Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Vorwort

Der Held dieses Buches ist der junge Indianer Pirre Minnegouche vom Stamme der Naskapi. Nicht die Phantasie eines weißen Mannes hat seine Abenteuer ersonnen, sondern das Leben selbst hat seine Geschichte aufgeschrieben. Der Forscher aus der Welt der Zivilisation brauchte ihm nur nachzugehen und die Zeichen aus den uralten Bäumen der Jagdgründe, den Wellen der gewaltigen kanadischen Seen, den Strahlen des Nordlichts und den Visionen des Lagerfeuers in die Sprache der weißen Welt zu übersetzen.

Noch heute durchschweift Pirre mit den Seinen die Urwälder Labradors, und sein Kanu trägt ihn über die Stromschnellen und Wasserwege des Inneren. Denn diese Indianer leben genau noch so wie in den uralten Zeiten, wie ihre Vorfahren vor vielen hundert Jahren.

Pirre kann weder lesen noch schreiben. Die Jagdgründe der Wildnis sind seine Schule gewesen. Die Künste und Wissenschaften, in denen er Meister ist, sind von anderer Art als die des weißen Mannes, der in den ungeheuren Wäldern Labradors ohne die Weisheit der Indianer verhungern und verderben müßte. Statt Büchern liest Pirre die Sprache der Bäume, der Tierfährten und des Vogelfluges, statt Mathematik und Physik hat er gelernt, Biber, Nerz und Luchs in seinen selbstgebauten Fallen zu fangen. Das Wort »Geschichte« ist ihm unbekannt – statt von Kriegen und Heerführern vernahm er von Kindheit an die uralten Zaubergeschichten der Wildnis, die Saiko, der große Jäger, ihn gelehrt hat. Das Angeln versteht er und das Fischen mit Netzen, aus zerbrechlicher Birkenrinde kann er ein festes Boot bauen, und er weiß, wie man einem Elch oder Bären das Fell abzieht. 8

Dieses Buch erzählt die wahren Abenteuer Pirres und seiner Familie, so wie sie sie im Verlauf eines Jahres erlebten. Wenn der Frühling kommt, brechen die Indianer von ihren Jagdgründen in der Wildnis auf, um ihren kostbarsten Besitz, die während des Winters erjagten Pelze, an die Ufer des Johannissees, Lake St. John genannt, zu bringen. Dort verkaufen sie ihre Pelze und genießen für ein paar kurze Wochen die Vorzüge des Lebens des weißen Mannes. Zeitig genug kommt der Herbst – und wieder reisen sie in die Wildnis zurück, um ihr mühsames und gefährliches Winterleben neu zu beginnen, bis der Kreislauf des Jahres abgeschlossen ist.

Als ich die Naskapiindianer Labradors zum ersten Male besuchte, war ich Professor für Völkerkunde an der New-Yorker Columbia-Universität. Um der Wissenschaft willen ging ich zu ihnen, denn ich gedachte, ihre uralten Rechtsbräuche, für den weißen Mann aufzuschreiben. Damals konnte ich noch nicht ahnen, daß ich unter ihnen Freunde finden würde, Freunde für mein ganzes Leben: Pirre und Saiko, Utisch und Vater Minnegouche. Als ich sie dann verlassen mußte, war ich ein glücklicherer Mensch geworden, denn außer meinen wissenschaftlichen Aufzeichnungen hatte ich das Wissen um eine köstliche, wilde Lebensweise und die Freundschaft der Indianer mitgebracht, die mir erlaubt hatten, bei Jagd und Fallenstellerei, in Kanu und Zelt ihr Kamerad zu sein und ihre Freuden und Leiden mit ihnen zu teilen.

Während der Zeit, als ich bei ihnen lebte, sind sie meine geduldigen Lehrmeister gewesen. Wir angelten zusammen in den Bächen und Seen, und sie unterrichteten mich in den Fertigkeiten der Jagdgründe. Ich weiß nun, wie man Rahmenschneeschuhe schnitzt und Körbe aus Birkenrinde zusammennäht, ich lernte das Flechten von warmen Decken aus dem Fell des Schneehasen, ja, ich kann sogar ein Fellzelt errichten und ein Kanu bauen. Wenn die Nacht kam, saßen wir am 9 Lagerfeuer, und ich lauschte ihren Geschichten von den Geistern und vom Mond und von dem mächtigen Nordmann, der so großen Einfluß auf das Jagdglück ausübt.

Als ich dann wieder in der Welt des weißen Mannes wohnte, beschäftigte das Leben dieser Indianer so sehr meine Gedanken, daß ich beschloß, der Geschichte ihrer Vergangenheit nachzuspüren. Bald darauf reiste ich nach London und besuchte das Mutterhaus der Hudson's Bay Company an der Bischofspforte, wo ein goldener Biber sich als Wetterfahne im Winde dreht und wo die alten geschnitzten Portale das Wappen mit den zwei Elchen, den vier Bibern, dem Fuchs, dem Kreuz und der Krone tragen, unter dem die Worte stehen: »Pro pelle cutem.« Dort erlaubte man mir, in dem gewaltigen Steingewölbe zu sitzen, wo die Chroniken der Wildnis verwahrt werden, die Generationen längst verstorbener Beamter dieser Firma aufgeschrieben haben. Wie es noch heute geschieht, kauften sie einst die Felle der Indianer in der Wildnis von den Naskapijägern. Sie hatten mit ihnen gelebt wie ich, nur hundert und mehr Jahre vor meiner Zeit. Die vergilbten Seiten dieser alten Tagebücher erzählten mir von den Bräuchen der Wildnis vom siebzehnten Jahrhundert bis in unsere Tage, und ich lernte durch sie die Großväter und Urgroßväter meiner eigenen Indianerfreunde so intim kennen, als wären sie mit mir im Zelt gewesen.

Da wurde mein Heimweh nach ihnen so stark, daß ich wieder in die Wildnis zurückkehrte, um ihnen von ihrer eigenen Vergangenheit zu erzählen. Einige der uralten Männer, wie Saiko und Utisch, erkannten die Wahrheit meiner Berichte, und seitdem behandelten sie mich als einen der ihren. Sie ließen mich an ihren geheimen Zeremonien teilnehmen und enthüllten mir ihr tiefes Wissen über Geister und Tiere, Sterne und Gewässer.

Als ich dann später meinen Studenten von den Rothäuten Labradors erzählte, begann ich zu wünschen, daß nicht nur Forscher und Völkerkundler, sondern alle Freunde menschlicher Schicksale vom Leben der 10 Naskapiindianer erfahren sollten. Für sie habe ich die Abenteuer aufgeschrieben, die ich mit Pirre und seinen Kameraden erlebte. Unsere Welt ist so laut – gut scheint es da, von der Weisheit und Stille der Wälder zu vernehmen. Nachts, am Lagerfeuer der Wildnis, wird die Seele des Menschen ruhig und man beginnt, die Größe der Schöpfung zu verstehen. Das Herz des Fremden, der an solchem Leben teilnimmt, erfüllt sich mit Liebe und Achtung für alles, was da wächst und atmet, und Friede wohnt in den Träumen, die das Nordlicht schuf.

Baum und Wolke werden lebendig, der Bär ist der Herr des Waldes, und die geheimen Abenteuer der Zwerge, die unter den Wurzeln hausen, werden Wirklichkeit. Dann kann es wohl kommen, daß man nachts, wenn man zum gestirnten Himmel aufblickt, den Indianer Zegabek erkennt, der aus dem Mond auf uns herniederlacht, und daß sogar Saiko eine besondere Sternschnuppe aus der Milchstraße herunterschickt, den Lebenden zum Gruße.

New York 1946

Julius Lips

 


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