Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Neuntes Kapitel

Rückkehr in die Wildnis

Aus Respekt für die älteren Familienmitglieder hielt Pirre sein Boot etwas zurück. Auch war es schön, dem Vater beim Navigieren des neuen Kanus zuzusehen und als Letzter der Gruppe ungestört die Bäume und die Felsen der Wildnis zu passieren, die den Weg ins Innere markierten. Diesmal lachte und schwatzte er nicht wie bei der Rückkehr zum Sommerlager. Still und rhythmisch bewegte er sein Ruder. Bald würde der Winter über diesen Wäldern liegen, und der Ernst der großen 121 Weite teilte sich den Reisenden mit. Was auch immer die kommenden Monate bringen mochten – ein höherer Wille diktierte das Schicksal und entschied über gute oder schlechte Jagd, Freude oder Krankheit, Wildreichtum oder Hunger.

Pirre kam der Gedanke, daß sein Großvater und dessen Großvater und alle anderen Minnegouches der Vergangenheit über diese selben Seen, Flüsse, Stromschnellen und engen Wasserstraßen in ihren Kanus hingezogen waren, zur selben Jahreszeit. Es lag etwas Großartiges in dem Gedanken, daß auch er später mit seiner Frau und seinen Kindern, seinen Hunden und seinen Waffen über diese selben Gewässer reisen würde, immer wieder, so lange sein Leben währte.

Nicht ein einziges Mal zögerte der Vater an den Stellen, wo mehrere Wasseradern sich verzweigten. Er kannte den Weg zu seinem Eigentum. Und wenn die Sonne verschwände und der Mond sich hinter den Wolken verbergen würde, unbeirrt wäre er auf der rechten Straße weitergefahren. Die Reise vom Johannissee bis zum fernen Nordwesten, wo ihr Jagdgrund in der Nähe des gewaltigen Mistassinisees lag, betrug ungefähr dreihundert Meilen. Noch war es August, »Monat Sonne«, aber die Reise dauerte zwanzig Tage, denn der Rückweg mit seinen vielen Stromschnellen war bedeutend beschwerlicher als die nur zwölf Tage in Anspruch nehmende Frühlingsreise zu den Sommerlagern. Noch war es blaugoldener, kühler Herbst, aber bald nach ihrer Ankunft würde es Winter werden. Im Uferschilf wuchsen ganze Felder wilder bunter Blumen, deren Anblick den weißen Mann entzückt haben würde. Aber Pirre verschwendete seine Aufmerksamkeit nicht an die Schönheiten des ihm Unwesentlichen, an die Macht der gewaltigen Bäume und des buntfarbigen Gestrüpps, aus dem die Geschöpfe der Wildnis furchtlos hervorlugten. Er schenkte den letzten Schmetterlingen und den Schwärmen der Moorschnepfen keine Beachtung, sondern wandte seine ganze Aufmerksamkeit 122 den Wegzeichen zu, die der Indianer von Kind auf seinem Gedächtnis einprägen lernt: den Formen der Felsen und Hügel, den besonders seltsam gestalteten Bäumen, den Wasserfällen und dem charakteristisch gestuften vielfarbigen Profil des Bodens. Er las diese Zeichen, wie der weiße Mann seine Straßenschilder liest, sie bedeuteten ihm Maße der Entfernung, die Erinnerung an frühere Gefahren und teilten die Reise in klar erkennbare Stationen ein.

Mustard, sein Passagier, saß aufrecht im Bootsende. Auch er schien jedes Zeichen am Wege wiederzuerkennen, und er schien bereit, die Führung zu übernehmen, falls seinen Herrn das Gedächtnis im Stiche ließ. Eigentlich war Mustard ein komischer Hund. Vom Kopf bis zur Bauchmitte war er hübsch dunkel und glatt, aber sein Unterteil war mit gelockten sandfarbenen Zotteln bedeckt, als hätte jemand zwei ganz verschiedene Hunde in der Mitte durchgeschnitten und falsch wieder zusammengesetzt. Ja, schön war er nicht gerade, aber wenn erst der Schnee lag, würde er als Leithund vor dem Schlitten trotten, den anderen voran und ohne die Launen und Mucken, denen Café und Pepramint zuweilen unterworfen waren.

Als es später wurde, sahen sie sich nach einem geeigneten Lagerplatz um und fanden ihn neben einem hohen moosbewachsenen Felsen. Sie zogen die Kanus ans Ufer und errichteten ihr Zelt mit der Geschwindigkeit einer eingearbeiteten Zirkustruppe. Jeder wußte genau, was er zu tun hatte. Pirre suchte die kurzen Haltepfosten und trieb sie in den Grund, Michael schleppte die großen Astgabeln herbei, der Vater und Estelle befestigten die Leinwand über dem Gerüst, die Mutter machte Feuer, und die Großmutter bedeckte den Boden mit Tannenzweigen. Sie aßen ein einfaches Mahl und gingen schlafen, sobald es dunkel wurde.

Zeitig am nächsten Morgen brachen sie das Zelt ab und setzten ihre Reise fort. Zum Mittagmahl fingen sie 123 drei große Forellen mit den neuen Angelhaken. Das Fischen war leicht in dieser einsamen Gegend.

Am Nachmittag waren zwei Stromschnellen zu überwinden. Sie verließen die Kanus und zogen vom Ufer aus die Boote an Lederriemen über die Wirbel, bis sie wieder einsteigen und weiterpaddeln konnten.

Am vierten Tag waren sie weit genug im Inneren, um auch die letzten Spuren der »Strohhüte« hinter sich zu lassen, die weißen Holzfäller mit ihren verachteten und lächerlichen Kopfbedeckungen.

Fast ohne Mühe bewegte Pirre sein leichtes braunes Kanu. Die Luft schien hier reiner, der Himmel klarer, der Tag befriedigender und die Nacht erregender als am Johannissee. Er gedachte der übertriebenen Freude, mit der er im Frühling dorthin zurückgekehrt war. Was war es eigentlich, das ihn in der Welt des weißen Mannes so sehr entzückt hatte? Die paar Sachen im Laden der Company? Die Wälder waren ja viel reicher an Beute für den, der sie zu holen wußte! Die »hölzernen Zelte«, die »mistuk mitschuaps« oder »Häuser«? Ihr eigenes Zelt war die sicherste Behausung in der Wildnis, und es konnte mitgenommen werden, reiste mit ihnen, um zur Hand zu sein, wo immer man es brauchte. Es war viel besser als die lächerlichen Gehäuse des weißen Mannes! Er sang:

»Denn wir gehen,
wohin wir gehören!
Herren der Wälder
sind wir Indianer!«

Es war kein richtiges Lied, mehr ein gesungenes Selbstgespräch, aber Mustard wedelte mit dem Schwanz, als er es hörte. Auch er gehörte zu den Wäldern, deren Herren die Indianer sind.

Sie sahen sich nun nach einer guten Heidelbeerstelle um, denn jetzt war die beste Zeit, sie für den Winter einzumachen. Sie fanden sie »sechsmal Schlafen« entfernt vom Johannissee. Meilenweit sah man nichts als 124 Heidelbeerbüsche. Als Pirre der Mutter sein erstes Rindenkörbchen voll Beeren zum Kosten brachte – es war das von Johnny so sorgfältig hergestellte –, fand sie sie ganz besonders groß und saftig, vorzüglich geeignet als nahrhafte und wohlschmeckende Zukost zum künftigen Bärenbraten des Winters.

Zwei volle Tage lang sammelten die Frauen Heidelbeeren in großen Mengen, während die Männer Fische fingen und verschiedenes kleineres Wild erlegten.

Endlich waren genug Beeren beisammen. Unter dem größten Kessel, den sie besaßen, wurde ein langsames Feuer angemacht, über dem die Beeren ohne Wasserzusatz zwei volle Tage und Nächte lang kochten, bis sie sich in einen zähen Brei verwandelt hatten, der zum Abkühlen in offene Rindenkörbchen gegossen wurde. Darin trockneten sie noch einen Tag an der Luft und konnten, als die Masse hart genug war, wie fertige Kuchen aus der Form gestülpt werden. Die Ausbeute war ausgezeichnet: am Schluß wurden zwanzig dauerhafte schwarze Beerenkuchen in die bereitgehaltenen Vorratsbehälter gepackt, in denen sie vor Schmutz und Insekten sicher verschlossen waren.

Nach dieser angenehmen Unterbrechung konnte die Reise weitergehen. Immer dichter wurde die Wildnis. Immer öfter zwangen Felsen in ihrem Weg, Stromschnellen und Wasserfälle die Familie, ihre Kanus zu verlassen, auszuladen und am Ufer bis zur nächsten schiffbaren Stelle entlang zu tragen, wo das nachgeschleppte Gepäck wieder in die Boote verstaut werden konnte. Es war eine schwere Arbeit, das ausgeleerte Kanu am ledernen Stirnband über den Kopf gestülpt zu tragen und mit beiden Händen zu stützen, während die Füße sich auf dem unebenen Gelände vorsichtig den Weg bahnten. Pirre und der Vater waren sehr geschickt darin, aber die Großmutter und Estelle kamen mit ihrem Boot nur langsam vorwärts, und am Schlusse folgte keuchend Michael mit dem Kanu der Mutter, die sich in der letzten Zeit recht schwach fühlte und nicht halb 125 so behend war wie gewöhnlich. Nur die Hunde liefen bei diesen Unterbrechungen frei umher und schienen sich gewaltig zu freuen, ihre Herren so schwer arbeiten zu sehen.

Es war eine wahre Belohnung, wenn man wieder auf das Wasser konnte. Aber je tiefer sie in die Wildnis eindrangen, um so zahlreicher wurden die Hindernisse, und sie bedurften all ihrer indianischen Geduld, um immer wieder auszusteigen, das Gepäck auszuladen, das Kanu zu tragen, es von neuem mit den Bündeln und Gegenständen zu belasten und vorsichtig weiterzufahren, ohne die einzelnen Stationen auch nur zu zählen. Jede Nacht errichteten sie neu das Zelt, jeden Morgen wurde es wieder zusammengefaltet und verpackt. Die Tage waren noch immer klar und sonnig, aber jede Nacht wurde es kühler. Zuweilen sprang »musquasch«, die Bisamratte, ihnen über den Weg, und wenn es dunkel war, ertönte der Schrei der Eulen und das Geheul der Wölfe. Eines Mittags sahen sie einen großen Bären faul in einer Astgabel schlafen, der sich ab und zu schläfrig die Fliegen vom Gesicht wischte. Pirre sah ihn zuerst und mußte beim Anblick des komischen alten Burschen laut auflachen. Das unerwartete Erscheinen der Eindringlinge überraschte den Faulenzer so sehr, daß er einfach vom Baum herunterfiel. Sein mit Heidelbeeren vollgestopfter Bauch klatschte laut auf den Waldboden auf. Aber das war nur ein Augenblick – sofort war er auf seinen Beinen und galoppierte mit der Geschwindigkeit eines Rennpferdes dem Waldinneren zu. Die ganze Familie sah zu, wie Pirre seine große Gelegenheit verpaßte. Neben ihm lag schußbereit das neue Gewehr. Aber wie konnte er damit rechnen, einem schläfrigen Bären zu begegnen, da er doch seine ganze Aufmerksamkeit auf das Steuern des Kanus durch die tückische Strömung gerichtet hatte? Von nun an lag er Tag und Nacht auf der Lauer, aber die Geister des Jagdglücks begünstigten ihn nicht zum zweitenmal.

Sie durchquerten nun schon die ersten Jagdgründe 126 ihrer Stammesgenossen. Obgleich sie die Besitzer genau kannten, erlaubte ihnen das Gesetz der Wildnis, ihren Lebensunterhalt während der Reise vom Lande anderer Indianer zu bestreiten. Sie schossen das Wild, das ihnen vor die Flinte kam, fischten und stellten über Nacht ein paar Fallen auf, um das Mahl des nächsten Tages sicherzustellen. Bei der Unsicherheit seiner Lebensweise ist jeder Indianer von der Hilfe seiner nahen und fernen Nachbarn abhängig, und solange er auf Reisen ist, ist er auf die Nahrung angewiesen, die er finden kann. Andererseits aber wäre es ein Verstoß gegen die uralten Regeln gewesen, mehr Wild zu jagen, als man zum unmittelbaren Lebensunterhalt braucht oder gar sich nach wertvollen Pelzen auf dem Jagdgrunde eines anderen Indianers umzusehen. Überall standen viele Pilze, aber niemand rührte sie an, denn die Naskapi mögen keine »Froschregenschirme« essen.

Das Land der »Têtes de Boule«, der »Kugelköpfe«, eines Unterstammes der Naskapi, lag nun schon hinter ihnen, und sie näherten sich dem Gebiet der Waswanipiindianer, das sie im Westen liegen ließen, um den Obatogamau-See zu erreichen, der nahe beim Mistassini liegt, von dem Vaters Jagdgrund nicht weit entfernt war.

An einem der schmäleren Zuflüsse entdeckten sie einen Biberdamm, der sich bei näherer Untersuchung als bewohnt erwies. Alle freuten sich schon im voraus auf den leckeren Braten. Aber gerade, als der Vater sich anschickte, kunstreich eine Biberfalle aufzustellen, bemerkte er an einem Baume ein eingeschnitztes Eigentumszeichen, das die »Handschrift« des Besitzers des Jagdgrundes verriet. Die Einschnitte in der Rinde waren jedem Indianer so deutlich verständlich, wie ein gedrucktes Plakat es dem weißen Manne ist. Sie bedeuteten:

»Diese Biber gehören mir. Ich habe sie zuerst entdeckt. Rührt sie nicht an!«

Sofort hörte der Vater mit seiner Arbeit auf. Das rechtmäßige Eigentum eines anderen Mannes war ihm 127 heilig. Einen »markierten« Biber durfte man nur fangen, wenn akute Lebensgefahr, Krankheit oder Hungersnot einen dazu zwangen. Und weiter zogen die Minnegouches. Als sie den Kanusee und den »See der gefeilten Axt« hinter sich hatten, schlugen sie ihr Lager an einer schönen bergigen Stelle am Ufer auf. Michael, der wie gewöhnlich auf das Wasser hinausblickte, entdeckte plötzlich einen schwimmenden Karibubock, der scheinbar zum Ufer schwamm, um sich der Herde wieder zuzugesellen, denn während des Sommers halten die Weibchen sich von ihnen fern, um die Jungen aufzuziehen. Michael sagte kein Wort. In seiner stillen Art hob er das Gewehr und schoß das Karibu genau in die Niere, denn so tötet der gute Jäger den »japéo atoku«.

Schon am Abend zog die Mutter dem Tier das Fell ab, und die ganze Familie verspeiste bald darauf ein Stück des guten Fleisches. Als sie am nächsten Morgen weiterreisten, begegneten sie Thomas Matabé (»Der aus den Wäldern Kommende«), dem Besitzer des Jagdgrundes. Sie berichteten ihm von ihrem Jagdglück, und er freute sich mit ihnen der willkommenen Beute. Die Großmutter wickelte sogleich den Rest des Karibufleisches in das Fell des Tieres, um es Matabé als Geschenk zu überreichen, der es überrascht und dankbar annahm.

Hoch über ihnen im Blau zogen die Schwärme der »pfeifenden Schwäne« gen Süden hin. Die schönsten Zugvögel aber, denen sie begegneten, waren die blauen Gänse mit ihren weißen Köpfen und dem braunen und blaugrauen Gefieder, die nach dem Golf von Mexiko unterwegs waren. Gelegentlich folgten diesen die kleineren »Roß-Gänse«. Mit der Regelmäßigkeit einer Uhr hielten sie ihr Abreisedatum ein.

An einer der Stromschnellen trafen sie den Indianer Maschinowapesch, den »Wahrhaftigen«, der sich in verzweifelter Lage befand. Zwei Jahre lang war er seinem Jagdgrund ferngeblieben, damit das Wild sich vermehre und er ihn wertvoller wiederfände. Nun mußte er zu 128 seiner Verzweiflung erfahren, daß Räuber sich während seiner Abwesenheit auf seinem Besitztum eingenistet und das Wild erlegt hatten, das er schonen wollte. Denn wenn der Frühling kommt, ist der Wildbestand der Jagdgründe klein geworden, und Maschinowapesch war dem Rat des Freundes von der Hudsons Bay Company gefolgt und hatte alle Biberdämme unberührt gelassen, denn für jeden weiblichen Biber, den er verschonte, konnte er für später mit drei bis vier Jungen rechnen. Und nun verhielt es sich so, daß die jungen Biber wohl dagewesen waren, aber die Räuber auch!

»Ein anderer Indianer hat sich auf meinem Jagdgrund festgesetzt, und nun habe ich kein Wild für den Winter!«

Das war tatsächlich so. Vielleicht hatte der Eindringling angenommen, daß der ursprüngliche Besitzer tot war. Die Jagdgründe sind zu kostbar, um ungenutzt liegenzubleiben. Wenn niemand dort seine Fallen stellte, so hatte ein anderer Indianer das Recht, das Land zu übernehmen. Denn es ist der Wille der Geister, die die Wildnis regieren, daß die Indianer alljährlich zur Jagd zurückkehren, und Unglück bedroht den Mann, der diese Pflicht versäumt, und seien seine Gründe noch so einleuchtend.

Pirre regte sich sehr über diesen Vorfall auf und bat abends im Zelt den Vater, ihm doch mehr über die uralten Gesetze der Jagdgründe zu erzählen.

»Voriges Jahr«, sagte der Vater und lächelte, »würde dich das gar nicht interessiert haben.«

»Da war ich wohl noch zu jung. Aber jetzt – noch nie sind mir die Wälder so schön vorgekommen wie dieses Jahr.«

Das Laub war bunt in allen Schattierungen. Am schönsten sahen die hohen Ahornbäume aus, wo einzelne feuerrote Zweige aus dem noch frischen Grün hervorleuchteten. Aber je weiter sie nach Norden kamen, um so geringer wurde die Anzahl der Baumsorten. Nach dem dschungelähnlichen Urwaldgürtel waren sie in 129 freies Land gekommen, wo vereinzelte gewaltige Baumriesen wie Kirchtürme emporragten.

»Könnte jemand so in unseren Jagdgrund eindringen, Vater?«

»Nein Pirre. Ich habe Söhne.«

»Und wenn wir nun alle im Winter verhungerten?«

»Dann, ja dann würden wir unseren Jagdgrund verlieren. Aber darum brauchst du dich nicht zu sorgen. Solange noch ein Minnegouche lebt, wird das nicht geschehen.« Pirre sah ihn einen zärtlichen Blick mit der Mutter austauschen. Solche Blicke waren selten, denn auch innerhalb der Familie trug man Gefühle nicht öffentlich zur Schau.

»Selbst die Großmutter allein«, fuhr der Vater fort, »oder die Mutter könnte auf unserem Lande jagen, wenn die Geister es so wollten, daß alle Minnegouche-Männer Hungers sterben sollten.«

Gar manche alte Frau gab es im Naskapistamm, die als einzige Überlebende der Tradition ihrer verstorbenen Familie treu blieb. Und kein Indianer weiß, ob es ihm bestimmt ist, den nächsten Winter zu überleben.

»Wir bleiben am Leben, nicht, Vater?«

»Ja – wenn es in den Sternen steht.«

Jeder hatte ein Stück Fichtenharz im Mund – den Kaugummi der Indianer. Nach einer langen Pause sagte der Vater im Tone plötzlicher Überraschung:

»Du redest wie ein Erwachsener –«, aber Jahreszahlen wurden nicht erwähnt, denn kein Indianer weiß ganz genau, wie alt er ist.

»Alles scheint größer dieses Jahr«, sagte Pirre, »die Bäume, die Felsen, die Seen . . .«

»Sie sind nicht gewachsen, aber du. Auch deine Gedanken sind gewachsen.«

»Den ganzen Weg könnte ich allein finden!«

»Vielleicht, Sohn. Diese Gegend hier beim Mistassini ist der beste Ort der Welt. Ich kenne das ganze Land, weit über meinen Jagdgrund hinaus. Am äußersten Ende steht das große Steinhaus, das die Geister gebaut 130 haben, als die Erde gemacht wurde. Es steht hoch auf einem Berge, sein Inneres ist aus rosa Kristall. Vor vielen hundert Jahren hat es ein weißer Mann gesehen, aber er ist nie wieder zurückgekommen.«

»Wie lange werden wir noch unterwegs sein?« fragte die Mutter mit müder Stimme.

»Wenn wir Glück haben, erreichen wir morgen die äußerste Grenze.«

»Ich bin so froh«, sagte die Großmutter, »im Sommer habe ich immer die Angst, im Bereich des weißen Mannes zu sterben.«

Sie legten sich zur Ruhe nieder.

Strahlender Sonnenschein weckte sie am Morgen, als die letzte Strecke des Weges vor ihnen lag.

»Da!« rief Pirre und zeigte nach links. Sie hielten ihre Kanus an. Da war schon der erste Lagerplatz, wo sie einen Teil ihres Besitzes während des Sommers versteckt hatten. Während die anderen in den Booten blieben, legten der Vater und Pirre bei der kleinen Insel an, wo sie im vergangenen Mai ihren Schlitten gelassen hatten, als der Schnee zu schmelzen anfing und sie die Reise im Kanu fortsetzen mußten. Ja, da war er noch, unter den Zweigen. Sie luden ihn in Vaters Boot.

Ein paar Reisestunden später kamen sie zum nächsten Versteck, einer anderen kleinen Insel, wo kein Waldbrand ihr Gut gefährden konnte. Hier hatten sie auf vier hohen Pfählen eine hölzerne Plattform unter den Bäumen errichtet. Die Pfähle waren bis hoch hinauf mit aufgeschnittenen Blechdosen des weißen Mannes umwickelt, so daß Eichhörnchen und Vielfraße nicht daran emporklettern konnten. Dort lag unter einer dicken Schicht von Laub und Birkenrinde noch unverletzt der große Sack Mehl, den sie im Winter nicht gebraucht hatten. Sie luden ihn in Pirres Kanu.

Und weiter ging die Reise, vorbei an Tannen und Lärchen, Birken und Fichten. Als sie um die letzte enge Windung gebogen waren, lag plötzlich vor ihren 131 Blicken die gewaltige Wasserfläche des Mistassini, endlos rauschend wie der Ozean.

Aber es war nur eine flüchtige Vision, denn sie steuerten ihre Kanus unter Vermeidung des Sees zur Linken, um der langen Sandbank zu folgen, die einer der letzten Wegweiser zu ihrem Jagdgrund war. Der Kalksteingürtel um den Mistassini verlor sich hier in dem hohen disteldurchsetzten Gras. Ein Wasserfall überschlug sich vor ihnen in der Sonne und sprühte Diamantenstaub über ihre Kanus. Ein Kreis gewaltiger roter Steine sperrte ihn ab.

Aller Augen richteten sich auf den Vater, denn jetzt befanden sie sich auf dem Jagdgrund der Minnegouches.

»Steigt aus«, sagte er mit feierlicher Stimme. »Nil ntastschi!« (»Mein Grund!«) Michael hob seine Hand und zeigte auf die Krone der Tamerack-Lärche, wo drei Bärenschädel und ein Karibugeweih in den Zweigen schaukelten als heilige Symbole des Jagdglücks. Mit einem wilden Schrei flog Jil, der Habicht, ihnen voraus.

Sie ließen die Kanus am Ufer und folgten dem Vater, der den ersten Lagerplatz bestimmte. Stück für Stück würden sie während der kommenden Tage ins Innere vorrücken, denn dieser Jagdgrund einer einzigen Familie erstreckte sich über ein Gelände von über vierhundert Quadratmeilen. Sie besaßen kein Geld, die Minnegouches, aber sie schritten mit der Würde von Königen über das gewaltige Stück Gottesnatur, das ihnen anvertraut war.

Obgleich weder Zäune noch Grenzsteine ihr Land umschlossen, kannten sie doch, wie alle Indianer, die genauen Ausmaße ihres Besitzes. Die Steine und Bäche, die Felsen und Baumgruppen des Jagdgrundes, so wie die Natur sie gebaut hatte, zeigten dem Vater und seinen Söhnen, wo ihr Land begann und wo es endete. Die Geister der Wildnis hatten es ihnen anvertraut mit allem seinem Reichtum an Wild und Holz und Fischen. Und sie verwalteten es in Ehren. 132

Hier oben im Norden waren schon die Blätter von den Bäumen gefallen. Im Frühling hatten sie sie weißverschneit verlassen. Niemals sahen sie hier die jungen Knospen und das grün sich entfaltende Laub, denn die Zeit ihrer Herrschaft über diese Jagdgründe war der Winter. Als sie sich endlich im Inneren ihres gewaltigen Gebiets den Platz für das Winterzelt ausgesucht hatten, rief der Vater seine drei Kinder zusammen und sagte zu ihnen mit ernster Stimme:

»Es ist nun Zeit, daß ihr den Ort vergeßt, wo wir die Monate der Wärme verbrachten. Ihr seid zurückgekehrt zum Leben der Indianer. Ehrt die alten Gebote. Ihr dürft das Fleisch aller Pelztiere außer dem des Wolfes essen. Niemals aber dürft ihr die Vorderpfoten eines Tieres essen, sonst wird Unglück euer Alter heimsuchen. Und pfeift niemals auf den Jagdgründen – das würde die Geister herbeirufen. Ehrt die alten Sitten, damit die Seelen der Vorfahren euch zu Hilfe kommen auf diesem unserem Land, wo auch sie einst jagten.«

Die Großmutter hing Amulettschnüre um ihre Hälse. Sie waren wieder geweiht für das Leben in der Wildnis.

Am nächsten Morgen gingen die Männer aus, um zur Feier des Beginns der Jagd einen Biber zu erlegen. Der Vater fing ihn, die Großmutter zog ihm das Fell ab, kochte das Fleisch in einem Kessel und stellte das fertige Mahl in einem Korb aus Birkenrinde in die Zeltmitte. Der Vater zündete die Pfeife an und begann die alte Trommel zu schlagen. Zu ihrem Klang sang er die Namen der Tiere, die er während des Winters zu jagen hoffte.

»Amischku!« sang er zum Rhythmus der Trommel, »Biber!«

»Muschko!« fuhr er fort, »Bär!«

Einzeln und feierlich rief er sie auf in langer Reihe: Nerz und Otter, Fuchs und Marder, Bisamratte und Elch, Karibu und Luchs, Vielfraß und Schneehase.

Ehe sie aßen, nahm jeder in der Runde kleine Stücke 133 Fleisch von allen Teilen des Bibers in die Hand und reichte sie dem Vater, der diese Stücke von den Schultern und vom Bein, von Kopf, Leber, Herz und allen anderen Organen sammelte und sie langsam ins Feuer warf. Dazu sang er die Worte:

»Dies gebe ich euch. Nun seid zufrieden.«

Dies geschah zu Ehren der Häuptlinge aller der Tierstämme, die er aufgerufen hatte. Zum Zeichen ihrer Erkenntlichkeit würden sie ihm nun während der kommenden Jahreszeit ihre Untertanen zusenden, damit sein Gewehr sie schießen und seine Fallen sie fangen könnten.

Nach den wilden Tieren kamen die Hunde an die Reihe. Sie erhielten erlesene Stücke guten Fleisches. Zufrieden und dankbar würden sie als treue Jagdgehilfen ihre Erkenntlichkeit zeigen.

Erst jetzt begann die Familie ihr Mahl. Der Vater begann zu essen, und alle folgten seinem Beispiel. Sie aßen, soviel sie nur konnten, denn bei Anbruch des nächsten Morgens mußte das »heilige« Fleisch verzehrt sein. Was übrigblieb, wurde ins Feuer geworfen. Die Großmutter wickelte alle Biberknochen in Birkenrinde ein, die mit Lederstreifen umwunden und zu Paketen geschnürt wurde. Kein Hund durfte diese Knochen berühren, hoch in den Bäumen wurden sie aufgehängt. Pirre band sie fest in die Zweige ein, denn fielen sie herunter, so würde Unglück die ganze Familie heimsuchen.

Die Bäume waren schon kahl gewesen, als sie zurückkehrten. Zwei Wochen später war der ganze Jagdgrund mit Schnee bedeckt. 134

 


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