Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Sechstes Kapitel

Vater baut ein Kanu

Nach den Vorbereitungen für die Hochzeit und dem Festefeiern war es gut, zur normalen Ruhe zurückzukehren. Mehr und mehr kreisten die Gedanken der Minnegouches nun schon um den Herbst und die kommende Jagd. Hinter dem Zelt lehnte noch immer die große Rolle Birkenrinde, die zum Schutz gegen das Wetter mit einer dicken Lage Tannenzweige bedeckt war. Nur die geschicktesten Indianer verstehen die richtige Birkenrinde für ein Kanu zu finden und 83 zurechtzuschneiden. Denn die Rinde für das Boot kann nicht von jeder beliebigen Birke gewonnen werden, die wohl gut genug für Haushaltsartikel ist, aber zu einem Kanu nichts taugt. Kanurinde muß von einer »schwarzen Birke« kommen, so wie man sie niemals in der Nähe der Reservation findet. Den ganzen Winter lang hatte der Vater Ausschau nach einem solchen Baum gehalten, aber alle, die er sah, waren entweder zu niedrig oder zu dünn, und kein indianischer Meisterbauer liebt es, sein Kanu aus der Rinde verschiedener Bäume zusammenzustückeln. Nach Monaten der Suche hatte er endlich den rechten Baum erspäht, einen uralten Riesen der Wildnis mit wenig Knorren und Astlöchern. Einen solchen Baum fällt ein Indianer nur, wenn er gewaltig genug ist, die Rinde für ein ganzes Kanu zu liefern. Für kleinere Stücke löst man die Rinde vom lebenden Baum ab und läßt ihn stehen. Die Rinde solcher »schwarzen« Birken hat die Farbe von dunklem Honig oder Bernstein und wird nur zum Unterschied von den gewöhnlichen nordischen Birken mit der weißlichen Rinde »schwarz« genannt.

Der alte Baum hatte auf einem Hügel hoch über einem Wasserfall gestanden, in dem er sich zitternd spiegelte, als wünsche er selbst, einmal zum Kanu verarbeitet, über die Schnellen zu gleiten. Michael und Pirre waren dabeigewesen, als er fiel, mit den Spitzen seiner Krone im schäumenden Wasser. Wie ein geschickter Arzt bei einer Operation hatte der Vater zwei tiefe kreisförmige Einschnitte um Wurzel und Krone gemacht, die die Länge des zukünftigen Kanus bestimmten. Dann hatten die drei Minnegouches mit größter Vorsicht die Rinde abgeschält und hatten es fertiggebracht, sie unverletzt aufzurollen, denn jede kleinste schadhafte Stelle mußte später geflickt und gesondert behandelt werden. Stolz hatten sie ihre Beute heimgetragen, von den Frauen mit dem freudigen Ruf: »Ot uschqui!«, »Kanurinde!«, begrüßt. Während des ganzen Winters hatten sie dann die Rolle vor Schnee, Eis und hungrigen Tieren geschützt 84 und sie unverletzt zum Sommerlager gebracht. Die Frauen hatten noch auf den Jagdgründen lange, dünne Fichtenwurzeln aus der Erde gezogen, die schwarze Rinde davon abgezogen und das weiße Innere in lange elastische Streifen geschnitten, die später als »Fäden« zum Zusammennähen des Kanus dienen sollten. Denn kein Kanu der Indianer Labradors bedarf der Nägel, Schrauben und Drähte des weißen Mannes – nur aus dem Material der Wildnis verfertigt, trägt es die Jäger und ihre Familien samt Tieren, Pelzbündeln und dem übrigen Gepäck sicher über die Stromschnellen und die mit Treibeis bedeckten Bäche.

Das »Garn« aus Fichtenwurzeln wurde sauber zu Kränzen aufgewickelt und für künftigen Gebrauch verwahrt. Genau so wie die Birkenrinde selbst hält es sich jahrelang frisch.

Da aber nur das Kanu selbst aus Birkenrinde hergestellt wird und Zedernholz das Rohmaterial für alle anderen Teile des Bootes ist, so hatte die Familie während der vergangenen Wochen große Stöße davon aufgestapelt. Als Mr. Angus die Vorbereitungen bemerkte, besuchte er den Vater und bat ihn, sein Kanu für die Company zu bauen. Aber die Minnegouches brauchten ein neues selbst so dringend, daß alle seine Überredungskünste und Versprechungen umsonst waren. Allerdings wollte der Vater sich während des kommenden Winters nach neuer Kanurinde umsehen. Sollte er welche finden, so versprach er Mr. Angus, sie ihm für die Company mitzubringen.

Michael und Pirre hatten es übernommen, dafür zu sorgen, daß alle notwendigen Geräte zur Stelle waren. Außer der Axt braucht ein Indianer nur drei Werkzeuge zum Bau eines Rindenkanus: den Holzhammer aus einem Stück, das Krummesser und die Knochennadel. Das einzige Metallwerkzeug ist das Krummesser, das der in den alten Zeiten gebrauchten steinharten geschärften Kariburippe mit dem Horngriff nachgebildet ist. Aber nicht der weiße Mann liefert dieses wichtige Gerät, der 85 Indianer macht es sich selbst. Mit ihrem eigenen Gelde hatten die beiden Brüder zwei eiserne Feilen bei Mister Angus gekauft. Sie nannten sie »tschipuschiken«, »das Ding, das man gegen ein anderes Ding reibt«.

Die eine Feile diente als Werkzeug, aus der anderen machten sie das Messer selbst. Die Feile, die zum Messer geschliffen werden sollte, wurde zwanzig Minuten lang ins Feuer gelegt, um »weich« zu werden. Als sie abgekühlt war, feilten sie so lange daran herum, bis sie dünn und scharf geworden war. Aber das Metallstück hatte noch immer seine ursprüngliche gerade Form. Um es in ein krummes Schnitzmesser zu verwandeln, legten Pirre und Michael es erneut ins Feuer und bearbeiteten es mit dem Hammer so lange über einem runden Stein, bis es die richtige Biegung erhalten hatte. Nun war die Form zwar recht, aber das Metall war noch zu weich für seinen späteren Gebrauch. Es mußte noch einmal zum Glühen gebracht, dann aber sofort aus dem Feuer herausgezogen werden. Das erfordert große Fachkenntnis, denn wenn das Messer nicht lange genug geglüht worden ist, bleibt es zu weich und kann nicht zur Holzbearbeitung benutzt werden. Blieb es aber zu lange im Feuer, so wird es zu hart und kann niemals wirklich scharf geschliffen werden. Aber Michael wußte genau Bescheid, und er zeigte dem Bruder ganz genau die richtigen Handgriffe. Pirre war so begeistert von dieser Arbeit, daß er sich noch eine neue Feile holte und sich sein eigenes Messer daraus schmiedete.

Als beide Messer wohlgelungen, scharf und gebogen vor ihnen lagen, gingen sie an die Herstellung der Griffe. Selbst der einfachste Griff oder »mukutaken atuk« (»Krummesser-Stock«) muß mit großer Sorgfalt geschnitzt werden. Er hat eine leicht gerundete Form, so daß der Schnitzer später das Messer mit nach innen gedrehter Schneide bequem handhaben kann. Das beste Material für einen solchen Griff ist Karibuhorn oder Birkenholz. Er besteht aus zwei Teilen: der eine, das »hölzerne Bett«, dient als genau passendes Futteral für 86 das untere Ende der zum Messer geschliffenen Feile – die andere Hälfte ist der genau auf das »Bett« passende Deckel aus dünnem Holz. Die für den täglichen Gebrauch bestimmten Krummesser ragen etwa elf Zentimeter über den Griff hinaus, die größeren Messer zum Schnitzen von Schlitten und Kanus sind drei Zentimeter länger. Der im Griff ruhende Metallteil ist rund sechs Zentimeter lang.

Als die Brüder die beiden Griffteile für jedes Messer fertig zurechtgeschnitzt hatten, legten sie die einstigen Feilen zwischen die beiden Holzstücke und banden das Ganze mit dünnen Karibulederstreifen so fest, daß die Messer eher abbrechen als sich in ihren Griffen lockern konnten. Diese nagellose, kittlose Methode war tausendmal haltbarer als alle modernen Erfindungen des weißen Mannes. Michael verzierte den Griff seines Messers noch mit einem geschnitzten Männerkopf und ritzte ein paar Ornamente in Pirres, obgleich es im allgemeinen ungebräuchlich war, Krummesser mit Schnitzereien zu dekorieren.

Nach allen diesen sorgfältigen Vorbereitungen wurden sie ziemlich ungeduldig, als sie merkten, daß der Vater noch immer nicht mit dem Bau des Kanus beginnen wollte. Aber das lag an der Großmutter, die allein den »glückbringenden Zeitpunkt« kannte, der von der Gestalt des Mondes, der Windrichtung und der Farbe des Sees abhing. Und sie hatte noch nicht gesprochen.

Inzwischen konnte man sich aber wenigstens nach dem Bauplatz umsehen. Er wurde »aschpischemum«, »Bett«, genannt. Die Wahl eines guten Bauplatzes war genau so wichtig wie der Bau des Kanus selbst, denn ohne das rechte »Bett« kann kein Boot eine richtige Form bekommen. Nicht allzuweit von ihrem Zelt entfernt wählten sie endlich einen geeigneten Platz aus, wo der feste Boden mit einer dünnen Sandschicht bedeckt war. Das rechte Kanubett kann man nicht künstlich herstellen, man muß es finden, denn die Erde muß fest 87 genug sein, um das beim Bau mit Steinen belastete Fahrzeug zu stützen. Sie verglichen den ausgewählten Platz mit anderen Stellen, aber er war und blieb der beste. So trugen sie dann alles zum Bau benötigte Handwerkszeug und Material dorthin. Seit Tagen schon hatten die Frauen den »Nähfaden« aus Fichtenwurzeln in einem Wasserbehälter eingeweicht, um ihn weich und gebrauchsfertig zu machen.

Nachdem die Großmutter eine ganze Nacht allein unter den Sternen verbracht hatte, gab sie endlich das Zeichen zum Beginn der Arbeit. Sie hatte den glücklichsten Tag herausgefunden, den der Segen der Waldgeister begleitete. Der Vater und seine Söhne atmeten auf: die Arbeit konnte beginnen.

Vorsichtig trugen sie die Kanurinde zum Bett und legten sie so auf den Boden, daß die wetterharte äußere Rindenseite die »Wasserseite« des Kanus wurde, während die einst innen am Baum befindliche Seite der Rinde das Kanuinnere bildete. Während Pirre und Michael die Rinde sorgsam nach oben bogen, legte der Vater den vorher schon geschnitzten Grundrahmen oder »kaianasch kuschek« innen hinein, der von außen durch einen zweiten aus zwei langen, leicht gerundeten Latten gebauten Rahmen gestützt wurde, so daß die Kanurinde nun zwischen beiden Haltegestellen fest eingeklemmt ruhte, wodurch die zukünftige Form des Kiels sich schon deutlich abzeichnete. Nun mußten sie eine Ladung schwerer Steine herbeischleppen, die in die eingespannte Rinde gehäuft wurden, um sie in ihre neue Form zu zwingen, die sie später auf dem Wasser unbeeinträchtigt von Temperaturschwankungen beibehalten mußte. Als es Abend wurde, hatten sie noch immer nicht genug Steine auf den Grundrahmen gelegt. Sie waren sehr müde, als sie zum Zelt zurückkehrten, wo die Großmutter schon den »otpitschu« oder Kanuleim aus zerlassenem Fichtenharz über dem Feuer rührte. Er wurde ohne jeden Zusatz von Wasser gekocht und verwandelte sich langsam aus einer festen, klebrigen Masse in die 88 zähe Flüssigkeit, die die Mutter nun durch ein Sieb aus feindurchlochtem Leder in einen Rindeneimer goß. Von Holzteilen und Schmutz befreit, sah das Harz nun hell und klar aus und wurde noch durch den Zusatz von etwas »namasch pimi« oder Fischfett verfeinert. Es war jetzt gebrauchsfertig und brauchte dann nur noch einmal aufgewärmt zu werden.

Am nächsten Morgen schleppte Pirre die letzten Steine zur Belastung herbei, während Michael darauf achtete, daß die Rahmen genau in der vorgeschriebenen Lage blieben.

Natürlich hatten die anderen Indianer längst schon die Vorbereitungen der Minnegouches beobachtet, und von nun an kamen täglich Zuschauer zur Baustelle, um unverlangte Ratschläge zu geben und wohl auch, um selber einige der feineren Kunstgriffe zu beobachten, denn Vater Minnegouche war einer der berühmtesten Bootsbauer ihres Stammes. Pirre fühlte sich durch ihre Aufmerksamkeit geschmeichelt, und er gab sich Mühe, den Eindruck zu erwecken, als könnte das wichtige Werk ohne seine persönliche kostbare Mitwirkung nicht zustande kommen.

Als genug Steine im Inneren des künftigen Kanus lagen, ging der Vater zur allgemeinen Befriedigung dazu über, seine geschickte Hand bei der »Schneiderarbeit« zu zeigen. Mit seinem Krummesser machte er vor allem an Stern und Bug lange, wohlberechnete Einschnitte in die makellose Rinde, und langsam wuchs unter seinen Händen die elegante Bootsgestalt hervor. Indianer sind für gewöhnlich wortkarg genug, aber die im Grase kauernden Fachleute konnten Ausrufe der Bewunderung nicht unterdrücken. Zu seiner Freude bemerkte Pirre sogar Saiko, Kakwa und Mr. Angus unter den Versammelten.

Um das künftige Kanu vollkommen in die neue Form hineinzuzwingen, rammte der Vater nun eine große Anzahl Holzleisten schräg von außen gegen den zugeschnittenen Bootskörper ein, es waren die 89 »ikaténikentsch« oder Kanupfosten. Sie umgaben die beschwerte Rinde wie ein fester Zaun und hielten sie unverrückbar in ihrer Lage fest.

Während der nächsten drei Tage schnitten der Vater und seine Söhne die Zedernholzteile für das Kanuinnere zurecht und überließen den Frauen die Arbeit an dem zugeschnittenen Rindenkörper. Mit Hilfe spitzer Karibuknochen bohrten die Frauen Löcher in die sich überschneidenden Teile der Rinde und nähten die Stellen mit Knochennadeln und Wurzelfäden fest übereinander. Sie taten das genau so schnell und leicht, als hätten sie das weiche Mokassinleder in ihren Händen, mit dem sie so geschickt umzugehen wußten. Trotz aller Sorgfalt geschah es zuweilen, daß eine Stelle einriß oder daß besonders in den oberen Teilen hie und da ein Stück Rinde eingesetzt werden mußte. Aber die Stiche mit den Knochennadeln waren so schön und gleichmäßig, daß solche Reparaturen wie Verzierungen aussahen. Als alle »geschneiderten« Stellen zusammengenäht waren, brachte der Vater das wichtigste Stück herbei: den oberen Rahmen mit seinen fünf Querleisten, der von oben in die Bootsöffnung hineingepreßt wurde. Ein allgemeines »Aaah!« wurde laut, denn der Rahmen paßte vollkommen. Mit größter Sorgfalt wurde er unter Mitwirkung aller Familienmitglieder an den oberen Rand der noch immer mit den Steinen belasteten Rindenform festgenäht. Als er rundherum in der Rinde saß, wurden die gerundeten Zedernholzstäbe an Bug und Stern genäht, um dem Kanu seine schön gekurvten Enden zu geben. Der Vater selbst übernahm diese Arbeit, um sie makellos zu machen, und selbst die Großmutter und die Mutter durften ihm nur die Löcher bohren, durch die er die Knochennadel mit größter Gleichmäßigkeit führte.

Die Mahlzeiten des Tages und der Schlaf der Nacht wurden von den Minnegouches während dieser Zeit nur als lästige Unterbrechungen der großen Arbeit angesehen – ihrer aller Gedanken kreisten unaufhörlich um den Bau ihres Kanus, das als Frucht aller ihrer 90 vereinten Bemühungen ein Meisterwerk werden sollte. In früheren Jahren hatte der Vater manchmal das ganze Kanu allein gebaut, nun aber hatte er Helfer. Das werdende Kanu war ein Symbol ihrer gemeinsamen Kunstfertigkeit und Familieneinigkeit. Sobald aber ein ganz besonders wichtiger Handgriff zu tun war, traten sie alle instinktiv zurück, um ihn dem Vater zu überlassen, der hie und da noch einen winzigen Einschnitt machte, von dem später vielleicht die Balance und Beweglichkeit des ganzen Bootes abhängen konnte.

Endlich war der Augenblick gekommen, wo die Steine aus dem Kanuinnern entfernt werden konnten. In diesem Stadium des Arbeitsvorganges hat ein gutes Kanu bereits die richtige Form von Stern, Bug und oberem Rand, nur der Kiel und die Seiten, die noch nicht von den Querrippen gestützt sind, erscheinen noch etwas formlos.

Ganz allein trug Pirre die großen Steine von dem Kanuinnern zur Seite und schichtete sie neben dem »Bett« auf, während Michael und der Vater den äußeren Zaun entfernten. Das Kanu aus eineinhalb Zentimeter dicker Birkenrinde wirkte nach dem Wegräumen der Steine und des Zaunes fast zerbrechlich. Ein Kind konnte es heben, aber es ist ja gerade diese Mischung von Leichtigkeit und fester Bauart, die die Schönheit eines Indianerkanus ausmacht.

Der Vater rammte nun zwei Paar Pfähle in den Boden – je zwei an jedem Ende des Kanus – und hing das Kanu an Lederstreifen zwischen ihnen auf, so daß es nicht mehr den Boden berührte und in der leichten Brise langsam hin- und herschwang. Estelle kam vom Zelt herbei und trug den Rindeneimer mit dem aufgewärmten »otpitschu« im Arm. Die Großmutter und die Mutter nahmen flache kleine Holzbrettchen zur Hand, tauchten sie in den Leim und bestrichen nun mit großer Geduld jedes einzelne der gebohrten Löcher der sich überschneidenden Rindenteile, so daß alle Stiche sich mit einer glitzernden Harzschicht überdeckten. 91 Übersahen sie auch nur eine einzige Öffnung, so wäre die Seetüchtigkeit des ganzen Bootes in Frage gestellt worden. Aber diese beiden Minnegouche-Frauen hatten die große Geduld ihrer Rasse, und der Vater wußte, daß er sich nicht um ihre Genauigkeit zu sorgen brauchte. Sie waren in den alten Überlieferungen aufgewachsen und wußten, daß der Tag kommen würde, wo Leben und Sicherheit der ganzen Familie von der Qualität ihrer Kanus abhingen. Um die geleimten Stellen noch mehr zu verstärken, klebten sie am Schlusse noch Lederstreifen darüber.

Als nichts mehr zu leimen war, gingen die Frauen zum Zelt zurück, denn drei Tage lang war nur noch Männerarbeit am Kanu zu tun. Die Männer belegten nun das ganze Innere des Bootes mit den langen Holzrippen aus Zedernholz, die zur Verstärkung der Rinde dienten und das Boot vor Beschädigung durch schwere Stiefel oder zu große Belastung schützen sollten. Diese dünnen Holzrippen waren ausgezeichnet zugeschnitten, sie verjüngten sich an den Enden und paßten haargenau aneinander. Der Vater begann die Arbeit in der Bootsmitte und legte von da aus die Latten zum Stern des Kanus, um dann die andere Hälfte wieder von der Mitte aus fertigzumachen. Als die Längsrippen das ganze Bootsinnere auskleideten, wurden die Querrippen mit größter Genauigkeit eingefügt und unter den oberen Randrahmen gepreßt, wodurch der Kiel die typische runde Faßform des Naskapikanus erhielt. Das Boot war nun so fest, daß es von den Rahmen genommen und auf dem sandigen Boden des Bettes fertiggemacht werden konnte. Alle Querrippen wurden mit dem Holzhammer eingerammt, und wieder war eine große Schar Zuschauer versammelt, die sich an der Exaktheit dieser Arbeit erfreuten. Es war eine Lust, hiebei zuzusehen! In seinem Drang, auch einmal die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, versuchte Pirre, auch ein paar der schlüpfrigen Rippen mit dem schweren Werkzeug unter den Rahmen zu pressen, aber er gab es bald auf und sah dem Vater 92 zu, der mit einem kleinen geschickten Schlag die dünnen Brettchen an ihre Stelle setzte, wo sie so fest saßen, als wären sie aus Eisen.

Damit war der Bau beendet. Aber die Großmutter bestand darauf, daß das Kanu noch einmal in die Rahmen gehängt wurde, damit sie jede der geleimten Stellen nochmals mit einer Harzschicht überziehen konnte. Saiko lächelte, als er das sah, und er tat einen seiner seltenen, wie Orakelsprüche geschätzten Aussprüche:

»Das wird nun mindestens acht Jahre halten.« Ein gewöhnliches Kanu tut ungefähr fünf Jahre lang seinen Dienst.

Als die Großmutter die letzte Leimschicht über das Kanu strich, sahen alle, daß sie dem aufgelösten Harz die zinnoberrote Vermillonfarbe beigemischt hatte, die als Quecksilberoxyd aus dem »Heiligen Berge« bei Chibougamau fließt. Nicht jeder Indianer hat den Mut, sie dort zu holen, denn der Berg ist von geheimnisvollen Geistern bewohnt, die ihre Gaben nur ihren Lieblingen gönnen und frevelhafte Räuber mit Unglück verfolgen. Alle Indianer verehren die lebhafte rote Farbe als glückbringend, und die leuchtenden Säume des neuen Minnegouchekanus verwandelten es in ein Prachtstück, einzigartig an Baukunst wie an Schönheit.

Noch eine ganze Woche lang ließen sie das Kanu dort am See in seinem Rahmen hängen, während die Männer zwei »apuis« oder Paddel aus hartem Birkenholz schnitzten. Eines schnitzte Michael, Pirre das andere. Als sie fertig waren, konnte man sie nicht voneinander unterscheiden, eine Tatsache, auf die Pirre mit Recht stolz sein konnte. Die fertigen Paddel wurden in der Sonne getrocknet und dann mit grüner Ölfarbe bemalt, die aus dem Laden der Company stammte. Bemalte Ruder saugen sich nicht voll Wasser wie die unbemalten und werden deshalb nicht zu schwer. Pirre bat die Großmutter, sie doch auch mit roter Farbe zu bemalen, aber sie erklärte ihm, daß die roten Ruder das 93 Wild verscheuchen würden, wenn man sie im Winter durch den Wald trug. Auch könnte ihr Anblick den Nordmann beleidigen, der die Farbe des Blutes haßt. Man muß seine Wünsche berücksichtigen, denn wer anmaßend seine Rache herausfordert, kann von ihm samt seiner gesamten Familie vernichtet werden.

»Wenn du ein guter Jäger werden willst«, sagte die Großmutter, »so mußt du vielerlei bedenken. Es genügt keineswegs, die Handwerke und Künste unseres Volkes zu kennen. Viel wichtiger noch ist es, die Gefühle der Unsichtbaren zu respektieren, deren Geschöpfe wir sind.«

Der Vater ganz allein hatte das Vorrecht, das neue Kanu auszuprobieren. Sorgsam wie ein Kind trug er es auf seinen Armen über den Kies des Ufers und ließ es sanft in das Element gleiten, für das es gebaut worden war. Während seine scharfen Augen die Paddel, den Tiefgang, die Rahmen und die geleimten Säume unaufhörlich prüften, steuerte er sein Boot geradeaus, im Kreise und zur Seite und kam dann langsam wieder zurück.

»Es ist nichts auszubessern. Es ist fehlerlos«, sagte er leise. Pirre wurde es plötzlich ganz traurig zumute. Jetzt haben wir das neue Kanu, dachte er, der Sommer geht zu Ende.

In der Kirche war schon mancher Platz leer. Die Indianer begannen in die Wälder zurückzukehren. Und der Vater, der nie müßig war, dachte schon an das wichtigste Geschäft des Jahres: den Wintervorrat. Von diesen Vorräten, die sie bei der Company einkauften, hingen die Gesundheit, das Glück und vielleicht sogar das Leben der ganzen Familie für viele Monate ab. Mit seinem ganzen Herzen hoffte Pirre, daß vielleicht ein Gewehr für ihn dabei sein würde. Ein Gewehr für Pirre Minnegouche allein. Er konnte schießen. Er hatte sogar schon ein Karibu mit Vaters Gewehr geschossen. Aber wenn sie ihm dieses Jahr ein eigenes Gewehr gäben, so würde er eines der edelsten Geschöpfe der Wälder damit erlegen: Muschko selbst, den Bären! 94

Auch die Hunde wurden schon unruhig. Und je öfter er an die kommenden Monate dachte, um so ruhiger wurde seine Seele. Er bereute kaum mehr das Ende der »guten« Zeit. Auf den Jagdgründen fühlte er sich viel erwachsener und vergaß die Torheiten der Kinder. Auf den Jagdgründen war er ein Mann.

Er war ein Indianer vom Stamme der Naskapi. Bald würde er mit seiner Familie zur Lebensweise der Alten zurückkehren, zu einem Dasein der Würde, der Gefahr und des Abenteuers.

Nachmittags war der Himmel jetzt schon oft grau. Die Mutter sagte, daß sie bald fortziehen würden.

Er sah den Vater und die Großmutter allein in dem neuen Kanu auf dem See fahren. Beide hatten ihre Angelschnuren mitgenommen. Die anderen Minnegouches standen am Ufer und sahen ihnen nach, wie sie zu einer letzten Probefahrt dahinglitten, ohne Geräusch und ohne Zwischenfälle. Es kam Pirre so vor, als besäße dieses ihr größtes Kanu eine besondere Grazie und Schönheit und als sei es prächtiger als jedes andere Boot, das er kannte. Seine warme rotbraune Farbe stach prächtig von dem grauen Wasser des Sees ab. Stundenlang blieben der Vater und die Großmutter da draußen – oft waren sie so weit fort, daß man sie nicht mehr erkennen konnte. Pirre wartete die lange Zeit auf ihre Rückkehr, und die Hunde Pepramint, Mustard und Café lagen zu seinen Füßen.

Als sie endlich wieder anlegten, brachten sie drei große Lachse mit, alle von der seltenen, »eingeschlossenen« Sorte, von der kein Indianer weiß, wie sie in diesen See gekommen ist. Die Indianer nennen diese Lachse »a-unanisch«, den »eingeschlossenen Fisch«. Die Großmutter zeigte sie Pirre, der scheu ihre kurzen dicken Räuberköpfe und die noch zitternden dunkelrosa Flossen mit dem Finger berührte. Sie sagte, daß geheime Mächte in den a-unanisch wohnten und daß es ein glückliches Vorzeichen sei, sie in einem neuen Kanu gefangen zu haben. 95

 


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