Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Elftes Kapitel

Die gestohlenen Fallen

Wenn er so an Tiloup dachte, fiel es Pirre zum ersten Male ein, daß die Welt nicht ausschließlich um ihn selbst herum gebaut war, sondern daß es Pflichten und Verantwortungen gab, die über das Interesse des einzelnen hinausgingen. Natürlich war Tiloup hauptsächlich der Sorge der Frauen anvertraut, und Pirre brauchte sich nicht um sein leibliches Wohl zu bekümmern. Aber ihm kam jetzt öfters der Gedanke, daß vielleicht einmal der Tag kommen könnte, wo das 150 Wölflein mit allen seinen Sorgen und Freuden von ihm abhinge, und dieser Gedanke hatte großen Einfluß auf seine Gefühle. Ohne es selbst zu merken, änderte sich sein selbstsüchtiges »Großer-Bruder-Benehmen«, und er begann den kleinen Jungen mit einer Art Schützerinstinkt zu betrachten, als etwas Kostbares und Hilfloses, das der ganzen Familie und vor allem ihm selber von höheren Mächten anvertraut war. Die Zartheit so eines kleinen Kindes war doch eigentlich etwas Rührendes, und in aller Stille beschloß Pirre, Tiloup niemals im Stich zu lassen.

Die Tatsache, daß die Minnegouche-Männer sich jetzt fast ausschließlich mit den in langer Reihe gestellten Fallen zu beschäftigen hatten, paßte irgendwie in diesen Gedankenkreis. Denn beinahe ihr gesamter Lebensunterhalt hing ausschließlich von den in diesen Fallen gefangenen Tieren ab. Das Schießen größeren Wildes war eine Glückssache, mit der man nicht rechnen konnte. Das richtige Aufstellen und Überwachen der Fallen aber bedeutete die Sicherung der täglichen Nahrung für die ganze Familie.

Solange Pirre denken konnte, hatte der Vater weit draußen am äußersten Ende des Jagdgrundes die vierzig Meilen lange »Fallenlinie« angelegt, die ihm jedes Jahr seine guten Pelze für die Company und genug Fleisch für die Familie lieferte. Die Westgrenze dieser Fallenlinie endete bei dem kleinen Wasserfalle nahe am Mistassini, wo sie nach der Rückkehr vom Sommerlager ihre Kanus angelegt hatten. Im Norden und Osten aber führte sie durch Hügelland mit hohen Pappeln, Birken und Bergeschen. Die moosgrünen und kahlen Felsen dort waren nur von spärlichem Gestrüpp umwachsen.

Auf dieser langen Strecke stellten sie ihre Fallen, etwa fünf bis sechs pro Meile. Dazwischen bauten sie Schlingen mit dem Kupferdraht der Company. Ungefähr alle elf Meilen hatten sie Lagerplätze errichtet, wo man geschützt und sicher übernachten konnte. Es war durchaus keine leichte Arbeit, die Fallen tadellos in Ordnung 151 zu halten. Wenn Schnee fiel, verdarben und verschwanden die Köder, und oft lösten kleine Nagetiere die für größeres Wild bestimmten Fallen aus und machten sie wirkungslos. Sie hatten so viele Fallen, daß tatsächlich drei Männer dazu nötig waren, sie dauernd zu überwachen. Es waren von der Company gekaufte Stahlfallen in genormten Größen je nach der Art des zu fangenden Wildes. Nur der Vielfraß, die Wolverine, die die Indianer den »Teufel des Waldes« nennen, machte eine Ausnahme. Selbst aus meilenweiter Entfernung nahm sie den Geruch des Metalls des weißen Mannes wahr und wußte es zu meiden. Sie roch sogar die Spuren der Axt. Deshalb mußte man für die Wolverine Holzfallen von der Art bauen, wie die Naskapi sie seit Jahrhunderten anzufertigen wußten. Viele der modernen Indianer hatten längst die Kunst der Konstruktion der alten Holzfallen vergessen, und nicht drei unter fünfzig verstanden es, die alten Modelle zusammenzusetzen, von denen Männer wie Saiko und Utisch noch immer behaupteten, daß sie wirkungsvoller waren als alle Metallkonstruktionen, die der weiße Mann je ersonnen hat.

Der Vater, Michael und Pirre hatten wieder einmal die ganze Fallenlinie nachgesehen und hatten im Westen in der Nähe des Wassers noch eine zweite parallel angelegt, um Marder und Hermeline zu fangen, deren Fleisch zwar nicht besonders gut schmeckt, deren Pelze aber von Mr. Angus hochgeschätzt wurden. Besonders die Marder liebten den dichten Tannenwald, den sie nachts auf der Jagd nach schlafenden Eichhörnchen und Kaninchen durchschlichen. Während des Sommers trockneten die Indianer ganz bestimmte Fischarten zum ausschließlichen Gebrauch als Marderköder für den Winter. Schon als kleiner Junge hatte Pirre gelernt, Marderfallen in den Baumstümpfen zu bauen. Man fällte einen mittelgroßen Baum, ließ den Stumpf stehen und umgab ihn mit einem Zaun aus zugespitzten Hölzern, der nur einen kleinen Eingang offen ließ, den direkten Weg zur Stahlfalle in der Mitte der 152 Schnittfläche des Baumstumpfes. Da diese Fallen über den Schnee hinausragten, waren sie leicht sauber zu halten und brauchten nur etwa alle fünf Jahre erneuert zu werden.

Aber die wirklich lebenswichtigen Fallen befanden sich im nördlichen und östlichen Teile ihres Jagdgrundes. Dort, wo enge Wasserläufe zum Hügelland hinführten und steile Abhänge sich aus dem fast undurchdringlichen Wald erhoben, war das ideale Gelände zum Fang des kanadischen Marders, Mustella pennanti, den die Indianer »Fischer« nennen, obwohl er seine Beute nicht aus dem Wasser holt. Seine Lieblingsnahrung sind Stachelschweine, denen er bis zur Vernichtung ihres ganzen Geschlechts unermüdlich nachstellt. Auf dem Jagdgrund der Minnegouches war es den Mardern tatsächlich schon gelungen, die Stachelschweine fast gänzlich auszurotten, deshalb wanderten sie bereits in andere Gebiete ab, wo die kleinen Rüsseltiere noch zahlreich vorhanden waren, und nur selten noch gelang es den Minnegouches, noch einen »Fischer« auf ihrem Land zu finden.

Pirre entsann sich noch gut des einen Marders, den sie im vergangenen Jahr nach langen Nachstellungen endlich gefangen hatten. Wie alle »Fischer« war er leicht und unvorsichtig in die gestellte Falle gegangen, denn die scheue Voraussicht der meisten größeren Tiere war seinem Wesen fremd. Aber sobald die Metallzähne des Marterinstruments ihn gepackt hatten, hatte er es mit verzweifelter Kraft aus seiner Befestigung losgerissen und es mit sich fortgeschleppt, bis er sich unter Verlust eines Fußes von ihm zu befreien vermochte. Eine Woche später hatte sich der neue dreibeinige Marder wieder in einer anderen Falle gefangen, die zur Vorsicht an einem hohen Holzpfahl mit einer langen Stahlkette verankert war. Es war fast unglaublich, daß er auch aus dieser zweiten Gefangenschaft entkam, indem er mit der Falle in seinem Pelz den nächsten Baum erkletterte und den Holzpfahl von da aus mit seinen Zähnen durchnagte. 153 Erst beim dritten Male wurde er endgültig zum Opfer menschlicher Tücke, denn die Falle, in der er sein klägliches Ende fand, war zwar wieder an langer Kette an einem Holzpfahl befestigt, aber diesmal hatten seine Verfolger alle Bäume im Umkreis gefällt, und so gab es kein Entkommen mehr.

Noch nie war der Vater so mit der Ausbeute aus seinen Fallen zufrieden gewesen wie in diesem Jahr, seit das Wölflein zur Welt gekommen war. Einen großen Teil seines Pelzgeldes hatte er zum Ankauf guter neuer Fallen verwandt, und wenn der Winter »normal« blieb, würde keine Hungersnot die Familie bedrohen. Er hatte auch verschiedene gute Luchsfallen aufgestellt, die zum Anlocken der Beute mit Castoreum oder Bibergeil bestrichen waren, einer Substanz aus den Fettdrüsen des Bibers, dessen Geruch die großen Wildkatzen unwiderstehlich anzog. Außerdem hatte der Vater Bären-, Biber- und Otternfallen und zahlreiche Fallen für kleineres Getier kunstgerecht in den Wildpfaden aufgestellt.

Nur zu kurzen Besuchen kehrten sie zum Zelt zurück, um Fleisch heimzubringen oder sich selber einmal richtig durchzuwärmen. Es war gut, wenigstens während der einen oder anderen Nacht einmal nicht unter dem freien Himmel zu schlafen und die Geräte und Werkzeuge in Ruhe zu reinigen und einzufetten, ehe sie wieder zu den entlegenen Regionen der gestellten Fallen zurückkehrten.

Zum ersten Male seit langer Zeit waren sie eine ganze Woche lang im Zelt geblieben, aber am Morgen des letzten Tages trug der Vater eine seltsame Unruhe zur Schau. In einem bösen Traum hatte das Gespenst des Hungers sich ihm gezeigt und er hatte die Umrisse eines Mannes zu sehen gemeint, der Übles im Schilde führte. Wenn ein Indianer etwas Derartiges träumt, kann keine Macht der Welt ihn davon abhalten, seine Sicherungsmaßnahmen zu ergreifen. Er ließ Michael zum Schutz der Frauen im Zelt zurück und machte sich mit Pirre auf den Weg, um wieder nach den Fallen zu sehen. 154

Nach einem Marsch von zwei Tagen kamen sie zu den Marderfallen beim Wasserfall. Sie bemerkten Schneeschuhspuren im Schnee, aber das war nichts Außergewöhnliches, denn oft kamen andere Indianer hier vorbei. Dennoch war es seltsam, daß nicht ein einziger Marder sich gefangen hatte. Sie gingen von Falle zu Falle und fanden nichts.

»Jemand hat sie verscheucht«, mutmaßte Pirre.

»Unsinn«, sagte der Vater, »Marder sind nicht so scheu.« Er kniete neben einer leeren Falle nieder und hielt seine Nase an den Boden. Es war eine gut gereinigte schneefreie Stelle unter den dichten Zweigen der Bäume. Plötzlich stieß er einen Fluch aus.

»Riech selbst!« sagte er, und der Junge kauerte sich neben ihn hin.

»Schießpulver!« rief er aus, »das Pulver des weißen Mannes!«

»Hier hat jemand Patronen ausgeleert«, sagte der Vater mit wilden Augen, »kein Indianer kann so gemein sein. Aber hier gibt es keine Weißen. Wenn ich nur wüßte, wer der Verbrecher war! Verhungern müßte er, sterben!«

Noch nie hatte Pirre seinen Vater so aufgebracht gesehen. Aber allerdings hatte er Grund genug dazu. Der Geruch von Schießpulver verscheucht jedes wilde Tier im Umkreise, und alle damit verpesteten Fallen sind unbrauchbar.

Fahrlässigkeit oder Zufall waren hier ausgeschlossen. Der Mann, der alle Minnegouche-Fallen dieser Gegend mit Schießpulver bestreut hatte, mußte einen ganz bestimmten Zweck verfolgt haben. Wenn es ein Indianer gewesen war – und es gab keine andere Möglichkeit –, mußte er Vaters Eigentumszeichen gesehen haben, das deutlich im Metall der Fallen eingeritzt war. Und damit wurde die Untat zu einem gegen ihn persönlich gerichteten Verbrechen.

Während sie zu den nächsten Fallen weitergingen, äußerte Pirre einen schnellen Verdacht. 155

»Vielleicht war es Piton«, sagte er, denn der faule Indianer hielt sich vielleicht gerade bei seinen Verwandten am Mistassini auf.

Aber der Vater wollte davon nichts hören.

»Wie kannst du es wagen, so einen Verdacht zu äußern? Was für einen Beweis hast du? Schäm dich!«

Aber Pirre ließ sich nicht einschüchtern.

»Oder Pelkutagen?« riet er weiter, »er machte so scheele Augen, als er unsere vielen Nerze und Marder im Hause der Company sah.«

»Halte deinen Mund!« fuhr der Vater ihn in einem Tone an, der weitere Mutmaßungen im Keim erstickte.

Sie kamen nun an die Stelle, wo sie eine Schlinge aus feinem Kupferdraht ins flache Wasser gelegt hatten, damit der Nerz sich dort mit unbeschädigtem Pelz ertränke. Die Falle war verschwunden.

Jetzt war keine Zeit für weitere Unterhaltungen. Hastig atmend gingen sie in östlicher Richtung weiter, erklommen die Hügel, drängten sich durchs niedrige Gebüsch, durchkletterten die Klippen und stießen ihre Füße an den spitzen Steinen. So eilig lief en sie über den vereisten Boden, daß sie wiederholt ausrutschten und hinfielen.

Überall sahen sie Schneeschuhspuren. Überall war der Draht ihrer Schlingen verbogen oder gewaltsam ausgerissen. Der Feind hatte gründliche Arbeit getan.

Sie errichteten ein hastiges Nachtlager, brieten Speck und schlürften eine Tasse Tee. Dann eilten sie weiter, sobald es hell genug wurde, der Spur zu folgen.

Als sie zu den Hauptfallen kamen, sahen sie, daß der Mann, der ihr Eigentum zerstört hatte, ein Dieb war. Schnee, Eis und Erde sprachen als schweigende Zeugen von den Einzelheiten der Untat. Die sorgfältig kamouflierten Befestigungsringe am Ende der Fallenketten waren mit Gewalt aus den Halteringen gerissen, und viele Fallen waren an ihren Ketten fortgeschleift worden. Überall lagen die Überreste der Köder und der so exakt gebauten Fallenzäune herum. Alle neuen Bärenfallen 156 und die meisten Biber- und Otternfallen, alle Schlingen und sorgsam gebauten Gerüste waren verschwunden.

Die schwachen Strahlen der Nachmittagssonne fielen auf Pirres und Vaters Gesichter, als sie vor diesem Bild schrecklicher Verwüstung standen. Sie sprachen kein Wort. Aber tiefe Falten zeigten sich auf Vaters Stirn, er preßte die Lippen zusammen wie in körperlichem Schmerz. Pirre weinte hemmungslos.

Schlimmer als Mord war dieser Diebstahl ihrer besten Stahlfallen. Kalten Blutes war die Tat begangen worden. Die Eifersucht und die Rache eines Wahnsinnigen hatten sich gegen sie persönlich gerichtet. Leidenschaft kann einen Mann dazu treiben, einen anderen zu töten. Aber ein Mann, der kalten Blutes eine ganze Familie zum Hungertode verurteilte, ist schlimmer als ein Mörder.

»Er muß sterben«, murmelte der Vater mit geknirschten Zähnen. »Die Geister haben ihn gesehen. Nichts geschieht ohne Zeugen in diesen Wäldern.«

Sie verließen die verwüstete Stätte, um zum Zelt zurückzukehren. Ohne Rast gingen sie unter dem hellen Nachthimmel weiter, bis sie bei den Ihren waren. Sie machten erst halt, als sie das friedliche Zelt erblickten, hungrig, ausgekältet und verzweifelt.

Es wurden kaum Worte gewechselt. Der erste natürliche Impuls der Rache, die Frage: »Wer hat uns das angetan?« war einem anderen Gefühl gewichen: Angst vor der Zukunft, schreckliche Bangigkeit. Es war so kalt, daß Mensch und Tier nur von dem einen Wunsch beseelt waren, zu leben. Schnee und Eis bedeckten die Tierfährten, und täglich konnte man neue Schneestürme erwarten. Wie gut hatte der Vater für seine Familie gesorgt, und nun waren die Fallen verschwunden! Die Fallen! Je näher sie der Wärme des Zeltes kamen, um so bitterer wurde ihre Sorge um die Hilflosigkeit derer, die auf Speise warteten.

Und immer mehr lernte Pirre, sich selber über den anderen zu vergessen. Das Leben zeigte ihm seine eigene 157 Unwichtigkeit. Und seine Gedanken kreisten unaufhörlich um das Schicksal der anderen.

Ehe sie eintraten, lauschten sie dem friedlichen Geplauder der Frauen, die sich über die Bisamratten unterhielten, die Muskrats, und ihre Erbfeinde, die Eulen, Nerze und Füchse. Pirre und der Vater hörten sie über die Biber und die Muskrats lachen, diese »Nachtschwärmer«. Mit schweren Schritten traten sie zu den Ihren. Michael und die Frauen waren gerade dabei, »Musquasch«-Felle auf die hölzernen Trockenrahmen zu spannen. Sie hatten nahe beim Zelt ein paar Fallen gestellt und wollten wohl den Vater mit ihrem Fang überraschen. Als sie die Gesichter der Eintretenden sahen, verstummte ihr Lachen.

Als der Vater ihnen gesagt hatte, was geschehen war, brachen Estelle und die Mutter in wildes Weinen aus. Michael wurde ganz gelb im Gesicht und legte schweigend seine Hand auf sein Herz. Die Großmutter saß wie zu Stein erstarrt. Nur Tiloup in seiner Wiege schmatzte vor Vergnügen.

Tiloup! Als Pirre an ihn dachte, strömten neue Tränen über sein Gesicht.

Sie aßen. Sie ruhten sich aus. Von nächster Woche an würde kein Fleisch mehr in diesem Zelt vorhanden sein, und neunzig Prozent der Indianernahrung besteht aus Fleisch.

Als Geschlagene saßen sie um das warme Feuer. Endlich unterbrach Großmutters Stimme das schreckliche Schweigen. Sie wandte sich an den Vater.

»Aschil Minnegouche, dein Vater, wäre in einer solchen Lage nicht verzweifelt. Dein Vater hielt nie viel von den Fallen des weißen Mannes. Er baute seine Fallen in der alten Art.«

Der Vater hob den Kopf, und plötzlich leuchteten seine Augen auf.

»Holzfallen –« flüsterte er.

»Hölzerne Fallen«, murmelte die alte Frau, »so wie sie den Geistern der Wildnis wohlgefällig sind . . .« 158

»Ich durfte ihm helfen –«, sagte der Vater sinnend, mit der Scheu eines Kindes. Plötzlich sprang er auf.

»Ja!« rief er mit einer neuen, einer triumphierenden Stimme, »ja! Wir können es tun! Ich habe die hölzernen Fallen noch nicht vergessen! Morgen, meine Söhne, gehen wir zu den Wildpfaden und bauen die alten Fallen! Wenn die Vier Mächtigen es wollen, so können sie unser Leben retten!«

»Vater!« riefen die Brüder wie mit einer Stimme, »Vater!« Jähe Hoffnung erfüllte ihre Herzen, sie waren wie neugeboren. Alle sprachen mit lauten Stimmen durcheinander. Tiloup begann zu schreien. Draußen bellten die Hunde.

Gerettet waren sie, gerettet! Die hölzernen Fallen würden sie bauen, so wie ihre Vorväter sie gebaut hatten. Und in diesem neuen, begeisterten Stimmungswechsel gedachten sie plötzlich wieder des Mannes, »der es getan hatte«. Da die Indianer an ihresgleichen nur in Freundschaft zu denken gewohnt sind, wurden keinerlei Verdächtigungen laut. Aber heimlich dachten sie alle: »Nur ein Weißer kann eine solche Tat begehen«, dennoch waren sie zu gerecht, um es auszusprechen. Sie würden warten. Es würde an den Tag kommen. Die Geister hatten den Mann gesehen. Sein Tod war mit seiner Tat besiegelt.

Am Morgen packten sie den Schlitten und spannten die Hunde vor. Außer dem Proviant bestand die Ladung aus Äxten und Lederstreifen, Fichtenwurzeln und Ködern aus Bibergeil und getrocknetem Fisch. Dazu luden sie Holz auf, viel Holz und Birkenrinde. Vor dem Zelt stand die Großmutter. Sie gab Michael eine Anzahl seltsam gestalteter winziger Päckchen mit, die Glücksamulette enthielten. Hing man sie neben einer Holzfalle auf, so lockten sie nach dem alten Glauben das Wild an, denn auf ihnen ruhte der Segen der Vier Mächtigen.

Beim ersten Nachtlager unter freiem Himmel erzählte der Vater seinen Söhnen ein Erlebnis Tommy 159 Moars, dessen Jagdgrund an der Grenze zur Welt des weißen Mannes lag. Auch er hatte einst eine lange Reihe Fallen weit entfernt von seinem Zelt gestellt und erhielt beim Übernachten auf dem Wege zur Fallenlinie plötzlich den Besuch eines Weißen.

»Es war ein Französisch sprechender Kanadier. Er begrüßte Tommy aufs freundlichste und wurde von ihm zum Mahl eingeladen. Er verbrachte die Nacht mit ihm unter dem freien Himmel, und am Morgen verließ er ihn unter großen Dankesbezeigungen.

Am nächsten Tage kam ein anderer weißer Mann in Tommys Lager. Der Sohn des ersten war er, und er brachte eine Botschaft von seinem Vater. Tommy sollte sofort alle seine Fallen aus den Wildpfaden entfernen, denn der weiße Mann, der sein Gast gewesen war, wollte selbst dort jagen. Es war Tommys Jagdgrund. Natürlich weigerte er sich, das Verlangte zu tun. Sein Wild war es, er hatte es sich für den Winter aufgespart. Als er zu seinen Fallen ging, sah er, daß sie alle mit Ästen und Holzstücken ausgelöst waren. Der ganze Umkreis war mit Schießpulver bestreut.«

Nur ein Weißer konnte so etwas tun, dachte Pirre. Vielleicht dachte sein Vater dasselbe.

Als sie an der verwüsteten Stätte ankamen, reinigten sie zuerst den Boden von den Spuren der Zerstörung. Dann suchten sie nach neuen Wildpfaden und warfen noch einen letzten Blick auf das zerstörte Biberhaus, wo das kostbare Männchen, das sie hatten fettwerden lassen, mitsamt seinem prächtigen Pelz verschwunden war. Dann aber vergaßen sie die Niedrigkeit der Menschen. Der Vater brauchte alle seine Gedanken, um sich der Konstruktion der Holzfallen zu entsinnen. Seine Söhne ließen ihre Augen nicht von dem Werk seiner Hände und brachten ihm eilig herbei, was er verlangte. Die harten Hände des Jägers zeigten eine erstaunliche Geschicklichkeit, wenn er seine Knoten band, Schlingen ineinander legte und winzige Teile für den Auslösemechanismus schnitzte. Niemals in ihrem ganzen Leben 160 würden sie vergessen, was er jetzt in ihrer größten Not für seine Familie tat. Jede kleinste Einzelheit bewahrten sie in ihrem Gedächtnis. Vielleicht würde der Tag kommen, wo das, was sie jetzt von ihrem Vater lernten, ihnen und ihren Kindern das Leben retten würde.

Im dichten Untergestrüpp brachen sie eine Reihe »Tunnel« und legten Leder- und Wurzelschlingen vor die Öffnungen. Diese Schlingen waren genau so wirkungsvoll wie der Kupferdraht des weißen Mannes, nur waren sie menschlicher, denn die elastischen Stränge zogen sich sofort um den Hals des Opfers zu und ersparten ihm die Qual langsamen Sterbens. Schneehasen, wilde Kaninchen und Rebhühner würden sich in diesen Schlingen fangen. Selbst der Vater hatte vergessen, wie gut diese Schlingen waren, und er gelobte an Ort und Stelle, keine anderen mehr zu benutzen, selbst nach dem nächsten Sommer, wenn er wieder Kupferdraht hätte haben können. Das machte tiefen Eindruck auf Pirre. Zum ersten Male lernte er den Wert der alten Kunstfertigkeiten kennen.

Mit größter Aufmerksamkeit gingen nun er und Michael dem Vater beim Bau der ersten hölzernen Bärenfalle zur Hand. Seltsam, nun plötzlich hatten sie eine Stelle gefunden, wo sichtlich ein paar alte Bären, die scheinbar nichts vom Winterschlaf hielten, noch vor kurzem umhergetrampelt waren. Vielleicht hatten sie eine Höhle zum Überwintern gesucht, aber keine gefunden. Manchmal kletterten solche alten Nachzügler einfach in die Astgabel eines dicken Baumes, wo sie sich einschneien ließen. Manchmal aber wanderten sie ruhelos weiter im selben Revier herum, fischten im fließenden Wasser und witterten nach Nahrung. Dieser Angewohnheit war der Köder angepaßt, den sie für die Holzfallen mitgebracht hatten. Er bestand aus getrocknetem Fleisch, das mit Ahornsirup bestrichen und in Birkenrinde eingewickelt war. Fest mit Fichtenwurzeln umschnürt, blieb der Geruch der Speise trotz Schnee und Eis auf diese Art für lange Zeit frisch und lockend. 161

Für die Basis der Falle fällten sie zwei Bäume, die von vier starken Pfosten in ihrer Lage festgehalten wurden. Vorn ließen sie eine Öffnung von etwa sechzig Zentimeter Breite stehen. Innen mußten diese Pfosten sorgfältig geglättet werden, denn an ihnen sollte der Schlagbaum, der den Bären tötet, heruntergleiten. Pirre arbeitete an ihnen so lange mit seiner Axt, bis sie wie poliert aussahen. Der Vater war mit ihm zufrieden. Er ging nun daran, das komplizierte Hebelsystem des Auslösemechanismus mit dem Krummesser zurechtzuschnitzen, das so auf einen Baumstumpf hinter den Haltepfosten aufmontiert wurde, daß es in dem Augenblick, wo an dem Köder gezogen wurde, niederbrechen mußte. Die kleinste Verschiebung der Köderschnur löste dieses Hebelsystem aus und beraubte den Schlagbaum seiner Stütze. Wenn der Bär seine neugierige Nase durch die vordere Öffnung steckte, um den Geruch des Köders zu genießen, wenn er das Rindenpaket auch nur leicht berührte, mußte der ganze Mechanismus sich augenblicklich in Bewegung setzen. Der Schlagbaum war so gelegt, daß er auf den Hals des Bären niedersausen würde, und da noch einige weitere Stämme zur Belastung darüberlagen, würde Meister Petz schnell und ohne Schmerz getötet werden.

Fünf solche Fallen bauten sie im Wildpfad, eine nach der anderen. Das nahm drei Tage in Anspruch. Inzwischen fanden sie schon zwei Rebhühner in den Schlingen und brieten sie zu einem guten Mahl, ehe sie an den Bau der Otter- und Biberfallen gingen, die in großer Zahl errichtet werden mußten.

Als Köder genügten hier ein paar junge Pappeln vor und hinter der Falle. Sie hatten sie mitgebracht, denn hier wuchsen nur Birken, und ein Biber zieht eine junge Pappel jeder Nahrung vor. Auch hier mußten wieder zwei Pfostenpaare mit glatten Innenseiten für den Schlagbaum errichtet werden. Ihre oberen Enden wurden mit Fichtenwurzeln zusammengebunden, denn die Schnüre des weißen Mannes erregten das Mißtrauen 162 eines jeden wilden Tieres und ließen es die Falle meiden. Ein raffiniertes System von Haltehölzern und Hebeln trug auch bei dieser Falle den Schlagbaum, der bei der leichtesten Berührung so heruntersauste, daß das Gewicht von vier schweren Bäumen den Hals des Otters oder Bibers traf. Ein »Kissen« aus schwerem Holz würde von unten die Kehle des Opfers einklemmen.

Es gab noch eine andere Variante dieser Schwerkraftfalle, bei der ein Köder und eine kleine Trittfläche das Tier auf die genau errechnete Auslösungsstelle lockte. Da Biber und Otter glatte, runde und fast halslose Köpfe haben, so sind sie oft imstande, sich aus einer noch so gut gelegten Schlinge zu befreien. Aber aus den Schwerkraftfallen der alten Art gibt es kein Entrinnen.

Für Pirre war eine Falle immer etwas »aus dem Stahl des weißen Mannes« Gemachtes gewesen. Nun staunte er darüber, daß Vaters äußerst präzise und äußerst wirkungsvolle Fallen ohne jeden Nagel, ohne Metalldraht und selbst ohne den Faden des weißen Mannes so fest gebaut werden konnten. Es war viel schwieriger und langwieriger, sie zu stellen, aber einmal gebaut aus dem Material der Wildnis, standen sie fest und natürlich da wie ein Teil der Landschaft. Mit Zweigen und Rindenstücken bedeckt waren sie als Fallen fast unerkennbar und schienen bequeme kleine Unterschlupfe zu sein, aus denen der Geruch des Köders verführerisch hervorduftete. Kleine Zäune und gekreuzte Zweige versperrten den Rest des Wildpfades, so daß das Opfer nur die Öffnung fand, die zur Falle führte.

Es war eine Arbeit von vielen Tagen, die Fallenlinie wieder neu wie ein Gürtel über den Jagdgrund zu legen, und bei keiner Falle vergaß Michael das Aufhängen der winzigen, ihm von der Großmutter anvertrauten Päckchen. Sie enthielten Teile der zu fangenden Tierart, die in geheimnisvoller Weise verpackt und mit symbolischer Perlenstickerei verziert waren.

»Ich will nicht, daß ihr diese Tage in den Wäldern 163 je vergeßt«, sagte der Vater, als sie sich zur Heimkehr rüsteten, »und vergeßt niemals das Wissen, das ich von meinem Vater ererbte und nun an euch weitergegeben habe.«

Wie Helden wurden sie empfangen. Die Mutter ließ ihre Blicke nicht von Vaters geschickten Händen. Schneehasen und Rebhühner brachten sie mit aus den Schlingen, und es war nun nur eine Sache der Geduld, auf das größere Wild zu warten.

Pirre träumte jetzt nur noch von den hölzernen Fallen und wiederholte sich jede Kleinigkeit ihrer Konstruktion. Jeder weiße Mann wäre in der Lage der Minnegouches zum Verhungern verurteilt gewesen, aber nicht sie! Nicht der Vater! Und nicht Pirre, der nun das Geheimnis der alten Fallen erlernt hatte.

Von jetzt an konnte er nie genug Fragen stellen. Er wollte ganz genau wissen, wie die Vorfahren gelebt hatten zu der Zeit, als man noch kein Salz kannte, und als man statt eines Kessels den Magen eines Karibus zum Kochen benutzte. 164

 


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