Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Viertes Kapitel

Es gibt soviel zu lernen

Pirre saß in der Sonne und betrachtete immer wieder die prächtigen Papierstücke des weißen Mannes, die sein Eigentum waren. Er wiederholte ihre Namen in drei Sprachen: »Quapists, Piaster, Dollars . . .«

Als er aufsah, bemerkte er Vitaline, die plötzlich vor ihm stand. Sie schien seltsam erregt, ihre Wangen zeigten die dunkle Farbe der Verlegenheit. Sofort fing er an, von seinem Geld zu sprechen. Aber die Schwester lachte ihn ganz einfach aus. Sie weigerte sich, seine 50 Wichtigtuereien auch nur einen Augenblick länger anzuhören. Trotzdem tat sie etwas für sie ganz Ungewöhnliches: sie setzte sich ganz nahe neben ihn und legte ihre Hand auf seinen Arm. Dazu sah sie ihn so herzlich an, daß er ganz erstaunt seine Geldscheine in die Tasche stopfte und sich selbst vergaß.

»Pirre«, murmelte die Schwester ganz leise an seinem Ohr, »für gewöhnlich bist du ein ganz vernünftiger Kerl, weit über deine Jahre hinaus. Aber wenn deine Schwester einmal einen Freund braucht, dann sitzt du da wie ein Idiot und zählst Piaster. Und was ist schon Geld? Gar nichts! Piaster sind lächerlich, und du bist wirklich groß genug, das einzusehen.«

»Trotzdem hast du deinen Nerz verkauft und dir Piaster für ihn auszahlen lassen!«

»Nur aus Spaß, als Sommervergnügen. Denk an die Wälder! Was kann man da mit Quapists machen? Gar nichts! Das Leben ist das Wichtigste, Pirre, das Leben!«

Was wollte sie nur? Er verstand gar nicht, was sie meinte. Vitaline war heute so sonderbar. Warum sah sie sich immer um und starrte unaufhörlich in die Richtung, wo das Company-Haus war? Er folgte ihren Blicken und bemerkte das Zelt der Nachbarn, wo Vater Schekapéo, »Das große Gedächtnis«, mit seiner Familie wohnte. Aschappi, der jüngere Sohn, ging gerade ins Zelt. Johnny, der ältere, saß draußen bei seinen Werkzeugen und schnitzte wie gewöhnlich an den Sachen aus Birkenrinde herum, in deren Herstellung er Meister war.

Johnny? Plötzlich war Pirre im Bilde. Er entsann sich jetzt, daß Vitaline während der ganzen Rückreise von kaum was anderem gesprochen hatte als von Johnnys »herrlichen« Eigenschaften und daß sie während der vergangenen Abende recht eigentümliche Blicke mit dem jungen Mann gewechselt hatte, der da pfeifend in der Sonne saß und mit seinem Krummesser an der Birkenrinde herumschnitzelte. Er lachte und wollte gerade eine witzige Bemerkung machen, als Vitaline ihm mit ihrer Hand den Mund zuhielt. 51

»Und so etwas betrachtet sich als erwachsen!« sagte die Schwester verächtlich.

Ihm wurde ganz unbehaglich zumute.

»Vitaline«, sagte er, »du meinst das nicht im Ernst?«

»Sieh doch selber hin –«, flüsterte sie und drehte Johnny schnell den Rücken zu, denn »Das große Gedächtnis« selber war plötzlich auf der Bildfläche erschienen. Hochaufgereckt und breitschulterig kam Vater Schekapéo auf ihr eigenes Zelt zu.

Vitaline drückte ihren hübschen Kopf an Pirres Schulter. Ihr rabenblaues Haar hing wie ein Schleier vor seinen Blicken. Plötzlich verstand er sie. Mit männlicher Überlegenheit übersah er die Situation.

»Du willst ihn wohl heiraten«, sagte er der Schwester ins Ohr, »darüber braucht man sich doch nicht so aufzuregen!«

»Pirre«, sagte sie so leise, daß er ihre Worte kaum verstehen konnte, »ja! denk doch nur, er will mich zu seiner Frau machen!«

Pirre überlegte schnell, welchen Einfluß diese Neuigkeit auf seine eigene Position innerhalb der Familie haben könnte. Alle bewunderten Vitaline, sie war so klug! Wenn sie heiraten sollte, dann wäre es leicht für ihn, sich Estelle gefügig zu machen. Michael würde sich nicht darum kümmern, der pochte niemals auf sein Vorrecht, der Älteste zu sein. Er sagte:

»Du! Das wäre ja großartig!«

Schekapéo war nicht mehr allein. Vater Minnegouche war ihm entgegengegangen, und ohne auch nur einen Blick auf die Kinder zu werfen, verschwanden die beiden Väter in der Richtung des Seeufers, Johnny pfiff nicht mehr. Vitaline richtete sich auf. Zu seinem Erstaunen sah Pirre Tränen in ihren Augen.

»Da ist doch nichts zu heulen!« sagte er, »vielleicht feiern wir bald die Hochzeit!«

»Wenn Vater ja sagt!«

». . . und die Mutter. Und die Großmutter . . .«

»Ach, die wissen es ja schon lange!« 52

Pirre staunte. Wie verschlagen doch die Frauen waren! Da saßen sie den ganzen Tag im Zelt herum und nähten ihre hübschen Mokassins, immer still und sanftmütig, und im Grunde war alles nur Heuchelei. Heimlich besprachen sie also die wichtigsten Familienangelegenheiten, ohne den Männern auch nur ein Wort zu verraten!

»Ich werde niemals heiraten!« sagte er impulsiv.

»Als wüßtest du etwas davon!«

Plötzlich kam Michael. In der Hand hatte er noch den Fellkratzer, mit dem er an dem Karibufell gearbeitet hatte, das in dem großen Holzrahmen hinter dem Zelt ausgespannt war. Es war schon ganz hell und sauber und konnte nun bald gewalkt werden. Stück für Stück hatte Michael die letzten Sehnen- und Fleischstücke von dem Leder abgekratzt. Wenn es fertig war, konnten Mokassins und Lederriemen daraus geschnitten werden.

»Ich freue mich so für dich, Vitaline«, sagte er, als er zu den beiden trat, »ich wußte alles über dich und Johnny, als er vorigen Winter das Hölzchen warf.«

»Du wußtest es?« Sie war ganz überrascht. »Und du hast nie etwas davon erwähnt!«

»Das ging mich nichts an.«

Wenn Pirre so etwas hörte, bezog er es immer gleich auf sich selbst. Ob er wohl jemals Lust dazu haben würde, einem Mädchen »das Hölzchen hinzuwerfen«? Er glaubte es nicht.

Da es sich für junge Leute verschiedenen Geschlechts nicht gehörte, insgeheim miteinander zu sprechen, so gab es nur einen Weg für einen jungen Mann, einem Mädchen seine Gefühle zu zeigen: wenn sie gerade in seiner Nähe war, warf er ein Hölzchen oder einen kleinen Zweig vor ihre Füße hin. Wenn sie das Zeichen unbeachtet ließ, so konnte er sich als abgeblitzt betrachten. Sollte sie es aber aufheben und zu ihm zurückwerfen, so war ihr geheimes Einverständnis damit besiegelt. Aber auch dann sprachen sie noch nicht miteinander, ehe ihre Eltern nicht eingeweiht worden 53 waren und ihre Zustimmung gaben. Erst auf dem Sommerplatz wurde eine Verlobung offiziell bekanntgemacht. Kein Mädchen, das auf sich hielt, heiratete im Winter auf den Jagdgründen.

Wie vielerlei doch hinter Pirres Rücken vorging! Also auch Michael hatte davon gewußt und ihm nichts gesagt! In der Zukunft mußte er besser aufpassen.

»Ich habe Johnny immer gern gehabt«, sagte Michael, »wie geschickt er ist! Ein wahrer Künstler.«

Vitaline sah ihn dankbar an.

»Du bist ein guter Bruder«, sagte sie, »und das merke ich nun gerade jetzt erst richtig, wo ich vielleicht bald fortgehe. Zu dumm, daß du immer so krank bist. Die dich einmal zum Manne kriegt, kann stolz sein.«

»Das Heiraten ist nichts für mich, Vitaline. Mir gefällt es viel besser, anderen Leuten zuzusehen und mit ihnen zu fühlen. Aber in der Nähe – da bin ich lieber allein.«

Pirres Ideal war genau das Gegenteil. Was auch immer geschah – er wollte ganz persönlich daran teilnehmen. Wenn er etwas fühlte, so sprach er es sofort aus. Der ganze Stamm wußte, daß er ein großer Jäger werden wollte. Vielleicht würde er auch einmal heiraten, wer konnte das jetzt schon wissen? Aber es war doch natürlich. Seine Frau mußte ihm auf den leisesten Wink gehorchen, und er würde viele Söhne haben, alle natürlich berühmte Jäger.

Sie sahen die beiden Väter zurückkommen. Jeder ging still in sein Zelt. Johnny fing wieder an zu pfeifen. Große Späne Birkenrinde rollten sich unter seinem Messer.

Michael nahm Vitalines Hand.

»Sie können nichts dagegen haben«, sagte er zuversichtlich. »Sie können sich keinen besseren Schwiegersohn wünschen als Johnny.«

Die Mutter kam aus dem Zelt und rief Vitaline. Michael ging zu seinem Karibufell zurück, aber Pirre lief hinter der Schwester her, um ja nichts zu 54 versäumen. Er sah gerade noch Johnny im Schekapéo-Zelt verschwinden. Sicher hatte sein Vater ihn gerufen.

Während der letzten Tage hatten die Frauen eine Menge Mokassins genäht, die Mr. Angus bei ihnen bestellt hatte. Als die Geschwister jetzt eintraten, lagen auf dem Boden noch überall die Lederstücke herum, die Schnittmuster aus Birkenrinde, die Kästchen voll bunter Glasperlen und die Nähfäden aus Karibusehnen.

Estelle tat so, als interessiere sie sich nur für ihre Arbeit. Die Großmutter gab ihr ein Stück Leder, das sie gerade zurechtgeschnitten hatte, und sie feilte die Knochennadel, um sie scharf zu machen, feuchtete den Sehnenfaden und das Leder an und fing an zu nähen, mit einem spöttischen Ausdruck um ihren Mund.

Als Vitaline mit gesenktem Kopf näher kam, ließ die Großmutter das Lederstück samt dem Messer auf den Boden fallen und begann mit den bunten Glasperlen im Körbchen auf ihrem Schoße zu spielen. Die grünen, roten, blauen und gelben Perlen rannen aus ihren alten Händen wie die Körnchen in einer Sanduhr.

Der Vater saß rauchend in seiner Ecke. Die Mutter zeichnete Blumen, Wolkenformen und Tiere mit Holzkohle auf das weiche Leder, wozu sie eine Schablone aus Birkenrinde benutzte.

Da niemand sprach, setzte sich Vitaline hin und nahm die Arbeit wieder auf, die sie angefangen hatte, ehe ihre Unruhe sie zu Pirre trieb. Mit dem glänzenden roten Nähgarn des weißen Mannes bedeckte sie die von Estelle vorgenähten Heftstiche mit zierlichen Mustern. Pirre setzte sich zum Vater und betrachtete wie er die arbeitenden Frauen. Mokassins waren Frauenarbeit. Kein Indianer rührte sie an, ehe sie fertig waren.

Das einzig wahrnehmbare Geräusch kam von den Perlen, die klirrend durch Großmutters Hände rannen. Alle Gesichter waren über die Arbeit gebeugt. Aber der Vater regierte alles, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Pirre freute sich über die Menge Mokassins. Bestimmt war auch für ihn ein neues Paar darunter. 55

So oft schon hatte er die Frauen bei dieser Arbeit gesehen, aber er hatte nie darüber nachgedacht. Es war doch allerhand dazu nötig, ein gutes Paar Mokassins zu machen. Für Männerschuhe brauchte man andere Schnittmuster als für die der Frauen. Jeder einzelne Schuh wurde so sorgsam aus dem großen Fellstück geschnitten, daß nur noch ein weiterer Teil angefügt zu werden brauchte, die Lasche. Alles andere war Näharbeit. Großmutters Perlenstickereien, mit denen sie die Mokassins verzierte, waren berühmt. Sie kannte auch noch die alte Kunst, gefärbte Stachelschweinborsten statt der Perlen zu verwenden. Vitaline preßte gerade den weiten Vorderteil eines Schuhes mit der Feile in zierliche Fältchen und faltete dann den Außenrand des Leders geschickt zur Stulpe um.

Die Mutter schnitt ein herabhängendes Stück roter Borte von ihrem Mokassin ab und sagte dann:

»Schatschisch tagno«, »Der Schuh ist fertig.«

Klick, sagten die Perlen in Großmutters Hand.

Ohne Vitaline auch nur anzusehen, fuhr die Mutter fort:

»Der Vater und ich haben deine Hochzeit mit Schikapéos Sohn für nächste Woche festgesetzt.«

Vitalines Kopf senkte sich noch tiefer. Pirre konnte die Farbe in ihrem Gesicht wechseln sehen.

Also, es würde wirklich eine Hochzeit geben! Und er, Pirre, würde also einen »nischtau« haben, einen Schwager!

»Montag oder Dienstag wäre es am besten«, sagte die Großmutter, »die Geister haben Hochzeiten am Wochenanfang am liebsten.«

»So soll es sein«, sagte der Vater. Vitaline hatte nichts zu sagen. Sie hatte schon vor langer Zeit gesprochen, als sie das Hölzchen zu Johnny zurückwarf.

Die »nitschim« (jüngerer Bruder, jüngere Schwester) Estelle und Pirre sahen sich verschmitzt an. Wenn sie erst an der Reihe waren, das würde etwas werden! Aber auch schon Vitalines Heirat war aufregend genug. 56

Der Vater rauchte wortlos weiter. Die Großmutter legte das Körbchen mit den Perlen fort und stickte einen von der Mutter vorgezeichneten Biber mit Perlen auf einen zugeschnittenen Schuh.

Pirre stand leise auf und schlüpfte aus dem Zelt.

»Anfang nächster Woche ist die Hochzeit!« sagte er zu Michael, um der erste zu sein, der es verkündete. »Komm, wir wollen zu Johnny und Aschappi gehen!«

Aber dies war eine der seltenen Gelegenheiten, wo Michael als »nistesch« (älterer Bruder) auftrat.

»Willst du denn heute überhaupt nichts tun?« fragte er, und Pirre blieb verdutzt bei ihm stehen. Er hatte das Nichtstun in der Sommerszeit tatsächlich ein wenig übertrieben.

So half er gutwillig Michael beim Losbinden der Riemen, die das Karibufell an dem großen Rahmen befestigt hatten. In der Nierengegend konnte man noch das Loch der Kugel von Vaters sicherem Schuß sehen. Morgen würden sie das Fell waschen, dann einfetten und einweichen, um es glatt und weiß zu machen. Dann konnte es zusammengerollt und bis zum Gebrauch weggelegt werden. Später brauchten sie es nur noch goldbraun zu räuchern, denn weißes Leder ist unpraktisch für Schuhe.

Michael holte eines der fertigen weißen Felle aus dem Zelt, und sie beschlossen, es gleich noch zu räuchern, damit die Frauen genug Vorrat an fertigem Mokassinleder hatten. Das Fell war schon zum Räuchern zusammengenäht wie ein großer Sack. Die Brüder füllten einen Blecheimer mit winzigen Stücken morschen Holzes, zündeten es an, und als es glomm, stülpten sie das Fell darüber. Es verbreitete sich ein würziger Geruch nach Leder und Räucherholz. Die neuen Mokassins würden noch lange danach duften.

Dann endlich gingen sie zum Zelt der Schekapéo-Familie. Johnny, der längst wieder draußen weiterarbeitete, begrüßte sie mit großer Lebhaftigkeit, wenn 57 auch der gute Ton ihnen vorschrieb, die bevorstehende Hochzeit überhaupt nicht zu erwähnen.

Johnnys jüngerer Bruder Aschappi kam aus dem Zelt, als er ihre Stimmen hörte.

»Ein feiner Sommer!« sagte Pirre zu Johnny. So weit konnte man schicklicherweise gehen.

»Im Sommer mache ich gern ein paar Extrasachen«, antwortete sein zukünftiger Schwager, »man kann sich ein bißchen Geld damit bei der Company verdienen und hat etwas für sich selber.«

Überall um ihn herum lagen kakaobraune Stücke Birkenrinde. Sein Hauptwerkzeug war ein Krummesser, das wichtigste Gerät aller Indianer. Vor sich in den Büschen hatte er dünne Karibulederstreifen und gespleißte Fichtenwurzeln aufgehängt, mit denen er die zugeschnittenen Rindenteile zusammennähte. Er behandelte die Rinde, als sei sie Stoff oder Leder und fügte die Nähte zusammen wie ein Schneider. Aschappi half ihm bei den nebensächlicheren Handreichungen, denn Johnnys Zeit war zu kostbar für Kleinigkeiten. Seine Ornamente waren besonders berühmt, Michael bewunderte die Feinheit der Linienführung und Pirre hatte schon oft versucht, seine Schablonen nachzumachen.

»Könntest du mir nicht zeigen, wie du deine runden Körbe machst?« fragte er ihn nun auch gleich wieder, aber zu seiner Überraschung wurde er diesmal nicht auf »ein anderes Mal« vertröstet. Die Tatsache, daß sie bald Schwäger sein würden, wirkte Wunder! Sie eröffnete ihm Möglichkeiten, die ihm früher stets verschlossen geblieben waren. Plötzlich behandelte ihn der hochangesehene und wohl auch etwas hochmütige Johnny als seinesgleichen. Michaels amüsiertes Lächeln war durchaus nicht angebracht!

»Kann ich morgen kommen?« fragte Pirre zur Sicherheit.

»Ja, komme nur morgen«, sagte Johnny, »ich habe zwar gerade jetzt sehr viel zu tun, aber ich mache es 58 schon möglich. Ich schnitze jetzt auch vor allem allerhand Sachen.«

Schöpflöffel und Kanuteile wurden aus Zedern-, Schneeschuhrahmen aber aus Birkenholz gemacht, und zwar in ganz anderer Technik als die Rindensachen. Aber Johnny konnte alles. Die Schekapéo-Familie spezialisierte in Holzschnitzereien. Es war durchaus möglich, daß auch Vitalines zukünftige Söhne einmal Künstler wie Johnny sein würden, der viele seiner feinsten Produkte an die Company verkaufte. Er wußte nicht, daß die meisten seiner Körbe, Schüsseln und Behälter nach Quebec, New York und selbst über den Ozean nach London geschickt wurden, wo sie als Meisterwerke »primitiver Kunst« hinter funkelnden Schaufenstern ausgestellt waren.

Als die Brüder zum Minnegouche-Zelt zurückkamen, fanden sie dort Monsieur Clair. Zum ersten Male wartete ein richtiger Geschäftsmann auf Pirre Minnegouche. Das war wirklich ein wichtiger Tag!

Indianereltern mischen sich niemals in die Privatgeschäfte ihrer Kinder. Wenn ihre Söhne oder Töchter für sich selber ein paar Pelze in der Falle erbeutet hatten, wenn die Mädchen Mokassins genäht oder die Jungen Tiere aus dem Wald mitgebracht hatten, so durften sie frei darüber verfügen, und mit dem erhaltenen Geld konnten sie tun, was sie wollten.

Monsieur Clair stand neben Peter, der während der vergangenen Wochen ganz gewaltig gewachsen war. Sofort machte er den kräftigen Bären schlecht, der bis zu Pirres Schultern reichte, wenn er sich auf die Hintertatzen stellte.

»Ein ganz gewöhnlicher schwarzer Bär«, sagte Monsieur Clair, »und noch nicht einmal halb erwachsen. Der hat kaum einen Verkaufswert.«

Verkaufswert? Es war ein komisches Gefühl, so von Peter reden zu hören, als wäre er ein Stück Ware.

Zu dumm, daß Michael immer so zurückhaltend war! Statt hier Pirre mit seinem überlegenen Geist 59 beizustehen, war er verschwunden, weil er es haßte, sich »einzumischen«.

Vielleicht war es gut, Monsieur Clair einmal zu zeigen, daß Pirre auch ohne ihn Geld verdienen konnte. Er zog die »Piaster« aus seiner Tasche. Es wirkte. Monsieur Clairs Augen wurden ganz weit vor Staunen.

»Du kriegst wohl schon dein Teil ab von der Jagd?« fragte er mit deutlichem Interesse. Pirre antwortete nicht. Gegen die Tücken der weißen Welt hat der Indianer nur eine Waffe: Schweigen.

»Hör mal, Pirre –«, wie süß Monsieur Clairs Stimme plötzlich klingen konnte! »Ich habe mehr Geld als Mr. Angus. Ich verkaufe wunderbare Sachen.«

»Wenn du so reich bist, warum kaufst du dann nicht die ganze Company?«

»Du gehörst also zu den Frechen. Die alten Indianer waren von besserer Sorte.«

»Die alten Indianer machen ihre Geschäfte mit der Company!«

»So. Nun, dann verkaufe du nur deinen Bär an Mr. Angus. Ein lebendiger Bär ist gerade, was ihm fehlt. Adieu, Pirre Minnegouche.« Er tat, als ob er ginge.

Peter schien gerade auf diesen Augenblick gewartet zu haben, um sich selbst in den Handel einzumischen. Er übernahm es, an Stelle seines etwas aus dem Gleichgewicht gebrachten Herrn zu antworten, indem er sich auf die Hinterbeine stellte und einen Tanz vorführte, den er selbst erfunden hatte. Während er sich so mit spaßiger Würde im Kreise drehte, sang er dazu in der Bärensprache:

»Ham-ham-ham-hi, ham-ham-ham-hi!«

Es schien wirklich, als wollte er sich um eine Anstellung in einem Zirkus bewerben, obgleich er doch von einer solchen Institution nicht die geringste Ahnung haben konnte. Er benahm sich wie ein routinierter alter Schauspieler. Niemals zuvor hatte Pirre ihn etwas Derartiges vorführen sehen.

Monsieur Clair kehrte sofort um. 60

»Wieviel?« fragte er.

»Finger von zwei Händen!« antwortete Pirre Minnegouche.

»Zehn Dollar! Bist du verrückt?«

»Ich habe Peter aus den Wäldern mitgebracht.«

»Ich kann hundert Bären aus den Wäldern haben!«

»So hol sie doch! Hol dir einen wie Peter! Einen Tanzbären!«

»Schon fünf Dollar wären zuviel! Finger einer Hand wäre zuviel für solch einen gewöhnlichen Bären!«

»Ich möchte ihn hier behalten, bis wir wieder abreisen.«

»Das ist ja ein feines Geschäft! Die Ware beim Verkäufer lassen!«

»Ich füttere ihn. Der Sommer ist kurz.«

»Na schön, du Gauner, ich will dir vier Dollar zahlen. Aber für einen Dollar mußt du Ware kaufen.«

»Was für Ware?«

»Eine Falle.«

»So soll es sein«, sagte Pirre. Dieselben Worte hatte der Vater zu Vitaline gesagt.

Er bekam drei »Piaster« gleich bar ausbezahlt. Wenn er Peter brachte, würde er eine »Dollar-Falle« erhalten – Mr. Angus verkaufte genau dieselbe für vierzig Cent. Aber nun konnte er wenigstens Peter bis zur Abreise behalten. Er kam sich sehr gewitzt vor.

Fünfzig Dollar für den Bären, rechnete Monsieur Clair, und falls er das Kunststück im richtigen Augenblick wiederholt, kann er hundert einbringen.

Pirre war jetzt so reich wie noch nie in seinem Leben. Aber im Grunde bedeuteten ihm Geldsummen genau so wenig wie Jahreszahlen. Er konnte sich nichts Rechtes darunter vorstellen.

Als er sich am nächsten Morgen bei Johnny einstellte, sah er dort ein so prächtiges keilförmiges Pemmikankörbchen mit einem Deckel über der engen oberen Öffnung, daß das »offene runde Körbchen«, dessen Machart er lernen wollte, ihm nicht mehr so interessant 61 vorkam. Doch schließlich beschloß er, bei seinem ersten Wunsch zu bleiben.

Eigentlich war die Herstellung aller Holzsachen, die weniger wichtig waren als zum Beispiel Schlitten, Kanus, Schneeschuhe oder Krummesser, Frauenarbeit. Aber mit Johnny verhielt es sich anders. Er war viel mehr als ein Hersteller von Haushaltssachen. Er war ein Künstler.

Er lachte Pirre freundlich zu und legte das schöne Kanumodell, an dem er gerade arbeitete, aus der Hand. Bis in die letzte Kleinigkeit glich es dem Vorbild aufs Haar, und wenn es ein daumenhohes Volk von Zwergen gegeben hätte, so hätten sie mit diesem Kanu genau so sicher auf dem See herumfahren können wie wirkliche Indianer in ihren Booten. Bei der Werkbank stand ein verrauchter alter Blechkessel mit kochendem Wasser über dem Feuer. Da hinein wurde das Zedernholz getaucht, wenn Johnny es in irgendwelche Formen biegen wollte.

Zu ihren Füßen im Gras lagen einige fertige Stücke: Futterale für Angeln und Fischereigeräte, große Behälter für Feuerholz, Becher mit Henkeln, Eßteller und andere Gegenstände, alle verziert mit Johnnys berühmten Ornamenten.

Johnny nahm nun ein ziemlich großes viereckiges Stück Birkenrinde und breitete es vor Pirre aus. Der innere Teil der Rinde war für die Außenseite des Körbchens bestimmt, da die prächtige braune Holzfarbe sich so gut für Ornamente eignete. Die helle, äußere Seite der Rinde mit den feinen Zeichnungen kam nach innen. Johnny bezeichnete die Mitte des Rindenstückes mit einem mit dem Krummesser eingeritzten Kreuz und beschrieb dann mit einem ganz primitiven Zirkel einen Kreis um diesen Mittelpunkt. Dieser Zirkel bestand einfach aus einem durchbohrten Stab, in den ein Stück Holzkohle gesteckt war. Pirre durfte die schwarze Kreislinie mit seinem eigenen Krummesser nachziehen, so daß sie nun unverlöschbar eingeritzt war. Ein zweiter Kreis mit kürzerem Radius wurde von demselben 62 Mittelpunkt aus gezogen und ebenfalls in die Rinde eingeritzt. Johnny kannte das Wort »Mathematik« nicht einmal dem Namen nach, aber mancher Schuljunge hätte ihn um sein instinktives Wissen gewisser geometrischer Zaubereien beneiden können. Mit Hilfe desselben rohen Zirkels teilte er nun die beiden Kreise in acht genau gleichgroße Sektoren und schnitt die Außenseite vom Ende des kleinen inneren bis zum größeren äußeren Kreis scharf mit seinem Messer ein, ohne den inneren Kreis, den zukünftigen Boden des Körbchens, zu verletzen.

Pirre selbst durfte nun die eingeschnittenen äußeren Teile sorgfältig von außen hochbiegen. Sie überschnitten sich in dieser Lage wie die Teile eines Fächers und wurden mit Holzstiften in den Löchern festgesteckt, die der scharfe Knochenbohrer gedrillt hatte. Dann wurde ein dünner Streifen Karibuleder in die Knochennadel gefädelt, und Pirre zog die Holzstifte Stück für Stück wieder heraus, um die Rindenteile mit festen Stichen im Abstand von zweieinhalb Zentimetern haltbar aneinanderzunähen. Noch gestern, als er die nähenden Frauen mit gönnerhafter Miene betrachtete, wäre es ihm nicht eingefallen, daß er heute selbst Frauenarbeit tat. Er war viel zu stolz, um das zu bedenken. Er war zu Johnny gekommen, um ihm seine Talente ein wenig abzugucken, denn ein Mann, den die kluge Vitaline bewunderte, konnte ihm schon etwas beibringen.

Als alle acht Teile fest zusammengenäht waren, wurde ein Lederfaden quer über den Korb gebunden, um ihn in seiner neuen runden Form zu halten. Um den oberen Rand noch gleichmäßiger zu machen, schnitzte Johnny einen langen Stab aus Zedernholz zurecht, hielt ihn in den Kessel mit kochendem Wasser und bog ihn dann zu einem runden Rahmen zurecht, der in den Rand des Körbchens eingebunden wurde. Von innen schnitten sie die sich überschneidenden Stücke der fächerförmigen Teile ab, so daß das Innere nun glatt und ordentlich aussah. 63

»Das wird ein feines Heidelbeerkörbchen«, sagte Johnny.

»Ich nehme es heute abend mit«, sagte Pirre.

Aber er lernte zu seiner Enttäuschung, daß das Körbchen noch zwei Tage lang in dem Rahmen bleiben mußte, denn wenn der zu schnell abgenommen würde, verlöre der Außenrand seine gleichmäßige Kreisform und sähe häßlich und unordentlich aus.

Pirre fand diese Arbeit aber so interessant, daß er noch nicht wegging, sondern lieber zusah, was Johnny sonst noch alles machte. Aus einem einzigen Stück Zedernholz schnitzte er jetzt einen hübschen Schöpflöffel mit ausgehöhlter Kelle, aber das war nur ein unwichtiges Stück.

»Sieh, Pirre«, sagte Johnny mit einem Lächeln, und schüttelte eine Strähne seines schwarzen Haares aus der Stirn, »ich brauche so viele Sachen für den Winter. Noch nie habe ich soviel zu tun gehabt.«

Tatsächlich, er errötete, genau so wie Vitaline errötet war, und murmelte etwas von »vermehrten Pflichten«. Der Haufen Zeltleinwand hinter dem Schekapéo-Zelt war ein interessantes Anzeichen dafür, daß Johnny wohl bald ein eigenes »Haus« bauen würde. Dann brauchte er »ascham«, neue Rahmenschneeschuhe, für den Winter. Für die brauchte man kein Maß zu nehmen wie für die Mokassins, denn der Fuß wurde mit Lederriemen in der Mitte festgebunden. Für den weißen Mann waren sie nichts, denn der bewegt sich zu schwerfällig, um sie tragen zu können. Monsieur Clair machte kleinere und schmälere für die weißen »Abenteuerer«, die darauf bestanden, sich »wie die Wilden« auszustaffieren.

Pirre wußte, wie Schneeschuhe gemacht werden, er hatte sie selbst seit seinem dritten Jahr getragen. Kinderschneeschuhe, »aschamisch«, waren natürlich kleiner als die der Erwachsenen, aber sie hatten genau die gleiche breite »Biberschwanz«-Form. Er half Johnny beim Biegen der langen, dicken Birkenholzstäbe im heißen 64 Wasser und beim Zusammenbinden der Enden mit Lederstreifen, die fester hielten als alle Schrauben des weißen Mannes. Sie sahen aus wie riesige Tennisschläger mit Querleisten am oberen und unteren Ende. Johnny machte sechs Schneeschuhrahmen. Später mußten sie mit einem feinen Netzwerk von Lederstreifen durchflochten werden. Aber das war Frauenarbeit. Johnny lächelte verschmitzt, als er sie zum Trocknen aufhing.

Am nächsten und am übernächsten Tage kam Pirre wieder, um nachzusehen, ob man den Rahmen noch nicht von »seinem« Körbchen abnehmen konnte, und endlich war es so weit. Johnny schnitzte den abgenommenen Rahmen nun zu einem gleichmäßigen Ring zurecht, den Pirre mit einem »Faden« aus gespleißter Fichtenwurzel sorgfältig über die acht Außenteile des Körbchens nähte, das dadurch eine so ebenmäßige Form erhielt, als sei es aus einer der Fabriken des weißen Mannes gekommen. Wenn man dieses Körbchen mit den angeblich »runden« Behältern verglich, die von weniger geschickten Indianern manchmal zusammengenäht wurden, verstand man erst Johnnys hohe Kunst, und Pirre lernte dabei so recht den Unterschied zwischen Meisterschaft und Pfuscherarbeit. Es gefiel ihm immer besser, daß seine Schwester einen von den Schekapéos heiraten wollte.

Die Innenseite des Körbchens hatte die helle Farbe der Birkenrinde, aber außen war es dunkelbraun, und diese warme, eintönige Farbe wurde durch die Schekapéo-Ornamente belebt, die Johnny von seinem Vater und der wieder von seinem Vater und Großvater ererbt hatte. Außerdem aber erfand er noch eigene Muster, denn er hatte eine fruchtbare Künstlerphantasie.

Die Schablonen aus Birkenrinde, mit denen die Muster hergestellt wurden, waren entweder hohl wie die Kuchenformen des weißen Mannes für Weihnachtsplätzchen oder flache ausgeschnittene Stücke. Durch die hohlen zog Johnny Umrisse auf den dunklen Hintergrund und kratzte die erhaltenen Figuren mit seinem Krummesser von der Rinde weg, bis er die helleren 65 Schichten der Rinde erreichte, so daß nun weiße Eulen, Biber, Blätter und Figuren auf den acht Teilen des Körbchens zu sehen waren. Die flachen Schablonen wurden auch nachgezogen, aber bei ihnen blieb das Muster dunkel, und nur der Hintergrund an den Rändern wurde abgeschabt. Diese Technik erzeugte dunkle Silhouetten von Adlern, Fallen, Fischen und geometrischen Ornamenten, die sich mit den hellen Mustern der Hohlformen abwechselten.

»Das nächste mache ich allein!« sagte Pirre, als er von Johnny wegging, das neue Heidelbeerkörbchen unter dem Arm.

»Zeige es . . .«, sagte Johnny, aber er sprach den Satz nicht zu Ende. Aber Pirre wußte, was er meinte. Natürlich sollte Vitaline es sehen.

Er suchte sich nun eigenes Material zusammen: Birkenrinde und ein Stück Karibuleder, Fichtenwurzeln und Knochennadeln. Auch er wollte ein Meister in den alten Indianerkünsten werden wie Johnny. Sein Freund P'tithomme hatte während dieser Tage nicht viel Glück mit ihm. Pirre mochte nicht mehr die Zeit verbummeln, während der er doch dauerhaftere Sachen machen konnte, Zeugen seiner eigenen Geschicklichkeit. Er bat Michael, ihm die Lederbearbeitung in allen Einzelheiten beizubringen, und der Bruder schnitzte ihm kunstreiche Griffe für sein Werkzeug. Die ganze Familie schien sich zu freuen, ihn so emsig bei seiner eigenen Arbeit zu sehen.

Einmal war er noch so vertieft in seine Kunstfertigkeit, daß er noch bis in die Nacht weiterarbeitete, die ein funkelnder Halbmond hell erleuchtete. Etwas entfernt vom Zelt hatte er sich eine richtige Freiluftwerkstatt eingerichtet. Plötzlich sah er, daß da eine Frau stand, ganz allein. Aber es war nicht die Großmutter, die zuweilen nächtliche Spaziergänge machte. Es war Vitaline. Er rief sie an.

»Ach«, sagte sie ganz erschrocken, »du bist's. Nur du.« 66

Er zeigte ihr das Heidelbeerkörbchen.

»Das hast du ganz nett gemacht«, murmelte sie zerstreut.

»Ganz allein habe ich's nicht gemacht«, sagte er, um der Wahrheit die Ehre zu geben, »eigentlich ist es Johnnys Arbeit. Aber das nächste mache ich ganz allein.«

»Oh –«, sagte sie, und hob das Körbchen vom Boden auf, um die Ornamente zu besehen.

»Sechs Paar Schneeschuhrahmen hat er gemacht«, sagte Pirre, »aber sie haben noch kein Ledergeflecht.«

»Hat er Schneeschuhrahmen gemacht?« sagte sie ganz entzückt, als wäre das etwas Besonderes.

»Das ist doch gar nichts. Vater macht genau solche für die Company.«

»Ja, aber . . .«

Sie war recht langweilig, heute abend. Er beschloß, schlafen zu gehen. Als er ins Zelt ging, hörte er sie noch ein paar Worte flüstern. Was wollte sie? Er kehrte um. Er sah sie stehen, ganz allein, ihr schönes sanftes Gesicht dem Monde zugewandt. Ihr Haar war schwärzer als die Nacht. Er hörte:

»Tschee tasch hitane!« »Ich liebe dich!« Nun, noch einmal: »Tschee tasch hitane!«

Überrascht zögerte er. Aber plötzlich verstand er, daß diese Worte nicht für ihn bestimmt waren. Ohne Geräusch ging er auf leisen Sohlen zum Zelt zurück. 67

 


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