Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Vierzehntes Kapitel

Zeichen im Schnee

Nachdem Pirre froh und beglückt wieder bei den Seinen angekommen war, beschloß der Vater, ihn zum ersten Male allein mit der verantwortungsvollen Reise zu den Fallen zu betrauen. Während der Vater und Michael bei Tiloup und den Frauen im Zelt blieben, sollte er, Pirre Minnegouche, das wichtige Amt übernehmen!

Zum ersten Male zog er die neuen Sachen an, die die Mutter ihm auf seine Bitten genäht hatte. Es war die 203 Tracht der alten Indianer. Aus den Federn der Eidergans hatte sie ihm Hosen gemacht, seine Jacke war aus Muskratpelz und seine Kapuze war mit dem Fell der Wolverine gefüttert, deren Haare keine Feuchtigkeit annehmen und nie bereifen. Seine Wollsocken waren so dick gestrickt, daß sie von selbst standen, und seine Karibustiefel hatten Sohlen aus Elchleder. Rehlederne Fausthandschuhe vervollständigten seinen Anzug. Die Vorderspitzen seiner Schneeschuhe waren leicht nach oben gebogen.

Als die Hunde ihn in diesem prächtigen Kostüm erblickten, erhoben sie ein ohrenzerreißendes Gebell, aber bald merkten sie, daß sie nicht mitgenommen wurden und zu Hause bleiben mußten. Denn Pirre mußte sich durch enges Gestrüpp den Weg bahnen, wo der neugefallene Schnee so hoch lag, daß die Hunde nicht hindurchkommen konnten. Pirre selbst wollte seinen Schlitten ohne ein Vorgespann ziehen.

Wie aus Marmor gemeißelt stand das Zelt im Schnee. Die Minnegouches hatten es dick mit Eis belegt, daß der rauhe arktische Wind, dem sonst nur Leder standhält, nicht durch die Ritzen eindringen konnte. Außen steinhart gefroren, war es innen um so traulicher, und die Nächte am warmem Feuer waren reich an erregenden Träumen.

Der Platz draußen vor dem Zelt war sorgfältig festgetrampelt und vereist, und die Vorratsspeicher in den nahen Bäumen waren mit dicken Bündeln vollgepackt, die das gefrorene Fleisch und die ersten schon aufgestapelten Pelze für die Company vor der räuberischen Wolverine schützten. Das Waschfaß hing an einem niedrigen dicken Zweig. Die Zedern im Umkreis sahen aus, als wären sie für eine seltsame Weihnachtsbescherung geschmückt worden, denn an allen Ästen hingen Dutzende lederumschnürter Vorratsbündel, wie Geschenke an ihren Schnüren im Winde baumelnd.

Selbst der Schlitten, den der neugefallene Schnee völlig bedeckt hatte, mußte erst ausgegraben werden. 204 Nachdem Pirre ihn aus der schweren Decke gewickelt hatte, ging er mit einem Stück Bärenfell ins Zelt zurück, wo er es in heißes Wasser tauchte. Der Vater half ihm beim Abreiben der Schlittenkufen, die sich sofort mit einer glasharten Eisschicht bedeckten, auf der ein Toboggan »wie auf Wolken« vorwärtsgleitet. Noch einmal wiederholten sie den Vereisungsprozeß und drehten dann den Schlitten um, um ihn mit genug Proviant für drei Tage zu beladen. Da die Hunde nicht vorgespannt wurden, durfte die Last nicht zu schwer werden. Ein Hund kann mit Leichtigkeit einen Zentner über den Schnee ziehen, aber ein Indianer, der seinen Schlitten am ledernen Stirn- und Schulterriemen befestigt, muß darauf achten, ihn nicht zu überladen, denn seine Augen sind auf den Weg gerichtet, und seine Hände halten die stets bereite Axt. Außerdem wußte Pirre nicht, wieviel Wild er finden und zurückbringen würde.

Für die Wolverinenfalle, die Pirre bauen wollte, banden sie eine Anzahl zurechtgeschnitzter Pfosten auf den Schlitten, dazu das Bindematerial aus gespleißten Fichtenwurzeln und dünnen Lederstreifen. Das Gewehr wurde in die Schlafdecken aus Bärenfell gewickelt, und der Vater steckte ihm das kostbare Ledersäckchen mit den Streichhölzern des weißen Mannes in die Tasche seiner Pelzjacke. Der Mundvorrat bestand aus Speck, Banock und Bohnen, die dazugehörige Fleischnahrung mußte Pirre sich unterwegs selbst verschaffen. Die Mutter brachte ihm ein Päckchen Tee, einen kleinen Wasserkessel und etwas Zucker und Salz. Das hochgeschwungene Vorderteil des Schlittens verjüngte sich an der Spitze, und die Ladung war so aufgebaut, daß sie die Oberfläche des Toboggans an keiner Stelle überragte, damit Pirre bei seinem Weg durch das Gestrüpp keines seiner kostbaren Pakete verlieren konnte.

Als er Abschied nahm, heulten die drei Hunde noch einmal laut und ärgerlich auf. Die Mutter kam für einen Augenblick heraus, um ihm eine gute Fahrt zu wünschen, aber sie kehrte gleich wieder zu Tiloup ins Zelt 205 zurück, wo Pirre sie mit kehlig-rauher Stimme ein Wiegenlied singen hörte. Zwei Kreuzschnäbel flogen vom nahen Zweig auf und schienen ihm den Weg zu weisen. Der Vater hing ihm ein mit Perlen besticktes Ledersäckchen als Talisman um den Hals.

So begann Pirre seine einsame Reise, sorgfältig einen Schneeschuh vor den anderen setzend, die Axt in der Hand und den Schlitten hinter sich. Durchsichtig blau zeichneten die Schatten der Bäume sich von dem glitzernden Schnee ab. Blendend hell schien die Morgensonne. Pirre hielt einen Augenblick an, um seine Sonnenbrille hervorzuholen, ein flaches Stück Knochen von der Breite seiner Stirn, in das ein enger Sehspalt eingeritzt war. Er ließ die Kapuze fallen und band die »Brille« mit zwei Lederstreifen an seinen Hinterkopf fest. Nun konnte er sicher durch den Schnee gehen, ohne geblendet zu werden. Er durchquerte das enge Ende von Saikos Jagdgrund und gelangte immer tiefer ins Innere des Minnegouchegebietes hinein.

Als er so allein dahinzog, sang er ein kleines Lied, das er sich im Gehen zusammenreimte. Es handelte von seinem Krummesser, von Tiloup und von der heimtückischen Wolverine. Aber er verstummte sofort, als er die ersten Tierspuren im Schnee bemerkte. Zuweilen blieb er stehen und hielt den Atem an, dann ging er wieder weiter, und je mehr er sich vom Zelte entfernte, um so einsamer kam er sich vor. Die Bäume waren so viel älter als er selbst, die Weiße des Schnees hatte etwas Ewiges an sich, und die Gewalt der Natur gab ihm ein Gefühl von Kleinheit und Unwichtigkeit. Geringer kam er sich vor als selbst die kleinen Kreaturen des Waldes, die roten Eichhörnchen, die Muskrats und die Nerze, und trotz aller menschlichen Erfindungen, die er bei sich trug, war er hilflos wie sie angesichts der majestätischen Weite, die ihn umgab. Vielleicht wußte der Whisky Jack mit den blanken Augen, der ihm eine Zeitlang nachflog, mehr über die Zukunft als er selber. Vielleicht hatte ein 206 Geisterbeschwörer ihn geschickt, um ihn, Pirre, vor einer ihm noch unbekannten Gefahr warnen zu lassen.

Der Schlitten glitt auf seinen geeisten Kufen fast reibungslos hinter ihm her, ohne an Baumstümpfen und niedrigem Buschwerk hängenzubleiben. Pirre begann zu schwitzen. Wieder ließ er die Pelzkapuze fallen und setzte eine kleine runde Wollmütze auf. Sein Atem dampfte wie das Wasser eines kochenden Kessels. In der großen Einsamkeit schien er das einzige Wesen zu sein, das sich bewegte. Seine Schritte zerstörten die makellose Pracht des Schnees, und es schien ihm, als verfolgten ihn überall die mißbilligenden Blicke der allgegenwärtigen schweigenden Kreaturen der Wildnis, deren Ruhe er störte. Er hatte Durst, aber war klug genug, keinen Schnee zu essen. Er konnte warten, bis es Zeit zum Trinken war. Er war ein Indianer.

Gegen Mittag beschloß er, ein wenig auszuruhen und etwas zu essen. Mit seiner Axt schlug er ein paar dicke frische Äste ab, auf denen er sein Feuerholz aufschichtete, so daß er nicht in den Schnee einsank. Er nahm keine Zedernzweige, von denen zu viele Funken absprühen, sondern baute sein Feuer aus vertrockneten Lärchenästen. In der Windstille war es leicht, ein Streichholz anzuzünden, und schon brannte der Holzhaufen lichterloh. Aus Astgabeln machte er sich ein Kochgerüst zurecht, an dem er den mit Schnee gefüllten Teekessel und das Töpfchen mit den Bohnen aufhing. Bald verbreitete sich ein angenehmer Duft von gutem Essen. Er warf ein paar Teeblätter in das kochende Wasser und genoß, auf seinem Schlitten sitzend, sein Mahl. Aber er gönnte sich nicht lange Ruhe, und bald machte er sich satt und befriedigt wieder auf den Weg. Noch ein paarmal sah er sich nach dem kleinen, von der Sonne leuchtend überstrahlten Feuer um und zog dann wieder schweigend mit Schneeschuhen und Schlitten seine tiefe Spur in das pulverglatte Weiß des Waldes.

Seinen Weg kannte er ganz genau. Die Formen der Bäume waren ihm vertraut, und er wußte, wo die kleinen 207 Lichtungen waren, die er zu überqueren hatte. In einem der Bäche sah er den verlassenen Biberbau vom vorigen Jahr und fand ein Stück weiter die Stelle wieder, wo sie einst Fellbündel in den Bäumen aufgespeichert hatten. Wie hätte er die Richtung missen können – er ging ja dorthin, wo die Fallen waren!

Als es zu dämmern anfing, sah er sich nach einem Platz zum Übernachten um. Er wußte, wie man sich ein Lager im Freien zurichtet und lachte in sich selbst hinein, als er an ein Erlebnis vom letzten Jahr dachte, wo er einen Weißen am Rande der Reservation in die »echte Wildnis« hatte führen müssen. Da war ein Zelt aufgebaut worden mit Bettüchern drin und einem daunengefüllten Schlafsack!

Pirre war an bessere Dinge gewöhnt. Wie Saiko wollte er beim Schlafen unter dem Winterhimmel den Mond und die Sterne sehen können, ehe ihm die Augen zufielen. Er liebte den fahlen Schein des Nordlichtes, auf dessen Strahlen seltsame Träume zu den Indianern heruntergleiten, Indianerträume, von denen die Weißen nichts wissen.

Wieder schichtete er sich die Scheite zum Feuer auf und sah dem Schnee im Kessel zu, wie er sich in heißes, singendes Wasser verwandelte. Längst, ehe es dunkel war, hatte er sein Lager fertig, so wie der Brauch der Jagdgründe es verlangt. Nur Narren und Weiße schlagen im Dunkeln Holz und rufen damit die Geister des Unglücks herbei. Mit all seiner Sorgfalt und Erfahrung hatte er die richtige Stelle ausgesucht – selbst Saiko hätte sie gutgeheißen. Es war eine von jungen Bäumen umwachsene Anhöhe. Mit seiner Axt schlug er die Stämmchen in halber Höhe ab und bog sie zu einem halbkreisförmigen Windschirm zurecht, den er mit Schnee und Tannenzweigen in eine feste Mauer verwandelte. Die Innenseite, wo das Lagerfeuer brannte, trampelte er mit seinen Schneeschuhen fest. Dann breitete er die große Decke über den Schlitten und schaufelte von außen noch mehr Schnee gegen den Windschirm, so daß 208 er geschützt und sicher im Inneren schlafen konnte. Vor dem Feuer kauernd, briet er sich dicke Speckwürfel am Holzspieß und rieb dann seine Stirn mit der warmen fettigen Rinde ein, so daß weder die Glut des Feuers noch die Kälte der Nacht seine Haut aufrauhen konnten. Ernsthaft rauchte er dann noch seine Pfeife und gedachte Saikos und der Zwerge, die sich so gern am Feuer wärmen, ehe er sich auf seinen weichen Bärenfellen zur Ruhe niederlegte. Während der Nacht stand er fünf-, sechsmal auf, um neue Scheite auf das Feuer zu legen und nachzufühlen, ob Vaters Talisman noch sicher an seinem Halse hing. Auch murmelte er ein paar der alten Gebete, die dem Schlaf eines einsamen Jägers den Segen der Waldgeister bringen.

Hell und klar war der Morgen. Pirre suchte seine Sachen zusammen und zog weiter. Trotzdem er eine Menge Wildfährten sah, ließ er sich nicht von seinem Wege ablocken. Als die Sonne, von den aufziehenden Wolken leicht verhüllt, hoch am Himmel stand, erreichte er die erste Falle, in der ein steifgefrorener Schneehase lag. Er zog ihn heraus und brachte den Auslösemechanismus wieder in Ordnung. Von nun an ging er von Falle zu Falle, viele Meilen weit. Einmal erlöste er ein gefangenes Rebhuhn, das in seiner Todesangst in der Schlinge hin und her sprang, mit der Axt von seiner Qual, ein anderes Mal schüttelte er wütend den Kopf, als er sah, daß ein vierbeiniger Räuber den Köder abgefressen hatte, ohne in die Falle zu gehen. An den Spuren erkannte er den Dieb: die Wolverine war wieder am Werk gewesen, der Teufel des Waldes!

Zwei Nerze und einen Marder legte er auf den Schlitten, wie sie waren, die Felle konnten zu Hause im Zelt abgezogen werden. Als er zu den großen Bärenfallen kam, fand er wohl ganze Büschel zottigen Pelzes und plumpe Spuren im Schnee, aber sonst nichts. Muschko hatte es fertiggebracht, zu entkommen! Aber er hatte sich verletzt. Schnell bedeckte Pirre die Blutflecken mit Schnee in der Hoffnung, daß der Nordmann 209 sie noch nicht gesehen hatte und einen armen Indianer nicht für die Besudelung der heiligen weißen Waldeinsamkeit bestrafen würde.

Zum Abendbrot aß er Hasenbraten. Dann richtete er sich sein Lager. Während der Nacht fing es an zu schneien. Pirre sang mit lauter Stimme und erzählte den Bäumen von der Beute, die auf seinem Schlitten lag. Aber er schlief nicht gut, immer wieder sah er im Traum einen toten Biber auf seinem Wege liegen. Das war kein gutes Zeichen. Mit einem Angstschrei wachte er auf. War einer von den Minnegouches in Lebensgefahr? Am liebsten wäre er gleich zurückgegangen, um nachzusehen, ob sie alle wohl und gesund waren. Aber er bezwang seine Besorgnis und machte sich am nächsten Morgen gleich an die Arbeit, um derentwillen er hauptsächlich ausgeschickt worden war. Die Wolverinenfalle für den Vielfraß mußte gebaut werden. Vor kurzem noch hatten die hölzernen Fallen das Leben der Minnegouches gerettet, nun sollte eine Holzfalle dem Vielfraß den Garaus machen, der ihrer Nahrung und sogar den in den Baumkronen aufbewahrten Pelzen nachstellte.

Pirre holte die mitgebrachten Holzpfosten vom Schlitten und legte sie sich an der Seite des Wildpfades zurecht, denn eine Wolverinenfalle darf nie in der Mitte der Wildbahn errichtet werden. Er suchte einen geeigneten Baum als hintere Stütze für die Falle aus und rammte zwei Reihen Pfähle davor ein, die an den Außenseiten auseinanderstrebten. Dann trieb er am Falleneingang einen einzelnen Pfosten tief in den Schnee, der den Schlagbaum in die gewünschte Richtung lenken und eine Verschiebung der einzelnen Teile verhindern sollte. Das Ganze war eine Schwerkraftfalle mit einem an einem kleinen Hebelmechanismus verbundenen Köderholz, dessen Verschiebung die Auslösung des Schlagbaumes herbeiführen mußte. Angelockt vom Duft des Köders aus getrocknetem Fisch würde die Wolverine selbst den Mechanismus auslösen und so ihren eigenen Tod herbeiführen, wenn das Gewicht des Schlagbaumes auf sie 210 niedersauste. Zum Schluß baute Pirre noch einen kleinen Zaun um die fertig konstruierte Falle, um den Köder vor dem Kleinzeug des Waldes zu schützen und nur der Wolverine zugänglich zu machen. Die gestellte Falle war so der Umgebung angepaßt, als wäre sie ein Stück des Waldes selbst und nicht ein sorgfältig errechnetes Kunstwerk, von Menschenhand gebaut. Sie war gut gelungen, er war stolz darauf. Wie kunstreich waren doch die alten Dinge, und wie fein war es, ihre Geheimnisse zu kennen!

Es hatte nun zu schneien aufgehört, und es drängte ihn, heimzukehren ins warme Zelt der Minnegouches. Aber erst wollte er noch einen kleinen Umweg ins Tal hinunter machen, denn dort kamen oft andere Indianer auf dem Wege nach ihren eigenen Jagdgründen vorbei.

Als er die Kreuzung erreichte, bemerkte er plötzlich etwas Ungewöhnliches da unten im Schnee. Er ließ den Schlitten hinter sich zurück und lief, so schnell die Schneeschuhe ihn zu tragen vermochten, auf die zwei hohen Holzpfähle zu, die da mitten im Pfade errichtet waren. Von der Ferne hatten sie wie zwei Bäume ausgesehen, aber es waren behauene Pfosten. Es waren auch keine stehengebliebenen Teile einer alten Falle. Plötzlich erkannte er ihre Bedeutung, er zitterte vor Erregung. Das Gefühl der Verlassenheit, das sich während der letzten Tage seiner bemächtigt hatte, verließ ihn. Denn diese Pfähle waren ein Signal, und die Botschaft, die sie verkündeten, war für seinen Vater bestimmt, den Besitzer des Jagdgrundes.

Die Hand eines Indianers hatte diese Pfähle geschnitzt und hier errichtet. Ein Mann hatte ihnen eine Botschaft anvertraut, die zu dem Kundigen deutlicher sprach als alle Worte. Und Pirre wußte: es war ein Schrei aus tiefster Not! Jemand, der krank und verzweifelt war, hoffte darauf, daß Vater Minnegouche das Signal sehen und sofortige Hilfe bringen würde. Aufgeregt und mit stockendem Atem stand er vor dem Zeichen und las, was in genau derselben »Schrift« Hunderte von Indianern schon Generationen vor ihm gelesen 211 hatten. Aus der Art, in der die Pfähle im Schnee errichtet waren und aus der Form der eingeschnitzten Kerben übersetzte er sich die Botschaft in Worte.

Die Spitzen der beiden Pfosten wiesen nach Nordwesten. Das hieß: »Im Nordwesten von deinem Jagdgrund liegt das Zelt, aus dem ich deine Hilfe anrufe, Vater Minnegouche!« Das obere Ende des einen Pfahles war tief eingekerbt, die Tiefe der Kerbe sprach von großer Not. Aber sie sagte nicht nur das Wort »Not!«, sie verriet auch die Art des Unglückes, denn sie hatte die Form einer Sanduhr, und das bedeutete: »Hungersnot herrscht in dem Zelt im Nordwesten.« Die tiefe Kerbe des zweiten Pfahles mit den herunterhängenden Rindenstreifen sagte: »Wir sind krank.«

Jetzt erst bemerkte Pirre die drei kleineren Pfosten zwischen den beiden hohen. Sie verrieten ihm, daß der Ort des Unglückes drei Tagereisen vom Ort des Zeichens entfernt war. Er dachte eine Weile scharf nach, und dann wußte er, wer um ihre Hilfe flehte. Es konnte nur Schekapéo sein, das »Große Gedächtnis« und seine Frau. Johnny jagte zur Zeit anderswo, Vitaline war in Sicherheit. Aber Aschappi war bei seinen Eltern. War er krank?

Kein Indianer, der einen solchen Notruf auf seinem Wege findet, zögert auch nur einen Augenblick. Er mußte sofort handeln. Wenn die Geister des Waldes den Notleidenden gnädig waren, so würde die Hilfe sie noch rechtzeitig erreichen. Selbst seinem schlimmsten Feind mußte man sofort in solcher Not beistehen, denn das Schicksal strafte jeden Indianer tausendfältig, der den Schrei um Beistand unbeachtet zu lassen wagte. Wenn Hunger und Krankheit einen anderen bedrohen, verloschen alle kleinlichen Privatgefühle. Denn hier rang ein Mensch mit den Geistern der Wildnis um sein Leben, und in der Zeit der Not müssen alle Indianer zusammenhalten.

Pirre schnitt mit seiner Axt eine Kerbe in den ersten Pfosten. Das hieß: »Ich habe eure Botschaft gelesen und 212 werde Hilfe bringen.« Sollte jemand anderer inzwischen hier vorbeikommen, so wußte er damit, daß die Minnegouches ihre Hilfsaktion schon eingeleitet hatten.

Auf seinem Schlitten lag nichts, was genügt hätte, die Hungersnot im Schekapéo-Zelt zu beheben. Er beschloß, sofort nach Hause zurückzukehren, um den notwendigen Proviant aufzuladen. Auch wollte der Vater vielleicht selbst mitkommen, um den Kranken persönlich beizustehen. Jetzt war Pirre froh, daß er kein großes Wild in den Fallen gefunden hatte, der Schlitten war leicht.

Er schlug den kürzesten Heimweg in solcher Eile ein, daß er das Gewicht der Last an seinen Lederriemen kaum fühlte. Er kannte das Gefühl des bittersten Hungers, es war grausamer als der Tod. Jeder Indianer kennt es von Kindheit an. Die verzweifelte Hoffnung auf Hilfe, die den abgemagerten Körper am Leben erhält, ist schlimmer als jede andere Qual des Leibes und der Seele.

Kürzer und kürzer wurde die Zeit, die er sich zum Ruhen und Essen gönnte. Er hielt sich nicht einmal damit auf, die Spuren eines Karibus zu verfolgen, die frischen Spuren, die ihn vor zwei Tagen noch gewaltig aufgeregt haben würden. Er hatte nur einen Gedanken: die Kufen eisen und heimkehren, heim!

Als er die vertrauten Umrisse der Zedern in der Ferne sah, hörte er schon das Bellen der Hunde. Geführt von Mustard rasten sie auf ihn zu. Und da war der Vater! Die Mutter, Michael und Estelle kamen ihm entgegen. Alle schienen so froh, ihn gesund zurückkehren zu sehen! Und sie wollten wissen, was er mitgebracht hatte. Aber Pirre schüttelte nur den Kopf, so daß die Kapuze auf seinen Rücken fiel, und er berichtete, was er gesehen hatte. Wie ein Schicksalsspruch klangen seine Worte, als er sagte:

»Sie haben ein Zeichen im Schnee aufgestellt, draußen bei den Fallen. Es sind die Schekapéos, und 213 Aschappi ist auch dort. Wir müssen sofort zurück und Hilfe bringen.«

Niemand verlor ein unnötiges Wort.

Während die Mutter und Estelle noch den Schlitten abluden, spannte Michael schon die Hunde an. Der Vater ging ins Zelt, um die benötigten Provisionen und Werkzeuge zu holen und sich für die Fahrt zurechtzumachen. 214

 


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