Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Siebzehntes Kapitel

Lebt wohl, ihr Wälder!

Muschkuian, das Bärenfell, hing mit der Pelzseite nach innen über einem dicken Stamm, der über einem festen Holzbock ruhte. Die Mutter und Estelle kratzten sorgsam die letzten Spuren von Blut, Fett und Sehnen von dem Leder ab. Als sie fertig waren, legten sie die Schaber aus klingenscharfen Knochen beiseite und schnürten das Fell mit dünnen Lederstreifen in den großen Trockenrahmen ein, wo es zwei Tage in der Luft hängen sollte. So würde es gerade noch vor ihrer Abreise zum Johannissee fertig werden. Pirre hatte sich 243 ausgebeten, daß dieses Fell nicht in die Hände des weißen Mannes kommen sollte. Er wollte es als Schlafdecke benutzen und sich sein Leben lang nicht davon trennen.

Sie waren schon mitten in den Vorbereitungen zum Aufbruch ins Sommerlager. Neue Speicher waren in den Baumkronen der Umgebung gebaut worden, wo die Schneeschuhe, die Fallen und Werkzeuge, die Kessel und ein Reservezelt dem diebischen Zugriff der Wolverine entzogen waren.

Pirre war ernst und niedergeschlagen. Der Gedanke der baldigen Rückkehr in die Welt des weißen Mannes lag schwer auf seinem Herzen. Aber dennoch mußten sie die Jagdgründe verlassen, um der Pelze willen, die in dicken, sauberen Bündeln bereits reisefertig neben dem Zelt aufgestapelt lagen. Ursprünglich hatte Pirre sich vorgenommen, die Hauptzeit des Sommers mit Saiko in seinem Birkenrindenzelt am Johannissee zu verbringen, aber zu seiner bitteren Enttäuschung hatte der große Jäger von seinem Entschluß gesprochen, in diesem Frühling nicht wie gewöhnlich südwärts zu reisen. Sofort hatten die Minnegouches sich erboten, seine Pelze für Mr. Angus mitzunehmen, und da lagen sie nun schon – nur ein Bündel weniger als die gesamte Ausbeute der drei Minnegouche-Männer! Er brauchte der Zeremonie des Verkaufes nicht beizuwohnen, denn er kannte gar wohl den Wert seiner Pelze, und der Vater hatte bereits nach seinem Diktat eine lange Bestelliste für Vorräte auf eine glatte Rindenrolle aufgeschrieben. Er freute sich, Saiko diesen Gefallen tun zu können, denn das neue Kanu erlaubte es ihm, diesmal mehr Gepäck mit zurückzunehmen als im vorigen Jahr.

So oft es nur ging, suchte Pirre die Gesellschaft des Alten und streifte mit ihm durch die Wildnis. Einmal saßen sie viele Stunden weit vom Zelt entfernt unter einem Baum, dessen Krone einen der neuen Vorratsspeicher trug. 244

»Vielleicht kommt Zegabek doch einmal wieder mitsamt dem Mond«, sagte Saiko, »ich habe den Burschen immer gern gehabt. Wer weiß, wozu mich dann meine Laune treibt. Weißt du, wenn ich es so recht überlege: ich habe immer nur das getan, wozu ich gerade Lust hatte. Vielleicht stelle ich mich neben ihn und fahre mit ihm zum Himmel hinauf. Oder ich gehe als Stern in die Milchstraße. Ich habe so viele Freunde dort, die ich schon längst gern wiedergesehen hätte.«

In seiner eigenen phantasievollen Art schien er sagen zu wollen, daß sein Tod vielleicht nicht mehr allzu fern sei. Prächtig war der Indianerfriedhof auf der Reservation, mit Tannen und blühenden Sträuchern und einem gewaltigen Kreuz über dem Eingang – aber er wäre wohl dennoch nicht der rechte Ort für Saikos Grab gewesen, für die Ruhestätte eines Jägers, der zu den Steinen und den Bäumen sprach und Antwort von ihnen erhielt, weil seine Seele in Reichen zu Hause war, von denen der weiße Mann sich nichts träumen läßt.

Heiter, fröhlich wie immer, studierte er Pirres betroffenes Gesicht. Seine Stirn hatte die Farbe, die Risse und Runzeln alter Baumrinde. Sein Körper reichte gerade bis zur Hüfte des jungen Jägers. Aber diese blanken, scharfen Augen sprühten vor Klugheit und Lebenslust. Niemals hatte er eine Tat begangen, die seiner unwürdig war. Er kannte keine Unrast. Keinerlei weltliche Begierden erreichten seine Seele. Nichts störte den friedlichen Ausdruck seines Gesichtes.

Für immer nahm Pirre sein Bild in sein Gedächtnis auf. Wo er auch sein würde und wie lange er auch leben sollte, immer würde er Saiko vor sich sehen, so wie er in diesem Augenblick aussah, so unsterblich . . .

Saiko lächelte. »Du bist doch nicht etwa niedergeschlagen«, sagte er, »da gibt es keinen Grund, den Kopf hängen zu lassen. Ich habe ziemlich viel gearbeitet in meinem Leben und hätte ganz gern ein wenig Ruhe.« 245

»Laß mich bei dir bleiben!« flehte der junge Jäger, »laß mich mit dir gehen, wohin es auch sei.«

Saiko lachte, laut und herzlich.

»Das wäre so das Richtige! Hast du schon einmal zwei Bären in derselben Falle gesehen? Zwei Männchen gehören nicht zusammen. Jeder muß seinen eigenen Weg gehen. Im Wald ist jeder allein, das macht ihn klug und lehrt ihn das Denken. Einmal wirst auch du allein sein, aber bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Eine Frau – eine Familie – Hunger – Krankheit – unglückliche Jagd oder gute und dann ein wenig Einsicht und Zufriedenheit. Wenn du Glück hast, begegnet dir dann vielleicht am Ende des Pfades einmal ein junger Jäger, der gerade anfängt zu leben mit all der Kraft und der Begeisterung, die die alten Indianer hatten.«

»Nur diesen einen Sommer!« bat Pirre, »laß mich nur diesen einen Sommer lang allein mit dir im Walde bleiben!«

»Es gibt auch Pflichten, junger Jäger. Wie würde es zum Beispiel aussehen, wenn dein Vater in den Laden der Company käme mit nur einem kränklichen Sohn an seiner Seite?«

»Ach, Saiko, wenn du wüßtest, was ich fühle! Du bist der Wald. Du bist die Seele der Jagdgründe. Mir ist, als sollte ich dich niemals verlassen.«

»Die Wälder sind immer hier und also auch ich. Nosipatan ist hier, obgleich sie sagen, er sei tot. Kawopawisit ist hier und Paulisch, der Blinde. Schekapéo ist hier mit seinem Sohn Aschappi. Man braucht sie nicht zu sehen, um ihre Gegenwart zu fühlen.«

»Aber die Weißen sagen . . .«

»Das ist es ja gerade. Die Weißen sagen verschiedene Sachen. Ihre Werkzeuge sind gut, aber ihre Köpfe sind nicht so hervorragend. Wie wäre das auch möglich? Sie sind ja nie allein. Sie haben keine Zeit zum Denken.«

»Sie erzählen uns vom Teufel –«

»Es gibt nur einen Teufel, die Wolverine. Sie 246 bestiehlt die armen Indianer, und was sie nicht gebrauchen kann, wirft sie in den Schnee. Wenn sie satt ist, wirft sie die Vorräte und das Fleisch in den Abgrund, wo wir es sehen, aber nicht holen können. Sie nagt die Wände aus unseren Zelten und hängt die Stücke vor uns in den Bäumen auf, um uns zu verhöhnen. Sie geht von der Hinterseite in die Fallen und frißt den Köder. Dann zerstört sie alles und deckt Schnee über die Trümmer. Und wenn du hundert Fallen hast, sie wird sie finden und zerschlagen, wenn ihr gerade der Kopf danach steht. Vor deinen eigenen Augen wirft sie das Elchfleisch in den Sturzbach, wenn du gerade am Verhungern bist. Wenn du ihr eine Falle stellst, so zerbricht sie sie und frißt den Köder. Dann verschwindet sie für Monate, bis du sie vergessen hast und sie plötzlich wiederkommt, um dich bis aufs Blut zu reizen. Das, Pirre, ist der Teufel. Einen anderen gibt es nicht.«

»Wer wird mir solche Dinge sagen, wenn du mich zwingst, dich zu verlassen?«

»Die Wälder, Pirre. Die Geister der alten Indianer. Und deine eigenen Fehler, zusammen mit den Fehlern der anderen Menschen.«

»Bist du immer so glücklich gewesen wie heute, Saiko, so zufrieden?«

»Glücklich? Was meinst du damit? Das scheint wieder so eine Idee des weißen Mannes zu sein. Bären und Biber, Vögel, Fische und Indianer sind niemals ›glücklich‹. Sie leben und kämpfen und sterben. Auf den Jagdgründen ist man nicht glücklich. Aber man ist auch nie ›unglücklich‹.«

»Hast du immer solche Geschichten erzählt, wie du sie mir erzählst?«

»Nie in meinem Leben habe ich irgendeine ›Geschichte‹ erzählt. Ich habe nur ein gutes Gedächtnis, das ist alles.«

»Ich werde niemals heiraten. Ich will allein leben, wie du.« 247

»Hahaha! Du bist nicht für den leichten Weg gemacht, Pirre. Allein zu sein ist eine Belohnung, nicht ein Anfang. Aber sorge dich nicht. Du bist aus dem rechten Schrot und Korn gemacht. Du wirst nicht dort sterben, wo der weiße Mann regiert. Geh zurück mit den Deinen. Fang erst einmal an zu leben. Und überlaß das andere den Geistern des Waldes.«

Sie machten sich auf den Heimweg.

»Was für ein warmer Frühling das doch ist«, sagte Saiko, während er auf allen vieren neben Pirre herkroch, »es ist gut, daß man keinen Schlitten mehr braucht. Das Moos fühlt sich so angenehm an. Es ist ein Vergnügen, hier herumzulaufen.«

Pirre ahnte nicht, daß bei jeder Bewegung der Rheumatismus wie mit Messern in die armen alten Glieder schnitt. Pirre, der den Bären getragen hatte, hätte Saiko so leicht auf den Rücken nehmen können wie Tiloup in seinem Traggestell. Aber es war einfach unmöglich, Saiko physische Hilfe anzubieten. Seine Schüchternheit und sein tiefer Respekt verboten ihm jede Bemerkung, die den großen Jäger an seine körperlichen Gebrechen erinnern konnte.

Vor dem Zelt stand Michael in der Sonne.

»Hör mal, du kluger Schnitzmeister«, sagte Saiko zu ihm, »ich habe in der vorigen Nacht einen seltsamen Traum gehabt. In meinem Alter kann man es nicht mehr riskieren, die Befehle, die man im Traum erhält, unbeachtet zu lassen. Würdest du mir einen Gefallen tun?«

»Was du nur willst«, sagte Michael mit leuchtenden Augen, »soll ich dir etwas schnitzen? Was willst du haben?«

»Ich hätte gern einen Spazierstock, der wie ein Karibubein geschnitzt ist. Ich träumte, die Karibus hätten mich zu ihrem Häuptling ernannt. Es wäre unhöflich, die Ehre nicht anzunehmen.«

Sofort ging Michael an die Arbeit. Aus einem 248 einzigen Stück glatten leichten Holzes formte er mit seinem Krummesser ein Karibubein von täuschender Ähnlichkeit, von der Hüfte bis zum winzigen grazilen Huf. Am oberen Ende war ein handlicher Griff. Er arbeitete viele Stunden an diesem Spazierstock, und als er fertig war, hielt Saiko ihn über das Feuer, wo er eine warme, dunkelbraune Farbe annahm.

»Sieh, Pirre«, sagte Saiko dann und ritzte mit einem Biberzahn seltsame Linien in das Holz, »das ist nun genau, wie ich es geträumt habe. Befolge immer, was du im Traume siehst. Sie sagten mir, ich müßte einen langen, langen Weg gehen, an dessen Ende der versammelte Stamm der Karibus mich grüßen würde. Sie meinten, es wäre besser, wenn ich einen Spazierstock bei mir hätte, an dem sie mich gleich erkennen können. Sie haben ihn mir sogar ganz genau beschrieben.«

Im Zelt saß die Großmutter und arbeitete an einem kleinen Holzgestell mit Lederriemen. Es war eine Trage für Tiloup, Tetnagen genannt, in der er auf ihrem Rücken reisen und später die Freunde auf der Reservation besuchen sollte.

»Vitaline wird Augen machen«, sagte sie, »und was werden wohl die anderen Frauen sagen! Ein Junge! Unser dritter Junge!«

»Vitaline –«, sagte die Mutter, »vielleicht bringt sie im nächsten Sommer ihr eigenes Kindchen mit.«

»Er wird Mr. Angus gefallen«, sagte der Vater. »Ich höre ihn schon sagen: ›Ich hoffe, er wird am Leben bleiben und ein strammer Jäger werden!‹«

»Ach, ihr!« rief Pirre aus, »ihr denkt nur noch an den Ort des weißen Mannes! Die Eile, die ihr habt, um in seine enge Welt zurückzukehren!«

»Wir sind immer ins Sommerlager gezogen«, bemerkte Saiko, der mit seinem neuen Spazierstock ins Zelt kam und gerade noch die letzten Worte gehört hatte, »der weiße Mann ist uns gefolgt, nicht wir ihm.«

»Wann müssen wir fort?« fragte Pirre. 249

»Wenn das Bärenfell trocken ist und das Karibuleder fertig daliegt für die Mokassins.«

Pirre hatte kaum davon Notiz genommen, daß Michael kurz nach dem großen Bärenabenteuer ein Karibu geschossen hatte. Die Frauen hatten schon das Leder zubereitet, hatten es reingekratzt und die Haare mit Biberzähnen abgeschnitten. Dann war es gewaschen, eingeweicht, gebleicht und gewalkt worden und trocknete nun in dem Rahmen neben dem Bärenfell. Auf dem Sommerplatz würden sie es einfetten, noch einmal einweichen und waschen, bis es dann endlich geräuchert werden konnte.

Er ging zur Mutter.

»Nächsten Winter, wenn wir erst wieder hier sind, machst du mir noch ein paar mehr Kleider von der Art, wie die alten Indianer sie trugen, nicht?«

Die Mutter lachte. »Nun hört nur einmal Pirre! Er denkt schon an den nächsten Winter! Voriges Jahr konnten wir ihn kaum davon abhalten, zu früh zur Reservation abzureisen!«

»Damals hatte ich noch keinen Bären geschossen«, sagte Pirre.

Mutters Gesicht wurde ernst.

»Das ist wahr. Damals warst du noch ein Kind.«

»Am liebsten hätte ich einen Mantel aus Schneehasenfell, genau so geflochten, wie du die Schlafdecken machst. Ich würde Lederschnüre durch die Löcher ziehen und ihn damit zubinden.«

»Warte lieber damit, bis du einmal eine Frau hast, die dir einen macht.«

Eine Frau. Immer redeten sie von Frauen, wo er sich doch mehr als je nach der Gesellschaft der Männer sehnte.

». . . und Gamaschen aus Luchsfell«, fügte er hinzu, »dem Nordmann zu Ehren mit roten Ornamenten bemalt. Und eine Mütze aus Karibuleder, mit Eistaucherfedern geziert. Das muß ich im nächsten Winter haben!« 250

»Du mußt es haben«, kicherte die Großmutter, »sobald sie ihren ersten Bären geschossen haben, werden sie anmaßend wie ein alter Jäger!«

Pirre ging, um dem Vater beim Verstauen des Kanuschlittens zu helfen. Dieses Jahr brauchten sie ihn nicht für die Reise. Es war so ungewöhnlich warm. Sie konnten die ganze Strecke im Kanu zurücklegen.

»Wir nehmen den anderen Weg zurück«, sagte der Vater, »da sind zwar mehr Stromschnellen, wo wir ausladen und zu Fuß gehen müssen, aber das stört uns nicht. Wir dürfen die Pelzbündel nicht in Gefahr bringen. Wir allein haben diesmal drei Bündel mehr als voriges Jahr.«

»Drei mehr?«

»Sieh nur.« Sie inspizierten die sauber aufeinandergeschichteten Ballen, die Ernte aus den Wäldern.

»Welche sind Saikos?« fragte Pirre.

Ein Bündel sah wie das andere aus, aber Saikos eingeritzte Eigentumsmarke unterschied seine Pelze von denen der Minnegouches.

»Noch immer der größte Jäger«, murmelte der Vater.

Saiko kam mit seinem neuen Spazierstock in der Hand. Er hatte sich gerade den Schwanz eines Murmeltieres unter die Ledermütze geschoben.

»Morgen gehe ich Kanurinde schneiden«, sagte er.

»Oh«, entsann sich der Vater, »Mr. Angus bat mich, ihm Kanurinde mitzubringen.«

»Ohne einen Murmeltierschwanz unter der Mütze wirst du keine finden«, bemerkte Saiko, »außerdem würde ich die Rinde für die Indianer lassen. Laß den weißen Mann seine Boote zusammennageln und einen Motor hineintun. Der Wald hat keine Rinde für die Frevler.«

Und dann kam der Abend, der letzte Abend mit Saiko. Der Vater bot ihm vom letzten Tabak des weißen Mannes an, den er sich für große Gelegenheiten aufgespart hatte. 251

»Ich rauche das Zeug nicht«, sagte Saiko, »ich nehme lieber meinen eigenen.« Aus einem Ledersäckchen nahm er die Mischung aus dünngeschnittenen Weidenrindenstreifen und pulverisierter Tannenrinde, die er über seinem Feuer getrocknet hatte. Mit diesem »Stimao« füllte er seine Steinpfeife und reichte sie Pirre hin.

»Da, junger Jäger«, sagte er, »behalte sie samt dem Beutel. Mit ihrer Hilfe wird es dir leichter werden, die Geister derer herbeizurufen, die in den alten Zeiten gelebt haben.«

Es war ein außerordentliches Geschenk. Selbst der Vater besaß keine Steinpfeife aus den alten Zeiten. Pirre nahm sie mit zitternder Hand.

Als alle schliefen, schreckte ein verwirrender Traum ihn plötzlich auf. Seltsames hatte er mit seinem inneren Gesicht gesehen. Ihm war, als habe der wohlbekannte hohe Baum neben Saikos Lederzelt sich plötzlich zu ihm herabgebeugt, und als habe er, Pirre Minnegouche, die dunkle, knorrig-zerrissene Rinde für den Hauch einer Sekunde auf seiner Wange gefühlt – dann hatte der Stamm sich wieder langsam und feierlich zu seiner alten Höhe aufgerichtet.

Was bedeutete das? Sein erster Impuls war, nach Saikos Pfeife in seiner Brusttasche zu fühlen. Sie war noch da.

Das Feuer war heruntergebrannt. Es war vollkommen dunkel im Zelt. Er fühlte nach Saikos Schlafstätte hin. Sie war leer. Vater und Mutter, Großmutter, Michael, Estelle und Tiloup – alle lagen sie da in friedlichem Schlaf. Aber Saiko – Saiko war nicht unter ihnen!

Er schlich sich hinaus in die Nacht. So schnell er nur konnte, lief er in der Richtung von Saikos Zelt.

»Saiko!« rief er, »Saiko! Verlaß mich nicht! Zwinge mich nicht, die Wälder zu verlassen!«

Raschelnd sprang eine Bisamratte über den Weg. Da hielt er ein. In jäher Erkenntnis warf er sich in das 252 Moos unter den Bäumen. Mit der Gewißheit des Herzens ahnte er plötzlich, daß seine Augen Saiko niemals wiedersehen würden. Aber er lebte! Ewig würde der große Jäger leben – in den Felsen, den Bäumen und Tieren dieser Wälder.

Langsam nahm er die schwarze Steinpfeife aus seiner Tasche, stopfte sie mit dem bitteren Tabak der Wildnis und schob das kalte, glatte Mundstück zwischen seine Lippen.

Es war nun ohne Belang, ob er zum Sommerplatz zurückging oder nicht. Wohin er auch seine Schritte lenkte, Saiko würde bei ihm sein – Saiko und der ewige Friede der Wildnis.

Es wäre töricht von ihm gewesen, sich zu benehmen wie der in einer Falle gefangene Luchs, der einen einzigen gewaltigen Sprung tut, um sich zu befreien, und sich dann resigniert hinlegt, um auf das todbringende Beil des Jägers zu warten. Weder sinnloser Widerstand noch lähmende Resignation konnten dem großen Jägerschicksal entgegenwirken. Um zu leben, wie die Alten lebten, brauchte man ruhiges Nachdenken, Mut und den Frieden der Seele.

Die ganze Nacht lang blieb er auf dem trockenen Moos unter den alten Bäumen liegen. Er sprach zu Saiko, und der Wind trug ihm geflüsterte Antworten zu. Als die Sonne aufging, kehrte er zum Zelt zurück.

Sie nahmen das Bärenfell vom Rahmen und rollten das Stück Karibuleder zusammen. Sie trugen die Pelzbündel zum Wasser hinab und brachten die Kanus zur Abfahrtstelle. Sachkundig und ruhig beluden sie sie mit ihrer Last, und ohne Erregung, ohne Unruhe bestiegen sie die Boote. Die Großmutter trug Tiloup in seiner hölzernen Tetnagen auf dem Rücken. Die letzten waren Michael, Estelle und Jil, der Habicht. Ohne Gebell sprangen die Hunde auf ihre Plätze.

Als Estelle von den Herrlichkeiten zu schwatzen anfing, die sie im Laden der Company zu kaufen hoffte, 253 gab Pirre seinem Kanu einen raschen Stoß und ruderte, bis er das bis zum Rande beladene Boot des Vaters erreicht hatte.

Erst fiel ein leichter Regen, dann aber stand die Sonne über dem vom Eise befreiten See. Aufrecht stand Pirre im Bug, das Paddel in seiner Hand. Der Wind spielte mit seinem glatten, schwarzen Haar. In seinem Blick war die Weisheit der Wildnis. Die Strahlen der Morgensonne fielen auf das Bärenfell, das seine Bündel bedeckte. Der Hund Mustard blickte mit der Ergebenheit zu ihm auf, die einem Jäger gebührt.

Noch einmal wandte er den Kopf, um einen letzten Blick auf die Wälder zu werfen, wo Saiko zurückblieb. Ein Regenbogen stand über den Jagdgründen – die Geister hatten ihn errichtet, um die Reisenden vor den Wassern des Himmels zu schützen.

Um der Pelze willen, die die Wildnis ihnen geschenkt hatte, folgte Pirre Minnegouche den Seinen für kurze Zeit in die Bereiche des weißen Mannes. Bald aber würde er in das Königreich der Jagdgründe zurückkehren, in die Wälder der Vorfahren, das Land der Indianer.

 


 


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