Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Bote des Leonidas

Das Haupttor Spartas stand nach dem Taygetos offen, an die Mauer gelehnt wie ein Schild an die Brust eines Kriegers. Der kahle, staubige Berghang strahlte rötlich vom kalten Lichte eines Sonnenunterganges zur ersten Winterszeit und warf den Wällen der Stadt des Herakles das Bild einer Hekatombe entgegen, die an einem grausamen Abend geopfert wird.

Über dem Nebentore ragte die schwerfällige Mauer. Auf ihren abgestuften Zinnen stand eine rotbeschienene Menge. Das Erz der Rüstungen, die Peploi, die Kriegswagen, die Lanzenspitzen funkelten vom Blute des Gestirns. Nur die Augen dieser Menge waren finster und sandten scharfe starre Blicke gleich Wurfspießen nach dem Berggipfel, von wo sie eine große Kunde erwarteten.

Vor zwei Tagen waren die Dreihundert mit dem König aufgebrochen, blumenbekränzt waren sie zum Feste des Vaterlandes geschritten. Sie, die bald in der Unterwelt ihr Mahl halten sollten, hatten ihr Haar zum letzten Male im Tempel Lykurgs gekämmt. Dann hatten sie zu den Schilden gegriffen und mit den Schwertern darauf geschlagen – und die junge Mannschaft war unter dem Beifall der Weiber, Kampflieder des Tyrtäos singend, ins Morgenrot entschwunden. Jetzt streifte gewiß das hohe Gras des Engpasses ihre bloßen Beine, als wollte die Erde, zu deren Schutze sie auszogen, ihre Kinder noch einmal liebkosen, bevor sie sie in ihren ehrwürdigen Schoß zurücknahm.

Am Morgen hatte der Wind Waffenlärm und Triumphgeschrei hergeweht und so den Bericht angstvoller Hirten bestätigt. Zweimal waren die Perser gewichen in ungeheurer Niederlage, die zehntausend Unsterblichen ohne Grab zurücklassend. Lokris hatte diese Siege geschaut. Thessalien hatte sich erhoben. Selbst Theben war an diesem Vorbild erwacht. Athen hatte seine Kriegsscharen gesandt und waffnete sich unter dem Befehl des Miltiades: siebentausend Soldaten verstärkten die spartanische Phalanx.

Aber siehe, inmitten der Ruhmeslieder und der Gebete im Artemistempel hatten die fünf Ephoren eben eintreffende Boten vernommen und Blicke miteinander gewechselt. Auf der Stelle hatte der Rat Befehle erlassen zur Verteidigung der Stadt. Daher jene hastig gegrabenen Schanzen; denn Sparta befestigte sich sonst nur mit den Leibern seiner Bürger.

Ein Schatten war auf alle Freude gesunken. Man glaubte den Reden der Hirten nicht mehr; die stolzen Meldungen waren mit einem Schlage vergessen wie Märchen! Die Priester hatten tief geschaudert. Die Arme der Auguren hatten sich emporgereckt, beleuchtet von der Flamme der Dreifüße, um den Unterirdischen zu opfern! Und alsbald waren furchtbare Flüsterworte gefallen. Man hatte die Jungfrauen hinausgeschickt; denn man wollte den Namen eines Verräters aussprechen. Und ihre langen Gewänder waren über die Heloten gestreift, die, trunken von schwarzem Wein, quer über die Stufen der Säulenhallen lagen, und sie waren darüber hingeschritten, ohne sie zu beachten.

Jetzt erst verlautete die Schreckenskunde.

Ein verlassener Paß in Phokis war den Feinden verraten worden. Ein messenischer Hirt hatte hellenischen Boden verkauft. Ephialtes hatte dem Xerxes das Mutterland ausgeliefert. Und die persische Reiterei, an deren Spitze die goldenen Rüstungen der Satrapen glänzten, überschwemmte bereits den Boden der Götter und stampfte mit ihren Hufen die Amme der Helden. Lebt wohl, Tempel, Wohnsitze der Ahnen, heilige Gefilde! Sie nahen mit Ketten, sie, die Weichlinge, die Blassen, um sich Sklavinnen zu suchen unter deinen Töchtern, Lakedämon!

Die Bestürzung wuchs beim Anblick des Gebirges, als die Bürger auf die Mauern geeilt waren. Der Wind klagte in den Felsschluchten und wühlte in den Fichten, die sich krachend bogen und ihre nackten Arme verstrickten, wie die Haare eines entsetzt zurückgeworfenen Hauptes. Die Sorge eilte in den Wolken, deren Schleier ihre Gestalt anzunehmen schienen. Und die Menge, wie von einer Feuersbrunst beschienen, drängte sich in den Mauerscharten und bestaunte die Verzweiflung der Erde unter dem Dräuen des Himmels. Trotzdem verdammte diese Menge sich mit harten Lippen zum Stillschweigen – der Jungfrauen wegen. Man durfte ihren Busen nicht in Wallung setzen noch ihr Blut aufrühren mit Beschuldigungen gegen einen Hellenen. Man dachte an die künftigen Kinder.

Die Ungeduld, die enttäuschte Erwartung, die Ungewißheit der Katastrophe machten die Bangigkeit noch drückender. Jeder suchte sich die Zukunft noch schwerer zu machen, und die Zerstörung schien nahe zu sein.

Gewiß, die ersten Heeresspitzen mußten bald in der Dämmerung auftauchen. Etliche wähnten am Himmelssaum den Widerschein der persischen Reiter zu sehen, ja, selbst den Kriegswagen des Xerxes. Die Priester lauschten mit gespanntem Ohr und vernahmen – so sagten sie – Geschrei von Norden her – trotz dem Seewind des Südmeeres, in dem ihre Mäntel rauschten.

Die Ballisten rollten heran und nahmen Stellung; man spannte die Skorpione und Wurfspieße häuften sich neben den Rädern. Die Jungfrauen stellten Kohlenpfannen auf, um Pech zu sieden; die Veteranen standen gerüstet da mit verschränkten Armen und schätzten die Zahl der Feinde, die sie erschlagen würden, ehe sie fielen. Man schickte sich an, die Tore zu vermauern; denn Sparta sollte sich nicht ergeben, selbst wenn es gestürmt ward. Man berechnete die Lebensmittel, befahl den Weibern den Selbstmord an, befragte die ausgerissenen Eingeweide, die hier und dort rauchten.

Da man für den Fall einer persischen Überrumpelung die Nacht auf den Mauern bleiben mußte, so kochte Nogakles, der Koch der Wachmannschaft, eine Art Beamter, die öffentliche Mahlzeit auf dem Walle. Vor einem riesigen Kessel stehend, rührte er seine schwere, steinerne Stampfe, und während er zerstreut das Getreide in der gesalzenen Milch zerstieß, blickte auch er sorgenvoll nach dem Gebirge.

Alles harrte. Schon wurden schmähliche Mutmaßungen über die Kämpfer laut. Die Verzweiflung der Menge ist verleumderisch, und die Stammesbrüder Derer, die einen Miltiades, Themistokles und Aristides verbannen sollten, ertrugen ihre Ungeduld nicht ohne Wut. Doch uralte Weiber schüttelten das Haupt, indem sie ihre vollen, weißen Haare flochten. Sie waren ihrer Kinder gewiß und bewahrten die wilde Ruhe von Wölfinnen, die ihre Jungen entwöhnt haben.

Plötzliches Dunkel verschattete den Himmel; das waren nicht die Schatten der Nacht. Ein ungeheurer Rabenschwarm, aus den Tiefen des Südens kommend, flog über Sparta hin mit furchtbarem Freudengekrächz, den Raum bedeckend und den Himmel verfinsternd. Dann ließ er sich auf all die heiligen Bäume nieder, die den Taygetos umgaben. Dort blieben die Raben wachsam und regungslos sitzen, mit funkelnden Augen, den Schnabel gen Norden gewandt.

Donnernde Flüche erhoben sich und wollten sie verscheuchen. Die Katapulte knarrten und sandten Schwärme von Steinen aus, die mit tausendfältigem Zischen die Luft durchschnitten und prasselnd in die Bäume schlugen. Geballte Fäuste reckten sich gen Himmel und wollten sie erschrecken. Aber regungslos blieben sie sitzen, als ob ein göttlicher Hauch erschlagener Helden sie gebannt hielte. Sie wichen nicht von den schwarzen Ästen, die sich unter ihrer Bürde bogen.

Die Mütter erschauderten schweigend bei diesem Anblick.

Jetzt begannen auch die Jungfrauen sich zu beunruhigen. Man hatte heilige Schwerter unter sie verteilt, die seit Jahrhunderten in den Tempeln hingen. »Für wen diese Klingen?« fragten sie. Und ihre sanften Blicke begegneten, von den glänzenden Klingen sich abwendend, den noch kälteren Augen ihrer Erzeuger. Man lächelte ihnen aus Ehrfurcht zu und ließ sie in der Ungewißheit des Opfers. Man konnte ihnen noch im letzten Augenblick sagen, daß diese Schwerter für sie selbst bestimmt waren ...

Plötzlich stießen die Kinder einen Schrei aus. Ihre Augen hatten etwas in der Ferne bemerkt. Dort auf dem dunkelnden Gipfel des verlassenen Berges erschien ein Mann und eilte, von dem Wind einer Flucht erfaßt, zur Stadt hernieder.

Aller Blicke hefteten sich auf diesen Mann. Er lief gesenkten Hauptes auf das Tor von Sparta zu, den vorgestreckten Arm auf einen Knotenstock gestützt, den er ohne Zweifel in seiner Trübsal auf gut Glück errafft hatte. Als er in der Mitte des Berghangs in den Gürtel des letzten Sonnenlichtes kam, erkannte man seinen großen Mantel, der den Körper umwallte. Er war unterwegs gefallen; denn sein Mantel war wie sein Stock über und über mit Schlamm bedeckt. Ein Krieger konnte es nicht sein: er hatte keinen Schild.

Dumpfes Schweigen begleitete diese Erscheinung.

Aus welchem Schreckensorte entfloh der so? – Eine üble Vorbedeutung!

Solches Laufen war eines Mannes unwürdig. Was suchte er? Eine Zufluchtsstätte? ... Also ward er verfolgt? – Vom Feind ohne Zweifel? – Also schon! Schon! ...

In dem Augenblick, wo der schräge Strahl der untergehenden Sonne ihn vom Kopf bis zu Füßen beleuchtete, erkannte man die Beinschienen.

Ein Sturm der Wut und Schande wirbelte durch alle Hirne. Man vergaß die Gegenwart der Jungfrauen, die finster und bleicher wurden als Lilien.

Ein Name, von der allgemeinen Bestürzung und dem allgemeinen Schrecken ausgespien, erklang. Es war ein Spartaner! Einer der dreihundert! Man erkannte ihn wieder. – Er – er war es! Ein Krieger der Stadt hatte seinen Schild fortgeworfen! Man floh! Und die anderen? Waren auch sie gewichen, die Furchtlosen? Die Angst krampfte alle Gesichter zusammen. – Der Anblick dieses Mannes war gleich dem der Niederlage. Ach, warum sich das ungeheure Unglück noch länger verhehlen? Sie waren geflohen! Alle ... Sie folgten ihm. Sie mußten von einem Moment zum andern erscheinen ... verfolgt von der persischen Reiterei. – Und die Hände über die Augen haltend, schrie der Koch, daß er sie im Abendnebel erblickte ...

Ein Schrei übertönte allen Lärm. Ein Greis und eine große Frau hatten ihn ausgestoßen. Beide hatten sprachlos ihr Antlitz verhüllt und die furchtbaren Worte hervorgestoßen: »Mein Sohn.«

Da erhob sich ein Sturm von Geschrei. Geballte Fäuste drohten dem Flüchtling entgegen.

»Du irrst dich! Hier ist das Schlachtfeld nicht.«

»Renne nicht so. Schone dich.«

»Kaufen die Perser Schilde und Schwerter?«

»Ephialtes ist reich.«

»Gib acht auf deine rechte Hand! Die Gebeine des Pelops, des Herakles und Pollux sind unter deinen Füßen. – Du wirst die Manen deines Ahns erwecken – und stolz wird er auf dich sein!«

»Hermes lieh dir seine Flügelschuhe! Beim Styx, du wirst den Kranz in Olympia gewinnen.«

Der Krieger schien nicht zu hören und lief immer noch auf die Stadt zu. Und wie er weder antwortete, noch stehen blieb, verdoppelte sich die Wut. Die Schmähungen wurden furchtbar. Die Jungfrauen blickten voller Staunen.

Und die Priester:

»Feigling, du bist mit Schlamm beschmutzt! Du hast deine Mutter Erde nicht umarmt, du hast sie gebissen!«

»Er naht dem Tore! Ha, bei dem Unterirdischen! Du sollst nicht herein!«

Tausend Arme erhoben sich.

»Zurück! Das Barathron harrt deiner. Zurück! Wir wollen dein Blut nicht in unseren Erdlöchern! In den Kampf! Kehr um!«

»Fürchte die Schatten der Heroen um dich!«

»Die Perser werden dir Kränze geben! Und Leyern! Geh, unterhalte sie bei ihren Festen, Sklave!«

Bei diesen Worten sah man die spartanischen Jungfrauen die Stirn über ihre Brust neigen und schweigend weinen, und ihre Hände umkrampften die Schwerter, welche die Könige der Urzeit getragen.

Mit diesen Heldentränen schmückten sie die harten Schwertgriffe. Sie begriffen alles und weihten sich zum Tode fürs Vaterland.

Plötzlich nahte eine von ihnen, schlank und bleich, dem Walle: alles trat zurück, um ihr Platz zu machen. Es war die künftige Gattin des Flüchtlings.

»Schau nicht hin, Simeis!« riefen ihre Gespielinnen ihr zu.

Doch sie betrachtete den Mann, hob einen Stein und schleuderte ihn auf ihn.

Der Stein traf den Unglücklichen: er schlug die Augen auf und blieb stehen. Da schien ein Schauder ihn zu erfassen. Sein eben erhobener Kopf sank auf die Brust zurück.

Er schien zu träumen. Was wohl?

Die Kinder betrachteten ihn, die Mütter sprachen leise mit ihnen und wiesen auf ihn mit dem Finger.

Der riesige, martialische Koch ließ seine Arbeit im Stich und verließ seinen Kessel. Ein heiliger Zorn hieß ihn seine Pflichten versäumen. Er neigte sich in einer Mauerscharte herab, dann nahm er alle Kraft zusammen, blies aus vollen Backen und spie den Überläufer an. Und der Wind, der Gehilfe dieser heiligen Entrüstung, wehte den schändlichen Schaum auf die Stirn des Elenden.

Beifall erscholl, dieses kraftvolle Zeichen des Zornes zu billigen.

Man war gerächt.

Nachdenklich auf seinen Stab gelehnt, starrte der Krieger auf das Stadttor. Auf das Zeichen eines Anführers schlossen sich die schweren Flügel zwischen ihm und dem Mauerkreis und legten sich fest zwischen zwei granitene Pfosten.

Da – vor diesem geschlossenen Tor, das ihn für immerdar ausstieß, fiel der Flüchtling der Länge nach hintenüber zu Boden.

Augenblicklich stürzten sich die Raben auf ihn, während die Sonne verblich und die Dämmerung herabsank. Diesmal ward ihnen Beifall gezollt, und ihre mörderische Wolke entzog ihn plötzlich den Beschimpfungen der Menge.

Dann sank der Abendtau, der den Staub ringsum auftrank. Bei Morgengrauen waren von dem Manne nur noch die verstreuten Gebeine geblieben.

So starb er, die Seele voll von dem einzigen Ruhme, den die Götter den Sterblichen neiden, und fromm die Lider schließend, damit der Anblick der Wirklichkeit das erhabene Bild, das er sich von seinem Vaterland machte, nicht mit unnützer Trübsal befleckte. So starb er wortlos, in seiner Hand die Palme des siegreichen Todes tragend, kaum getrennt von dem heimischen Grund durch den Purpur seines Blutes, der hehre Siegesbote der Dreihundert, der ob seiner tödlichen Wunden zum Boten erkoren ward, damit seine letzten Kräfte dem Wohle des Staates dienten, – der Bote des Leonidas.


 << zurück weiter >>