Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Zehntes Kapitel

Das Wölflein

Die Mutter legte sich einen großen Vorrat von Schneehasenfellen an. Da die Company diese warmen, weichen Pelze nicht kaufte, verwandten sie die Indianer für ihre eigenen Betten und Kleider.

Pirre legte die Schlingen zum Hasenfang, und bald hatten die Frauen genug Felle im Zelt, um mit der Herstellung der Schneehasendecken zu beginnen, die leichter und flaumiger sind als Daunen, wärmer als Federbetten und prächtiger als alle Zudecken des weißen Mannes. 135

Während dieser Wochen tat die Mutter viel weniger harte Arbeit als sonst. Sie fühlte sich oft müde und liebte es, allein mit der Großmutter im Zelt zu sitzen, wobei beide Frauen sich lange im Flüsterton unterhielten. Selbst Michael wurde jetzt oft zu Vater und Pirre in den Wald geschickt. Pirre, der sich keinen Augenblick von seinem Gewehr trennte, kam nur zum Schlafen und Essen heim. Um den Feuerplatz herum wurden so viele Handarbeiten gemacht, daß die Männer dem Zelt so lange wie möglich fernblieben. Sie hatten den Frauen zwei große Holzrahmen gebaut, jeder über einen Meter im Quadrat, auf denen die neuen Felldecken geflochten werden sollten. Estelle kochte und tat die übrigen Hausarbeiten, während die Mutter und die Großmutter vor den hohen Rahmen hockten und sie mit einem netzartigen Ledergeflecht umwickelten. Haufen von Schneehasenfellen lagen um sie herum. Das zu verarbeitende Fell wurde angefeuchtet, um es weich zu machen, dann schnitten sie mit scharfen Biberzähnen zentimeterbreite Schrägstreifen davon ab, die sich sofort fest nach innen umrollten, so daß sie aussahen wie lange, dünne Pelzschwänze. Diese Rollen wurden in große Holznadeln eingefädelt und mit kunstreichen Knoten und Schlingen in das Ledernetz der Rahmen eingehäkelt. Das Resultat war eine ebenmäßige Pelzfläche, gleich schön und sauber auf beiden Seiten und so weich wie eine Sommerwolke. Estelle liebte es, ihre Finger durch die pelzumwobenen Quadrate des Netzes zu stecken, um die Wärme zu fühlen, die diese unsichtbaren molligen Öffnungen so angenehm festhielten. Die fertigen Decken sahen aus, als seien sie aus Federn gewoben. Sie waren schneeweiß und wunderschön. Sobald die verarbeiteten Pelzrollen trockneten, wurden sie wieder flaumig und zart.

Für die Männer war kaum mehr Platz im Zelt, denn die Rahmen nahmen fast allen Raum ein, und außerdem hatten die Frauen soviel miteinander zu reden, daß sie sich ganz isoliert fühlten.

Meist unterhielten sie sich über indianische Namen 136 und über die verschiedenen Zufälle, aus denen sie entstanden waren. Die Namen, die der weiße Mann im Sommer in sein Kirchenbuch schrieb, hatten nichts mit diesen indianischen Benennungen zu tun, die von den ersten Erlebnissen eines Menschenkindes in der Wildnis hergeleitet wurden. Zwar wurden manchmal die Namen des weißen Mannes für dauernd angenommen und die ursprüngliche indianische Benennung darüber vergessen, wie im Falle der Minnegouche-Kinder, meist aber behielt ein Naskapi seinen Indianernamen für sein ganzes Leben und niemand schien sich an das Wort zu erinnern, das der weiße Missionar während des Sommers über den Täufling hingemurmelt hatte.

Sie sprachen zum Beispiel über Tepischquasch, »Frau Wurzel«, die als kleines Kind im Zelt ihrer Eltern schlief, als ein Bündel Fichtenwurzeln sich von der Decke löste und auf sie fiel. Das Kind wachte auf und fing an zu schreien, aber die Wurzeln hatten der Kleinen für immer ihren Namen gegeben.

Als Pirre heimkam, sah er, daß die Pelzdecken fast fertig waren. Aber das Gespräch ging noch immer weiter, und die Frauen erzählten ihm, wie Baschikenabesch, der »Sohn des Gewehrs«, seinen Namen erhalten hatte. Als winziger Säugling lag er in seiner Wiege, als einer der Hunde ins Zelt kam und das in der Ecke lehnende Gewehr umwarf, dessen Lauf sich über den Kleinen legte. Spaßig war auch die Geschichte von Tschimun Tastemaquao, der in einem Körbchen vor dem Zelte lag, als es plötzlich zu regnen anfing. Von da an hieß er »Regen im Gesicht«.

Nun kam auch der Vater. Er wechselte einen Blick mit der Großmutter und erzählte Pirre, daß er die Spuren eines Bären weit draußen an der Grenze des Jagdgrundes bemerkt habe. Vielleicht wäre es gut, der Sache ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Pirres Augen leuchteten auf. Gemeinsam mit Michael packte er Lebensmittel für zwei Tage ein. Sie nahmen die Hunde mit und ließen die Frauen allein im Zelt zurück. 137

Am Abend nahmen die Frauen die fertigen Pelzdecken von den Rahmen. Die Mutter legte sie auf ihren eigenen Schlafplatz, wo Estelle einen anderen neuen Gegenstand bemerkte: zwei mit bunt eingesetztem Leder bespannte Halterahmen, die an einem Netzwerk aus geflochtenen Riemen aufgehängt waren. Die Mutter fühlte sich nicht wohl und trank Tee aus roter Weidenrinde.

Zeitig am nächsten Morgen stand die Großmutter auf und schickte Estelle in den Wald, um nach Pirres Hasenschlingen zu sehen.

»Es ist ja noch viel zu zeitig«, sagte Estelle, »die Sonne ist noch nicht da.«

»Fort mit dir, fort mit dir!« sagte die Großmutter, »eine Wolke steht über unserem Zelt. Du darfst sie nicht sehen. Geh und sieh dich nicht um, sonst kommt Unglück über uns alle!«

Estelle wurde es ganz ängstlich zumute. So hatte sie die Großmutter noch nie gesehen. Diese Hast und Eile! Schnell machte sie sich fertig und verließ das Zelt, um nach den Fallen zu sehen. Charakterfester als Lots Weib sah sie sich nicht ein einziges Mal nach der verbotenen Stätte um.

Der Vater hatte seine Söhne weit hinaus geführt. Sie sahen wohl ein paar Elchfährten im frischgefallenen Schnee, aber nichts verriet die Nähe eines Bären. Pirres Arm wurde müde. Er hatte sein Gewehr allzulange schußbereit gehalten. Sie lagerten über Nacht im Schnee und setzten dann während des nächsten Tages ihre Suche fort, aber alles, was sie schossen, waren ein paar Rebhühner. Nach der zweiten Nacht im Freien näherten sie sich langsam wieder dem Zelt, wo sie um die Mittagsstunde ankamen.

»Wartet hier!« sagte der Vater und ging das letzte Stück Weg allein. Vielleicht hatte er einen scheuen Vogel bemerkt. Die Brüder verhielten sich still und warteten. Aber sie hörten keinen Schuß. Als der Vater zurückkam, sahen sie ein Lächeln auf seinem Gesicht. Er ging ihnen zum Zelt voran. 138

Etwa zwei Meter vom Eingang entfernt stand im Schnee ein frischbehauener Pfahl, dessen oberes Ende zinnoberrot bemalt war. Pirre und Michael blieben vor Überraschung wie angewurzelt stehen.

»Ja«, sagte der Vater, »es scheint, wir haben einen neuen kleinen Minnegouche. Ich würde mich nicht wundern, wenn es ein Junge wäre.« Wie zur Antwort ertönte schwaches Kindergeschrei aus dem Zelt.

Ein neuer Bruder! War es möglich? Auf Zehenspitzen folgte Pirre dem Vater und Michael.

In ihrer Lieblingsecke saß die Mutter, ganz zugedeckt mit einer der neuen Pelzdecken. Über ihr hing die Wiege aus buntem Leder, von der schweigenden Estelle an einer Lederschnur langsam hin und her bewegt. Sie fühlte sich als Wächterin der Wiege, und ihr Gesicht zeigte die Würde uralter Vergangenheiten. Winzige Geräusche kamen von dem kleinen Köpfchen her, das man unter der Schneehasendecke kaum sehen konnte.

Die Großmutter erhob sich und legte ihre Hand auf Vaters Schulter. »Ein neues Noschischim«, sagte sie feierlich, »ein neues Enkelchen, ein Junge.« Und sie führte Pirre und Michael zur Wiege.

Nun bin ich nicht mehr der Jüngste! war Pirres erster Gedanke. Nun gab es einen anderen Jungen in der Familie, viel, viel jünger als er selbst! Der konnte froh sein, zwei echte Jäger zu Brüdern zu haben!

Die Mutter lächelte, als sie dem Vater zusah, dessen harte starke Finger mit scheuer Zärtlichkeit das Köpfchen des kleinen Kindes berührten. Noch nie, so schien es ihr, hatte sie ein so wunderschönes Baby gesehen. Sie vergaß, daß sie bei der Geburt jedes ihrer anderen Kinder genau dasselbe gefühlt hatte. Der Kleine hörte plötzlich zu schreien auf und starrte mit großen schwarzen Augen auf seine Brüder und seinen Vater. Wie Rabenfedern hingen drei winzige seidene Haarsträhnen über seiner Stirn.

»Er kam in einer Wolke«, flüsterte die Mutter, 139 »direkt vom Himmel herunter trug sie ihn zu mir. Als er kam, träumte ich gerade von einem Wolf . . .«

»Einem Wolf?« wiederholte der Vater mit größter Aufmerksamkeit.

»Kein böser, ausgewachsener«, warf die Großmutter ein, »es war ein junger, ganz possierlicher. Auch ich habe ihn im Traum gesehen.«

»Kleiner Wolf . . .«, murmelte die Mutter.

»Kleiner Wolf!« wiederholte der Vater.

»Petit loup«, sagte Michael etwas unsicher. Gerade diese zwei Worte wußte er auf Französisch.

»Tiloup!« rief Pirre, »das Wölflein!«

»Das soll sein Name sein«, sagte die Großmutter, und der Vater nickte. Und so begann das Leben von Tiloup Minnegouche, einem neuen Indianerjungen von Labrador.

»Wir wollen ihn stark machen«, sagte der Vater, und sie folgten der alten Sitte. Estelle verließ ihren Platz neben der Wiege und holte einen großen, fein genähten und geleimten Birkenrindenbehälter herbei. Draußen vor dem Zelt füllte sie ihn mit Eisstücken und sieben Handvoll Schnee, dann stellte sie den Behälter innen neben dem Feuer nieder und wartete, bis der Schnee geschmolzen war und die Eisstücke im kalten Wasser schwammen. Der Vater ging zur Wiege und entfernte die Kleidungsstücke von dem Körper des Kindchens. Tiloup schrie nicht. Die ganze Familie sah mit schweigender Spannung zu.

Nun beugte der Vater sich über das Rindenbecken und tauchte das winzige Kind direkt zwischen den drei großen Eisstücken tief ins Wasser ein. Da zeigte Tiloup die Kraft seiner Lungen und fing ganz fürchterlich an zu schreien. Der Vater drehte ihn noch einmal herum und reichte ihn dann der Großmutter, die ihn sorgfältig wieder in seine Kleider einhüllte, in die Wiege zurücklegte und mit der Schneehasendecke zudeckte. Sofort fiel Tiloup in einen tiefen Schlaf. 140

»Der wird einmal ein feiner Jäger!« sagte der Vater. Pirre, Michael und Estelle wurden ausgeschickt, um die nächsten Nachbarn der Familie einzuladen. Ein Festmahl sollte veranstaltet werden, zu Ehren des neuen kleinen Minnegouche.

Die einzigen Indianer, die sie zu dieser Jahreszeit erreichen konnten, waren Saiko und Utisch. Als sie nach langer, beschwerlicher Wanderung bei dem alten Zauberer eintrafen, fanden sie ihn zu ihrer großen Enttäuschung nicht zu Hause. Sein Zelt war leer. Aber, sagten die Brüder zu Estelle, das brauchte nichts Schlimmes zu bedeuten. vielleicht hatte er nur im Dienste einer seiner geheimen Missionen gerade die Gestalt irgendeines Tieres angenommen. Es mochte sogar sein, daß er sich einfach unsichtbar gemacht hatte und jedes ihrer Worte ganz genau hörte. Er liebte es nicht, sich mit jungen Leuten einzulassen. Mit lauter Stimme luden sie ihn im Namen ihres Vaters ein.

Dann wanderten sie weiter, zu Saikos Jagdgrund und fanden den Krüppel munter in seinem Zelt. Er freute sich herzlich, als er die Nachricht hörte. Dann zog er seinen Freund Michael in die Ecke, wo er ihm die schon längst so bitter entbehrten Jagdstiefel überreichte. Wie ein guter Geist verteilte er Freude, wohin er kam. Dann erklärte er nicht nur seine Bereitschaft, die Einladung der glücklichen Familie anzunehmen, sondern versprach auch, daß er selbst den Festbraten stiften wollte. Er schickte Michael und Estelle zu ihren Eltern zurück, um auszurichten, daß er und Pirre »nahe dem Mond des zweiten Tages« im Minnegouche-Zelt eintreffen würden. So durfte Pirre also bei ihm übernachten und am Morgen mit ihm zum eisbedeckten Flusse gehen, wo Saiko einen ganzen Biberbau unberührt gelassen hatte, um dort jederzeit für eine würdige Gelegenheit einen Braten holen zu können. Diese Gelegenheit war nun gekommen.

»Der Vater hat die Spuren eines alten Bären gesehen«, erzählte Pirre, als sie sich zum Biberfang 141 aufmachten. Er zog den Schlitten, auf dem Saiko mit den Fanggeräten thronte.

». . . aber wir konnten ihn nicht finden. Du weißt vielleicht, daß ich einen Bären schießen möchte.«

Er hörte Saiko hinter seinem Rücken lachen.

»Ein Bär, Pirre, ist nicht wie anderes Wild. Alle Tiere leben in Herden, und jeder Tierstamm hat einen Häuptling. Aber bei den Bären ist das anders. Die sind keine Untertanen. Jeder Bär, Pirre, ist ein Häuptling, ein Herr des Waldes.«

»Jeder Bär ist ein Häuptling?«

»Das weiß jeder Jäger. Und wehe dem Indianer, der einem Bären nicht den Respekt erweist, den man einem Häuptling schuldig ist.«

»Ach, ich möchte so gern einen schießen!«

»Das hängt weniger vom Jagdglück als von deiner inneren Reife ab. Wer einen Bär schießt, ist kein Junge mehr, er ist ein Mann. Vielleicht denken die Waldgeister, daß du noch zu jung bist.«

»Was kann ich nur tun!«

»Lern erst alles andere. Dann, eines Tages lassen die Geister dich vielleicht einen schießen. Laß mich nun absteigen, wir sind am Biberbau.«

»Warte, Saiko. Ich helfe dir.«

»Du willst mir helfen, das ist spaßig!« Saiko lachte und glitt rasch und behend vom Schlitten. Er war schon beim Abladen, ehe der Junge noch die Ziehleine hatte fallenlassen. Pirre trug die Fanggeräte auf das Eis des Flüßchens, das hinter dem Biberbau flach und seicht wurde. Dort, wo sie standen, aber war es tief.

Mit der Axt in der Hand rutschte Saiko auf allen vieren auf dem Eise hin und her. Sie rammten eine Reihe Pfähle von Ufer zu Ufer ein und ließen nur in der aufgehackten Mitte eine Öffnung frei. Dort versenkten sie ein an zwei Pfählen befestigtes Beutelnetz, dessen Halteschnuren so eingerichtet waren, daß sie aus den Kerben gleiten würden, sobald der Biber sich im Netze fing. In der Mitte des Netzes am unteren Eisrand 142 befestigte der alte Jäger nun einen Signalstab, der sich verschieben würde, sobald der Biber im Sack war, den die wachsamen Jäger dann sofort zuziehen konnten.

Jetzt bekam Pirre den Auftrag, den Biberdamm zu zerstören. Sie hörten den Schrei des überraschten Bewohners und hörten, wie er der tieferen Seite des Flusses zuschwamm, denn die seichte war vom Eise versperrt. Aber der Zaun der eingerammten Pfähle hemmte ihm den Weg. Er konnte nur durch die Mitte entkommen, wo der Netzsack befestigt war. Der Signalstab fiel, und mit Händen und Füßen zog Saiko an der Schnur. Und schon rutschte das Netz aus den Kerben, und das Netz schloß sich um den gefangenen Biber. Mit einer Kraft, die Pirre dem Krüppel niemals zugetraut hätte, zerrte der alte Mann den Sack auf das Eis und warf ihn in den hohen Schnee des Ufers, damit der Biber keine Zeit hatte, das Netz zu zernagen und auszureißen. Ein einziger Axtschlag zwischen die Schulterblätter tötete das Opfer.

Unser größter Jäger, dachte Pirre in tiefer Bewunderung, nun weiß ich, warum sie Saiko den größten lebenden Naskapi nennen!

»Wie heißt er?« fragte der alte Mann, »hat er schon einen Namen?«

»Wer?« fragte Pirre, noch ganz mit seinen Gedanken beschäftigt.

»Und du willst einen Bären schießen! Deinen neuen Bruder meine ich natürlich, du Tölpel!«

»Sie nennen ihn Tiloup.«

»Gut, gut. Hier hätten wir also den Braten für Tiloups Fest.«

Sie zogen den Biber gleich an Ort und Stelle ab, ehe das Fell gefror, bedeckten die Eingeweide mit Schnee und machten sich mit dem noblen Geschenk zum Minnegouche-Zelt auf. Als sie ankamen, ging gerade die Sonne unter.

Mit größter Freude wurden sie empfangen. Nachdem Saiko Estelle und die Brüder genau über das 143 Herrichten des Bratens unterwiesen hatte, setzte der alte Mann sich nieder und nahm Tiloup auf seinen Schoß. Nachdem er viele unverständliche Worte über das kleine schlaue Gesichtchen hingemurmelt hatte, gab er der Großmutter ein schönes buntes Tuch, das sie als Glückszeichen über der Wiege aufhing. Dann gab er der Mutter eine bunte Glasperlenkette, an der ein quadratisch geformtes Paketchen von der Größe einer Walnuß befestigt war. Er selbst hing es ihr um den Hals.

»Die beste Vorbedeutung für die Zukunft liegt darin, daß du selber da bist!« sagte der Vater zu dem alten Mann.

»Singe!« sagte Saiko zur Mutter.

Estelle stand wieder an ihrem Lieblingsplatz neben der Wiege und zog langsam und rhythmisch an der Lederschnur. Die altertümlichen Lederornamente traten im warmen Schein des Feuers plastisch hervor. In ihrer natürlichen Grazie und Würde sah das junge Mädchen wunderschön aus, viel ernster und viel »indianischer«, als die heitere Vitaline gewesen war.

Mit einer schüchternen kleinen Vogelstimme begann die Mutter leise zu singen:

»Tiloup, mein dritter Sohn,
die Kraft deines Vaters
ist in deinen kleinen Gliedern.
Der Biber brät über dem Feuer.
Riechst du ihn, Tiloup?
Welch prächtige Feier
findet dir zu Ehren statt!
Saiko,
unser größter Jäger,
ehrt dich durch seine Gegenwart,
du Menschenknospe, Tiloup!
Auch du
sollst ein großer Jäger werden,
ein großer Fallensteller,
du, Tiloup, mein dritter Sohn . . .« 144

»Wie ich doch diese kleinen Kerle liebe, die auf den Jagdgründen zur Welt kommen!« sagte Saiko mit rauher Stimme. »Du, Michael, wurdest im Sommerlager geboren, deshalb hast du den Husten. Dort hat dich keiner ins Eiswasser tauchen können. Du, Pirre, hast Glück gehabt. Du stammst aus den Wäldern. Als du zur Welt kamst, habe ich genau so einen feinen Biber mitgebracht. Sei nicht traurig, Estelle, du brauchst es dir nicht zu Herzen zu nehmen, daß du ein Sommervogel bist. Bei Mädels ist das nicht so wichtig. Aber ein Jäger muß im Winter geboren sein.«

Das goldene Fett des Bratens tropfte zischend in die Flammen.

»Sprich zu ihm, Minnegouche, jetzt!« sagte Saiko, und der Vater trat zur Wiege und blies Rauchringe über das schlafende kleine Gesicht.

»Tiloup, ich will, daß du ein guter Jäger wirst,
daß du Fallen stellen lernst wie ein echter Minnegouche!
Zwei Brüder hast du, Tiloup:
Pirre und Michael,
und du sollst von beiden
ihr Bestes annehmen,
Pirres Gesundheit
und Michaels Verstand.
Wenn ich sterbe,
wirst du mit ihnen
diesen heiligen Jagdgrund der Vorfahren erben,
und das Gewehr deines Vaters
und seine Fallen
und alles, was er sonst besitzt.
Dies sollst du wissen, Tiloup,
damit du dir Mühe gibst,
ein Jäger zu werden,
ein Jäger in diesen Wäldern,
die den Vorfahren gehörten.«

»Jetzt können wir essen.«

»Ja, Saiko, das Mahl ist bereit.« 145

Ehe sie den ersten Bissen zum Munde führten, legte der Vater ein Stück Fleisch zu Ehren Utischs ins Feuer, des eingeladenen Nachbarn, der nicht zu Hause gewesen war. Als er seinen Namen murmelte, schoß eine große blaue Flamme züngelnd hoch.

Biberbraten ist das beste Fleisch der Wildnis. Sie freuten sich des köstlichen Mahls, zu dem es Banock gab und harten Heidelbeerkuchen. Tee gab es und Zucker, und der feinste Tabak duftete in den Pfeifen.

Zu schade, daß Pirre sich nicht an das Fest entsinnen konnte, mit dem seine eigene Geburt gefeiert worden war! Immer wieder mußten ihm Saiko und die Großmutter, Vater und Mutter versichern, daß es Tiloups Fest an Feierlichkeit und gutem Essen nicht nachgestanden hatte.

»Dein »Mistapéo««, sagte Saiko zu dem Neugeborenen, »deine Seele stammt von den Sternen her. Ein uralter Minnegouche hat sie dir gegeben, der vor langen Zeiten lebte. Er wickelte seine Seele in eine Wolke und schickte sie auf die Erde, wo sie sich von der Wärme deiner Mutter und der Kraft deines Vaters neu belebte. Und hier bist du nun unter uns: dieselbe alte Seele, aber fein neu ausstaffiert.«

Tiloup gähnte. Vielleicht war das seine Art, ja zu sagen.

»Und laß dich nur nicht mit Geschichten über den Wittegu erschrecken, der manchmal kleine Kinder frißt. Du bist ein schlauer Kerl und wirst nicht so dumm sein, ihn herauszufordern. Also brauchst du dich auch nicht vor ihm zu fürchten. Wenn er auch nicht gerade sanft aussieht, so tut er doch braven Kindern nichts. Seine Haut ist wie die Rinde einer Ulme. Für Kleider ist er zu groß, deshalb hat er keine an. Aber wenn du den Wald liebst, so wird der Wittegu dich lieben. Nur pfeife niemals im Freien – das ruft zu viele Geister herbei, mit denen du nicht fertig werden kannst.«

Wieder öffnete Tiloup sein rosiges Mündchen, um zu gähnen. Seine Mutter legte ihn an ihre Brust. 146

Heute nacht war es recht voll im Minnegouche-Zelt, denn Saiko blieb zum Schlafen. Allerdings nahm er nicht viel Platz weg. Im allgemeinen verabscheute er Leinwandzelte wie dieses. Sie stammen aus der hinterlistigen Welt der Weißen, die zu jung ist, um gut zu sein. Früher waren alle Menschen Rothäute. Aber Saiko liebte die Minnegouches, und deshalb verzieh er ihnen dieses Zelt.

Ehe sie sich niederlegten, bestand der Vater darauf, noch der »Vier Mächtigen« zu gedenken, denn es wäre unhöflich gewesen, sie an einem so wichtigen Tage zu übergehen.

»Sag du etwas über sie, Saiko«, bat er, denn niemand verstand die großen Geister zu ehren wie dieser alte Mann.

»Da ist nicht viel zu sagen«, behauptete Saiko, aber er fuhr sogleich fort, »die Vier Mächtigen regieren die vier Himmelsrichtungen. Alle Indianer hängen von ihrer Gnade und freundlichen Gesinnung ab. Tiloup kann nicht zeitig genug anfangen, über das, was sie lieben und verabscheuen, nachzudenken.

Wuapan nischu, der »Mann des Tageslichts«, lebt im fernen Osten. Er ist nur einer von den vieren, die aber nicht miteinander verwandt sind und keinen Verkehr miteinander suchen. Man nennt ihn auch den Ostmann. Er hat nur eine Leidenschaft: zu essen. Er ißt ununterbrochen, und was er erblickt, will er in seinen Mund stopfen. Er heiratet nicht, denn er ist so gierig, daß er den Anblick seiner eigenen essenden Kinder nicht ertragen könnte. Er haßt es, Blut zu sehen. Wo er es findet, bedeckt er es mit Schneewehen. Deshalb müssen die Indianer vorsichtig sein und dürfen ihm kein Blut zeigen.

Der zweite ist Nakape han, der »Westmann«. Er ist ein guter Geist, der den Menschen Glück bringt. Um ihn zu erfreuen, tun wir, was wir gerade für Utisch taten. Wir werfen ein Stück bestes Fleisch ins Feuer und sagen dazu: »Westmann, sei zufrieden!« Auch er ist 147 Junggeselle geblieben, wenn auch aus anderen Gründen: Er konnte keine Frau finden, die er liebte. Die Männer sind ihm lieber. Er kann ihnen keine Bitte abschlagen und gibt ihnen eine gute Jagd, Fische und alles, worum sie ihn bitten.

Tschiuat nischu, der »Nordmann«, gleicht dem Vielfraß, der Wolverine. Wir fürchten uns vor ihm. Er macht das kälteste Wetter, in dem die Menschen verhungern und erfrieren. Wie der Ostmann haßt auch er den Anblick von Blut. Wenn er uns einen ganz besonders schrecklichen Winter bereitet hat, zieht er sich manchmal zum Ausruhen in sein Häuschen weit oben im Norden zurück. Aber er kommt stets wieder. Auch er ist unverheiratet. Keine Frau könnte es bei ihm aushalten, so kalt ist er. Seht mich an. Nun werfe ich ein gutes Stück Fleisch und etwas Tabak ins Feuer, und dazu sage ich: »Tschiuat nischu nahil ueschi!«, »Nordmann, sei zufrieden!««

Er hielt inne, tat, was er sagte, und beobachtete die Minnegouches, die dasselbe taten. Alle murmelten in Demut und Ergebenheit:

»Tschiuat nischu nahil ueschi!«

Großmutters Finger berührten das goldene Kreuz aus der Kirche des weißen Mannes, um zu der Magie der alten Formel die Kraft des »Geisterholzes« oder Kruzifixes hinzuzufügen.

»Schowen schu, der ›Südmann‹«, fuhr Saiko fort, »ist, wie wir alle wissen, gut und freundlich. Er bringt uns das schöne Wetter und die angenehmen Dinge. Er hat keine Frau, weil es dort, wo er wohnt, zu heiß für sie wäre. Er schickt uns die Sommervögel und das gute Essen. Wenn wir seine Sommervögel sehen, nehmen wir ein Stück fettes Fleisch von der ersten erlegten Ente und werfen es ihm zu Ehren ins Feuer, damit er wiederkommt. Dazu sagen wir: »Südmann, sei zufrieden! Komm wieder, wir sehnen uns nach dir, denn der Nordmann hat uns sehr gequält.«

»Man kann gegen die Vier Mächtigen nicht höflich genug sein«, beendete er seine Worte und wandte sich 148 nochmals direkt an Tiloup, »denn sie verlangen Ehrerbietigkeit. Folgst du ihren Wünschen, so werden sie dich belohnen.«

»Hast du auch mir das alles erklärt, als ich gerade auf die Welt gekommen war?« fragte Pirre.

»Selbstverständlich. Deshalb bist du so gesund. Die wichtigsten Dinge soll man den Kindern erklären, ehe sie groß genug sind, einen mit dummen Fragen zu unterbrechen. In dem Alter können sie es noch unverdünnt in ihre Seele aufnehmen.«

Da fragte Michael: »Aber können die ganz kleinen Kinder deine Worte denn auch verstehen?«

»Oh, ihr Geister! Wenn jemand, der direkt aus den Wolken kommt, es nicht versteht, wer sonst kann es denn in seinen Kopf hineinkriegen?«

»Nächsten Sommer werfen sie das Wasser des weißen Mannes auf Tiloup«, sagte Estelle, »der Priester wird es in der Kirche tun.«

»Fein, fein«, murmelte Saiko, »warum auch nicht?«

Als sie sich alle zum Schlafen hingelegt hatten, hörte man ein kurzes leises Gurren in der Wiege.

Das ist Tiloups erstes Gespräch mit den Vier Mächtigen, dachte Pirre. 149

 


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