichige Holz gab nach und in einer Art von Erschrecken, einem schwarzen Gruße, sanken beide lautlos zurück in den Wogenschaum.

Moses konnte nicht mehr weiter; verstört von diesem Anblick, wäre er fast untergegangen und spie zweimal das Wasser von sich.

Jetzt hob sich allein noch das große Kreuz, spes unica, vom geheimnisvollen Hintergrunde des Nachthimmels ab und hielt den bleichen Heiland mit seiner Dornenkrone, den nägeldurchbohrten, ausgespannten Gliedern und den gebrochenen Augen in das Dunkel empor.

Der Greis rang nach Atem und seine Kräfte begannen zu schwinden. Von dem einzigen Instinkt des Ertrinkenden beseelt, schwamm er auf das heilige Bild zu. Die Bergung seiner Schätze verdreifachte seine letzten Kräfte und rechtfertigte ihn in seinen Augen, die der Todeskampf zu trüben begann. Am Fuße des Kreuzes angelangt, fügte er sich widerwillig – das sei zu seiner Ehre gesagt – ins Unvermeidliche. Den Kopf möglichst weit zurückgebogen, erfaßte und umklammerte er den Baum des Abgrunds, der mit seinem Fuße alle menschliche Vernunft zunichte macht und die Unendlichkeit in vier unvermeidliche Straßen teilt.

Der arme Reiche gewann Grund; das Wasser stieg und hob ihn halb empor; ringsum lag der sintflutartige Wasserspiegel stumm und still ... Doch nein, dort ein Segel, ein Nachen!

Er rief. Das Boot drehte bei: man hatte ihn bemerkt.

Im selben Augenblick hob ihn der Flutschwall, irgendeine Stauwelle, die sich im Finstern brach, bis zur Seitenwunde empor. Der Ruck war so heftig und so furchtbar, daß er kaum die Zeit hatte, das Bildnis des Erlösers, Leib an Leib und Antlitz an Antlitz, zu umklammern und sich daran zu hängen, den Kopf zurückgebogen und die durchdringenden, schiefen Blicke halb unter den buschigen Brauen versteckt. So umschlang der alte Jude den Gott der Vergebung und blickte seinen »Erretter« schief an.

»Halt fest! Wir kommen!« riefen ein paar Stimmen schon ganz deutlich.

»Endlich!« murmelte Vater Moses, dessen Muskeln bereits erschlafften. »Aber hier ... hat mir wer einen Dienst erwiesen ... den ich nicht erwartete. Ich will keinem was schuldig sein, es ist recht und billig, daß ich's vergelte ... wie ich es einem Lebenden vergelten würde. Geben wir ihm drum, was ich ... einem Menschen gäbe.«

Und während das Boot näher kam, wühlte Moses in seinem angeborenen Eifer, alles zu tun, um ja keinem etwas schuldig zu bleiben, in seiner Tasche und zog ein Goldstück heraus – das er ernst und so gut er konnte, zwischen die beiden über dem Nagel gekrümmten Finger der rechten Hand steckte.

»Quitt!« murmelte er und ließ sich fast ohnmächtig in die Arme der Schiffer fallen.

Die sehr berechtigte Furcht, seine Wertsachen zu verlieren, hielt ihn bis Avignon aufrecht. Das gewärmte Bett einer Herberge brachte ihn wieder zu Kräften. In dieser Stadt ließ er sich einen Monat später nieder, nachdem er sein Gold unter den Trümmern seiner alten Wohnung wiedergefunden. Dort starb er schließlich in seinem hundertsten Jahre.

* * *

Im Dezember des Jahres, das diesem ungewohnten Ereignis folgte, geschah es, daß ein junges Mädchen des Landes, eine blutarme Waise namens Euphrasia, den reichen Spießbürgern der Vaucluse durch seine Schönheit auffiel. Durch ihre unerklärlichen Abweisungen verwundert, beschlossen sie, sie in ihrem eigensten Interesse durch Hunger zu fassen. Das Mädchen ward also auf ihre Veranlassung entlassen und verlor seine Arbeit, durch die es sich den Lebensunterhalt und gute Laune verdiente und bei einem Franken Lohn nur elf Stunden am Tage zu arbeiten hatte. (Die Fabrik gehörte einer der achtbarsten Familien der Stadt.) Gleichzeitig ward Euphrasia aus dem Quartier weggejagt, wo sie Gott morgens und abends gedankt hatte; denn man muß gerecht sein: der Wirt, der Kinder zu versorgen hatte, durfte und konnte nicht ernstlich Gefahr laufen, die schönen sechs Franken pro Monat zu verlieren, die ihr Schlupfwinkel ihm einbrachte. »So anständig sie sein mag,« sagte er, »man bezahlt seine Steuern nicht mit dem Herzen. Überdies,« setzte er augenzwinkernd hinzu, »gereicht es ihr vielleicht noch zum besten, wenn ich hart gegen sie bin.« Kurzum, an einem Winterabend, wo der Klang der Abendglocken im rauhen Wind verwehte, wanderte das unglückliche Kind zitternd auf der verschneiten Straße, und da es nicht wußte, wohin, lenkte es seine Schritte nach dem Kalvarienberg.

Dort sank die Ärmste, von den Engeln getrieben, die ihre Schritte auf den weißen Stufen stützten, am Fuße des Kreuzes nieder und murmelte die kindlichen Worte: »Lieber Gott, hilf mir mit einem kleinen Almosen, oder ich sterbe hier.«

Und siehe, das Erstaunliche geschah: aus der Rechten des Heilands, zu dessen Gestalt sich die Augen der Flehenden erhoben, fiel auf ihren Rock eine Goldmünze – und dieser Fall, samt dem holden und für ewig blendenden Gefühl eines Wunders, belebte sie wieder. Gewiß auch fiel gleichzeitig etwas Göttliches in die jungfräuliche Seele dieser Auserwählten und bestärkte ihren Mut. Sie nahm das Goldstück, ohne sich baß zu verwundern, stand auf, küßte lächelnd die heiligen Füße – und entwich nach der Stadt. Nachdem sie dem verständigen Herbergswirt die sechs fraglichen Franken erstattet, harrte sie auf ihrem eisigen Schlafboden des Tages und aß nächtlicherweile ihr trocken Brot, Begeisterung im Herzen, den Himmel in den Augen und Einfalt in der Seele. Schon am nächstfolgenden Tage begann sie, von lebendiger Kraft und Klarheit durchdrungen, ihr heiliges Werk, trotz aller Weigerungen, aller verschlossenen Türen und boshaften Worte, aller Drohungen und alles Lächelns.

Und ihr Werk des Lichtes – ein Orden von Schwestern der Armenpflege – ward Wirklichkeit.

Heute ist die junge Selige zu ihrer Wirklichkeit entflogen, als Siegerin über die höhnenden Unflätigkeiten der Welt, strahlend von dem »Wunder«, das ihr Glaube schuf, und eins mit ihm, der allen Dingen erlaubt, zu erscheinen.

Sie hätte sich nicht gewundert, wenn sie das physische Geheimnis ihrer plötzlichen Berufung erfahren hätte; ihre hellsichtige Demut wäre dadurch nicht einen Augenblick getrübt worden – warum also jetzt noch die irdische Lösung des »Wunders« verschweigen, das sie für immerdar blenden sollte?


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