Julius Lips
Zelte in der Wildnis
Julius Lips

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Siebentes Kapitel

Der Einkauf für den Winter

Pirre hatte wirklich recht gehabt. Der Sommer war vorüber. Die Indianer wissen kaum etwas von Kalenderdaten, und die Zahlen des weißen Mannes sagen ihnen nicht viel, aber ihr traditionsgebundenes Leben wird von einem inneren Wissen regiert, einem Gesetz der Regelmäßigkeit, wie die wandernden Fischschwärme es kennen, die Zugvögel und die großen Karibuherden, die das Innere Labradors durchschweifen. 96

Seit Tagen schon waren zahlreiche Stammesgenossen zum Vater gekommen, um seine Hilfe in Anspruch zu nehmen, denn er war einer der wenigen Naskapi, die Schreiben konnten. Allerdings hatte seine Schreibkunst kaum etwas mit der des Missionars oder des Regierungsagenten zu tun, sondern verdankte ihre Entstehung einem Geistesblitz des Mr. Angus von der Company. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß die Indianer zur Zeit des Einkaufes ihrer Wintervorräte gern in den Laden kamen, wo sie über den unnötigen Dingen, auf die gerade ihr Blick fiel und die sie sofort bestellten, oft das Wesentliche und Lebensnotwendige vergaßen: die Nahrung, Kleidung und Munition.

Ein Indianer kann am besten denken, wenn die Unendlichkeit des großen Sees sich vor seinen Augen ausbreitet oder wenn er von seinem Zelte aus dem Tanz der schwarzen Fliegen zusieht. Inmitten der Natur sind seine Gedanken logisch, klar und auf die Zukunft gerichtet, während der zauberhafte Reichtum im Laden des weißen Mannes ihn verwirrt. Aus diesem Grunde hatte Mr. Angus die Indianer gebeten, erst dann zum Einkauf der Wintervorräte in den Laden zu kommen, wenn die in der Ruhe der Natur aufgeschriebenen Bestellisten der einzelnen Familien von den Vätern zusammengestellt und sorgfältig überprüft worden waren. Natürlich waren nicht alle Rothäute klug genug, die benötigten Vorräte im voraus genau zu berechnen und ihre Wünsche sauber aufzuschreiben, aber es fanden sich stets freundliche Helfer unter den Stammesgenossen, die ihnen bei dieser Arbeit gern beistanden. Als einer der »Schriftgelehrten« hatte Vater Minnegouche schon manchem anderen Naskapi bei seinem Bestellzettel geholfen, und er fand, daß es nun Zeit war, endlich an seine eigene Familie zu denken.

Er saß auf einem großen runden Stein vor seinem Zelt. Ein glattes Stück Birkenrinde war über seine Knie gebreitet, und in der Hand hielt er einen sorgfältig mit dem Krummesser gespitzten »Schreibstock« oder 97 Bleistift. Die ganze Familie war um ihn versammelt. Die Mutter und die Großmutter saßen auf dem zweiten großen Stein, während Pirre und Michael hinter ihm standen, um ihm beim Formen der Schriftzeichen zusehen zu können. Zwischen den jungen Tannen sah man Estelle hervorlugen, die heimlich auf den Augenblick wartete, wo auch sie vielleicht ein paar Wünsche äußern durfte.

Die Sprache, in der der Vater schrieb, war weder Französisch noch Englisch. Es war Montagnais-Naskapi, die Sprache eines Naturvolkes und das Produkt seines »primitiven« Denkens. Man konnte also gut alles Erlebte und Gedachte in ihr ausdrücken, aber es gab keine überlieferten Schriftzeichen, die Klang und Aussprache der Worte hätten wiedergeben können, die Mischvokale zwischen »u« und »o«, die seltsamen Konsonanten zwischen »d« und »t« und die eigenartige Färbung der gesprochenen Silben. Als deshalb Mr. Angus versuchte, den Indianern das Schreiben ihrer eigenen Sprache in den Schriftzeichen des weißen Mannes beizubringen, hatte er etwas wirklich Revolutionäres unternommen, und es war erstaunlich, daß seine Bemühungen von Erfolg gekrönt wurden. Allerdings, Schulregeln ließen sich für diese Schrift nicht aufstellen. Im Gebrauch der Indianer hatten die einzelnen Buchstaben bald die seltsamsten Gestalten angenommen. Große und kleine Zeichen vermischten sich nach dem Belieben des Schreibers. Von dem »i« gefiel den Naskapi nur der Punkt, der ohne seine Basis frei über der Zeile in der Luft schwebte.

Pirre war nicht imstande, die geheimnisvollen Striche und Kurven zu entziffern, aber Michael konnte zumindest die meisten Zahlen lesen. Alle lauschten mit offenem Mund, als der Vater nun langsam die Worte aussprach, die er als Überschrift über seine Bestelliste zu setzen gedachte. Er hörte sich selbst mit großer Aufmerksamkeit zu und schrieb dann langsam das Vernommene auf die feingeäderte honigfarbene 98 Rindenunterlage nieder. Er wußte zwar nicht genau, welche Silben zu trennen und welche zu verbinden waren, aber Mr. Angus war an seine Schrift gewöhnt und erriet mit großer Sicherheit das Gemeinte.

Dies also waren die Worte, die der Vater sorgsam aufzeichnete: »Utschimau umelu m'Sahin'Kn umelu tschimilat Ka Kuscha't.« Mr. Angus würde seine Augen eine lange Weile darauf ruhen lassen und die Zeichen dann instinktiv in seine eigene englische Muttersprache übersetzen, in der sie wörtlich so lauten würden:

»To the boss this order this to give to him who is going into the woods for the winter.« Und das bedeutete auf deutsch:

»Dies ist die Bestellung für den Geschäftsführer, der die Sachen dem geben soll, der für den Winter in die Wälder geht.«

Die Höflichkeit und Klarheit dieses Einleitungssatzes machte tiefen Eindruck auf Pirre. Ob er wohl je die Weisheit seines Vaters würde erlangen können?

»Upo pischum«, diktierte sich selbst der Schreibende, »Monat, Sonne«. Es war das Datum für Mr. Angus. »August« würde er lesen.

Nun konnte die eigentliche Liste begonnen werden. Nach langer Pause sagte und schrieb der Vater:

»Pastischiken kanischnapiskamuts« – ein doppelläufiges Gewehr.

Pirre fühlte einen scharfen Stoß im Rücken. Es war Michael. Sie sahen sich an. Die Kehle wurde ihm ganz eng. Sein Gewehr war das, der »Zwilling«, sein eigenes echtes Jäger-Gewehr! Er wischte eine jähe Freudenträne aus seinem Augenwinkel fort und brachte es fertig, kein Wort zu sagen. Es würde ein Zeichen allerschlechtesten Benehmens gewesen sein, wenn er auch nur die geringste Gefühlserregung verraten hätte. Aber er bemerkte dennoch den stolzen Blick, den Mutter und Großmutter austauschten. Sie dachten an ihn und seine Freude!

Schweigend betrachtete der Vater für eine lange 99 Weile die graue Wasserfläche des Sees, ehe er fortfuhr zu reden und zu schreiben. Zuweilen machten die Mutter und die Großmutter mit leiser Stimme einen Vorschlag, den der Vater wiederholte und ohne weitere Diskussion »auf die Rinde setzte«. Das gab Estelle den Mut, auch einen oder zwei Wünsche zu äußern – und wirklich, der Vater schrieb auch das von ihr Begehrte nieder! Pirres ganzes Herz war von der Aussicht auf ein eigenes Gewehr so vollkommen eingenommen, daß ihm noch nicht einmal der Gedanke an andere begehrte Dinge kam. Wie gewöhnlich wollte Michael nichts für sich selber haben. Er stahl sich leise hinweg und ging zu Saikos Zelt, um dem verkrüppelten alten Mann ein wenig beim Einpacken zu helfen.

Als das dünne Blatt aus Birkenrinde zur Genüge mit den Schriftzeichen des weißen Mannes bedeckt war, machten der Vater, die Mutter, die Großmutter, Pirre und Estelle sich zur Company auf, um alle zusammen an dem wichtigen Geschäft des Aussuchens der Waren vereint zu sein.

Regungslos standen sie im Laden, als der Vater Mr. Angus das kostbare Dokument mit den Wünschen der Minnegouches überreichte. Er wurde hinter den Ladentisch gebeten, und der Geschäftsführer schlug das große Buch auf, um in englischer Sprache das vom Vater von der Birkenrinde Diktierte im Konto »Minnegouche und Söhne« einzuzeichnen. Es war eine lange Liste, aber nicht ein einziges Mal erhob Mr. Angus irgendwelchen Einspruch. Nicht alle Indianer wurden so großzügig bedient, aber Vater Minnegouche genoß den Respekt, der einem ehrenwerten Manne und großen Jäger zukommt. Der Wert der gewünschten Waren überstieg ohne Zweifel die Summe, die dem Vater für seine abgelieferten Pelze zustand, aber Mr. Angus rechnete mit einem Überschuß im kommenden Winter, vor allem, da ja nun Pirre sein eigenes Gewehr haben und zur Pelzausbeute der Minnegouches voraussichtlich gewaltig beitragen würde. 100

Keinem der Indianer wurde es bewußt, daß Mister Angus fast wie ein Spieler die Möglichkeit für die Gewißheit nahm, wenn er ihnen das größte Jagdglück zutraute, denn vielerlei Unglücksfälle konnten seine und ihre Hoffnungen vernichten – sei es Krankheit und Hungertod der ganzen Familie, sei es der Untergang eines hoch mit Pelzen beladenen Kanus in den Schnellen. Und sollte es der Himmel so wollen, daß die Minnegouches im nächsten Frühling gänzlich ohne Pelze zurückkämen, sie würden dennoch im darauffolgenden Herbst eine komplette neue Ausrüstung von ihm auf Borg bekommen haben, nur weil sie »gute Jäger und ehrenwerte Indianer« waren.

Pirre hatte sich hinter Mr. Angus geschlichen und verfolgte mit großen Augen die Bewegungen der Feder in dem großen Buch.

Was der Vater von der Birkenrinde diktierte:

Was der Vater von der
Birkenrinde diktierte
   Was Mr. Angus in das
Buch schrieb:
Pastischiken kanischnapiskamuts 1 Zwillingsgewehr
LuschKuotS 4 4 Säcke Mehl
p˙m˙ 12 12 Fässer Schmalz
Kukusch 50 50 Pfund Speck
Kapi 6 6 Pfund Kaffee
N˙p˙sch 30 30 Pfund Tee
Kaschinati 100 100 Pfund Zucker
papituminischati 10 10 Pfund Reis
atischiminati 10 10 Pfund gedörrte Erbsen
schaiuti Getrocknete Bohnen
KapelaKasKualuskanti Haferflocken
Kapaschutau uapaminti 50 50 Pfund getrocknete Apfelschnitzel
kaupepaliti 12 12 Dosen Backpulver
schiutaken 6 6 Säcke Salz
tapuepal 1 1 Pfund Pfeffer
uapuian 1 1 Wolldecke
apakuaschun patiman 35 35 Yards Zeltleinwand
alakapeschakan 3 3 Paar Männerhosen
pitukuban 3 3 Hemden
pitupitukupan 3 3 »Innenhäute« (Unterhosen)
tapschakan 5 5 Taschentücher, um den Hals zu tragen
pakuteun 3 3 Ledergürtel
shini 50 50 Pfund Bleikugeln
puk Schießpulver
matischati 4 4 Kästen Patronen
Nameschalipi 4 4 Fischnetze
pischakanapi 10 10 Rollen Bindfaden
taschulakanti 2d 2 Dutzend kleine Stahlfallen
Napeu mitasch 3 3 Paar Männersocken
iskueu mitasch 3 3 Paar Frauenstrümpfe
astischati 5 5 Paar Fausthandschuhe
mistamukuman 2 2 große Schlachtmesser
ShaptnKn 1 1 Paket Nähnadeln
ShiSchtuk˙ap˙ 4 4 Rollen Zwirn
Sch˙pusch˙Kn 2 2 Stahlfeilen.

Als alles englisch in dem großen Buche stand, schlüpfte Pirre zu den Frauen zurück, und auch der Vater kam hinter dem Ladentisch hervor. Er wußte, daß diese vielen Dinge zusammen mit den während des Sommers von der Company erhaltenen Lebensmitteln bei weitem sein Guthaben überschritten.

»Wie hoch sind meine Schulden?« fragte deshalb der Vater, und Mr. Angus antwortete:

»Zweihundert Dollars.«

Schulden sind etwas, was ein Indianer nie vermeiden kann. Die ganze Familie murmelte voller Respekt:

»Zweihundert Piaster . . .«

Aber damit war dieses Thema vergessen. Sie brachten ihre Pelze, sie lebten im Sommer ohne Sorgen, und sie hatten alles, was man für den Winter braucht Und von Zeit zu Zeit erwähnte Mr. Angus dann dieses 102 Wort »Schulden«. Er schrieb die Zahl auf das Papier des weißen Mannes. Die Schulden hießen in der Indianersprache nach dem Papier: »mischinahiken«. So hieß auch das Zeug, das er als Tapete an seine Wände klebte und die bedruckte Zeitung, in die er seine Nase vergrub. Eine Rechnung war ebenfalls »mischinahiken«. Kurz, diese »Schulden« waren nichts, darüber es sich nachzudenken lohnte.

Ohne einen Pfennig zu zahlen, wiederholten sie nochmals die schöne runde Summe ihrer Schulden und begannen nun mit der Selbstsicherheit wohlhabender Kunden die begehrten Waren auszusuchen, nicht ohne zuweilen nach dem Preis des einen oder anderen Stückes zu fragen. Mr. Angus häufte das Gewünschte auf dem Ladentisch auf. Pirre sah das funkelnde Gewehr, von dem er so lange geträumt hatte. Aber es würde noch eine lange Zeit vergehen, bis er es in seinen Händen halten konnte.

Sie befühlten die Zeltleinwand, den Bindfaden, die Netze, die großen Messer.

»Was kostet die Feile?« fragte Pirre zum Spaß, und er hörte:

»Vierzig Cent.«

Er nickte wie ein Fachmann. Die Mutter nahm einen Ballen schottischen Wollstoff in den Arm und ging damit zu Mr. Angus, der ihr soviel davon abschnitt, wie sie verlangte. Sie und Großmutter waren während der vergangenen Wochen verschiedentlich im Laden gewesen, um die für die Company angefertigten Mokassins abzuliefern. Dafür hatte Mr. Angus ihnen ein eigenes Konto eingerichtet, aus dem sie ihre Sonderwünsche befriedigen konnten. Estelle nahm die Gelegenheit wahr und ließ sich von der Mutter einen kleinen Spiegel und eine Falle kaufen, in der sie wie Vitaline letztes Jahr sich einen eigenen Nerz zu fangen hoffte. Die Großmutter interessierte sich nur für »stimao« oder Tabak, vor allem in Gestalt der weißen Röllchen, die Mr. Angus »Zigaretten« nannte. 103

Höher und höher wuchs der Berg der ausgesuchten Waren, und die Frauen tauschten noch immer die bunten Taschentücher gegen andere um, um auch bestimmt die schönsten zu erwischen. Der Vater legte schweigend noch eine große Bärenfalle zu dem übrigen. Als er das sah, glaubte Mr. Angus nun doch warnen zu müssen:

»Du wirst im Frühling nicht dafür bezahlen können!« Aber der Vater erwiderte ruhig:

»Alle meine Biber waren von erster Qualität. Du vergißt, daß ich ein guter Jäger bin.« Und wer konnte darauf etwas erwidern?

Eine lange Metallkette hing an dem gewaltigen Doppelbügel der Falle, die der Vater mit fachmännischen Händen öffnete. Es war ein gefährliches Ding, stark genug, einen erwachsenen Bären festzuhalten, den der Köder angelockt und die Falle gefangen hatte.

»Mr. Angus«, sagte der Vater, »bitte noch zwei Bärenfallen wie diese.« Man hörte den blonden Schotten seufzen, aber Vaters Wunsch wurde dennoch erfüllt. Alle sahen sich noch einmal im Laden um und ließen ihre blanken schwarzen Augen von Regal zu Regal wandern. Aber sie fühlten, daß sie nun genug hatten und bestellten nichts mehr.

»Ich schicke heute abend noch alles in euer Zelt«, sagte Mr. Angus, aber jeder nahm sich gleich ein Lieblingsstück mit, von dem es allzu schwer war, sich zu trennen. Der Vater hielt Pirres neues Gewehr so fest an seiner Brust, als müßte er es schußbereit halten. Die Frauen hielten ihre bunten Tücher fest, und Pirre hatte zwei schöne Angelhaken fest in seiner Faust.

Sie wollten gerade gehen, als »Piton« eintrat, einer der weniger beliebten Indianer der Reservation. Sein französischer Spitzname, »Häkchen«, hatte eine Doppelbedeutung, er hieß auch: »Kleines Nichts«, eine recht gute Beschreibung seines Charakters. Er war mit den Kakwas verwandt und jagte zuweilen mit dessen Schwiegervater, während Kakwa den Winter in seinem Holzhaus verbrachte. Aber Piton war faul und stattete 104 in gar manchem Zelt seine Besuche ab. Im Frühling hatte er kaum ein paar Pelze, die er am Saum der Wälder den weißen Abenteurern für ein paar Dollars verkaufte, die er dann schnell durchbrachte. Kam aber der Herbst, so stellte er sich regelmäßig im Laden der Company ein, wo er rührende Geschichten erzählte, in der Hoffnung, ein paar Waren zu bekommen.

»Gib mir einen guten Vorrat!« sagte er auch sogleich zu Mr. Angus, »hilf mir doch ein bißchen! Du willst doch nicht, daß ich in den Wäldern verhungere! Alle Indianer loben dein gutes Herz. Du wirst dich freuen, wenn ich mit meinen Pelzen zurückkomme!«

»Das erzählst du mir schon seit fünf Jahren, Piton!« Vater Minnegouche betrachtete den schlechten Jäger, den schlechten Indianer, mit deutlicher Verachtung. Er redete ihn nicht an.

»Ohne Gewehr und Munition und Essen kann ich dir keine Pelze jagen!« sagte Piton, »gib mir ein paar gute Vorräte, nur noch dieses Jahr. Nächstes Jahr kann ich für alles bezahlen.«

Die Großmutter räusperte sich und spuckte geräuschvoll in die Ecke.

»Ich wäre ungerecht gegen die guten Indianer, wenn ich dir etwas gäbe«, sagte Mr. Angus.

»Minnegouche!« rief Piton, »der ist nicht besser als ich! Wir sind vom selben Stamm! Aus ihm haben sie zwar einen Katholiken gemacht und aus mir einen Protestanten, aber wir sind beide Naskapi! Den ganzen Haufen da hast du ihm nur gegeben, weil er besser schwatzen kann als ich!«

»Er ist ein besserer Jäger!« sagte Mr. Angus. Aber Pirre hatte genug gehört. Er lief auf Piton zu, als wäre er ein verletzter Bär, der mit seiner letzten Kraft auf seinen Angreifer losgeht.

»Wag du ja nicht, so von meinem Vater zu reden, du!« rief er. »Hast du je ein Kanu gebaut? Kannst du die Zeichen des weißen Mannes auf Birkenrinde schreiben? Hast du vielleicht ein eigenes Gewehr? Hast 105 du vielleicht diesen Frühling zwölf Biberfelle heimgebracht?« Er erhob seine Fäuste und ließ sogar die Angelhaken herunterfallen.

Plötzlich fühlte er sich von hinten festgehalten. Da stand der Vater und versperrte ihm den Weg mit dem neuen Gewehr, Pirres Gewehr, mit dem er seinen ersten Bären schießen wollte.

»Würde ist der Stolz des Indianers«, sagte der Vater, langsam und leise. Pirre ließ seine Arme sinken und hob die Angelhaken auf. Er schämte sich seines schlechten Benehmens. Es gehörte sich nicht für den zukünftigen Besitzer eines Zwillingsgewehrs. Zu dumm, daß Michael nicht hier ist, dachte er, er hätte mich vor dieser Beschämung bewahrt!

»Würde ist der Stolz des Indianers«, wiederholte Mr. Angus auf Montagnais-Naskapi. Zweifellos gefiel ihm Vaters Ausspruch, und er wandte sich beim Sprechen gegen Piton.

»Wer ohne Ausrüstung in die Wälder geht, ist zum Tode verurteilt«, murmelte das »Häkchen«.

»Komm heute abend wieder«, sagte Mr. Angus, »dann können wir noch einmal über deine Wünsche reden.«

Piton drehte sich brüsk um und verließ den Laden.

»Lieber möchte ich meine Hände verdorren sehen, als einen solchen Sohn zu haben«, sagte der Vater.

»Wir sind Minnegouches«, stellte die Großmutter fest, »so etwas gibt es nicht in unserer Familie.«

»Hier –«, sagte der Vater und überreichte seinem Sohn das neue Gewehr. »Trag es in Stolz und Würde, als ein Minnegouche.«

Pirre sagte nichts. Er drückte das Gewehr an sein Herz. Die Indianersprache kennt kein Wort für »danke«. Hätte es ein solches Wort gegeben, es wäre ja doch zu gering gewesen für diesen Augenblick. Pirre sah seinen Vater an und dann die Frauen. Endlich blickte er auf Mr. Angus, der seltsam gerührt schien.

»Ihr seid Indianer von der alten Art«, sagte er zu 106 den zwei Minnegouche-Männern, »in eurem Leben wird es keine Sekunde der Gemeinheit geben.« Mit einer plötzlichen Redseligkeit, die die Indianer sonst nicht an ihm kannten, sagte er zu der versammelten Familie:

»Ich werde dem Piton ja doch das meiste geben, was er von mir verlangt. Natürlich weiß ich, daß er nicht viel taugt. Aber ich kenne die Wälder. Ich kenne den Winter von Labrador. Ich könnte in der Nacht nicht ruhig schlafen, wenn der Nordwind heult und wenn ich daran dächte, daß er allein und verlassen da draußen in der Wildnis ist.«

»In jedem Zelt, das er besucht, wird er zu essen bekommen«, bemerkte die Großmutter, »jeder Indianer würde seine letzte Nahrung mit ihm teilen, denn das ist das Gesetz der Jagdgründe.«

Und das war das Seltsame. Obgleich sie alle ihn verachteten, würde doch in der Stunde der Not jeder ihm beigestanden haben. Mr. Angus, der Christ, und die Minnegouches, die im Sommer zu dem katholischen Gott und im Winter zu den Geistern der Wildnis beteten, waren von dem gleichen Geist der Menschenliebe beseelt. Es war das Klima von Labrador, das ihre Seelen einte. Es war das Wissen um die Allgegenwart geheimnisvoller Naturkräfte, die noch immer die Wälder dieses Landes regierten. Alle Männer und Frauen, gute Jäger und schlechte Jäger, »ehrenwerte Indianer« und Taugenichtse, Weiße und Rothäute mußten zusammenhalten, solange sie unter dem Nordlicht des Himmels von Labrador lebten.

Die Minnegouches kehrten heim zu ihrem Zelt. Aber Pirre mochte nicht in der engen Wärme und Geborgenheit bleiben. Er sehnte sich nach der Weite der Natur, nach der majestätischen Stille der Wälder und nach Einsamkeit. Nachdem er sein Gewehr in ein großes Stück Karibuleder eingewickelt hatte, führte er Peter, den Bären, an seiner Leine zu einem der alten Kanus und fuhr mit ihm auf den See hinaus, um die neuen Angelhaken auszuprobieren. 107

Zuerst wurden Peters Tatzen wieder mit Lederlappen umwickelt. Ans Kanu gewöhnt, preßte der Bär sogleich sein rundes Hinterteil ins Bootsende. Dort saß er wie ein kleiner Mann und half das Kanu im Gleichgewicht halten. Er liebte frische Fische und wußte, daß sein Freund ihn bald mit diesen Leckerbissen versorgen würde.

Bald waren sie weit vom Ufer entfernt, und Pirre zog den kleinen Silberpropeller des neuen Angelhakens an der Schnur durch das graue Wasser. Und da biß schon der erste an, ein großer Hecht. Nach einem schnellen und listigen Blick auf die Beute wußte Peter, daß sie nicht für ihn in Frage kam. Der Fisch war zu groß. Geringschätzig wandte er seinen Kopf ab, als Pirre dem Hecht mit schnellem Griff das Genick brach und ihn in die Mitte des Bootes legte. Das nächste Opfer war eine große Forelle. Junge und Bär benahmen sich wie vorher.

Aber der dritte Fisch war ein schlüpfriger kleiner Kerl, nicht größer als Pirres Hand. Als Peter den sah, fing er ungeduldig zu brummen an, denn er kannte seine Rechte. Dennoch blieb er brav in seiner Ecke sitzen, denn er kannte die tückischen Gesetze des Gleichgewichts, denen jede Kanufahrt unterworfen war. Aber er schlug die Vordertatzen aneinander wie ein dressierter Seelöwe. Pirre tötete den Fisch und warf ihn dem Bären vor die Füße. Peter schmatzte vor Freude, beugte sich herunter und hielt die Beute mit seinen Vorderpfoten auf dem Kanuboden fest. Dann zeigte er die Tischmanieren der Wildnis: zierlich, wie eine Dame im Restaurant, aß er erst die ganze Oberseite flach ab, drehte dann den Rest um und verspeiste den anderen Teil, so daß nichts weiter übrigblieb als Kopf, Schwanz und Gräten.

Erst als es dunkel wurde, kehrten sie heim. Sechs große Fische lagen in der Mitte des Kanus, vier kleine in Peters Bauch. Hochzufrieden ließ der Bär sich zu der leeren Tonne zurückführen, die ihm als Wohnung diente, und schlief ein. 108

»Die Haken sind gut!« sagte Pirre und zeigte seine Beute. Dann nahm er das Gewehr aus seiner Umhüllung und begann es einzufetten. Endlich kam Michael zurück, um es ganz genau zu bewundern.

Nach dem Abendbrot gingen der Vater und die Großmutter am Seeufer spazieren.

»Wie aufgeregt die Kinder sind!« sagte die alte Frau, »sie haben die Abreise schon in den Gliedern. Erst können sie nicht schnell genug im Sommerlager sein, nun wollen sie durchaus in die Wälder zurück.«

»Die Verantwortung ist so schwer, Mutter. Jedes Jahr vor der Abreise bete ich, daß wir nicht Hungers sterben müssen.«

»Du betest?« Großmutters Stimme klang spöttisch.

»Zu den Göttern sprechen. Heißt das nicht beten?«

»Die Weißen in ihren verschlossenen Kirchen, wir in den Wäldern. Wir sind alle auf demselben Stern, und der reist durch den Himmel, während wir zu denen sprechen, die seinen Weg bestimmen.«

»Gehst du gern zurück, Mutter?«

»Ja, Sohn, gern. Es ist unser Leben. Im nächsten Frühling mag einer von den Alten fehlen oder ein neuer hinzugekommen sein. Was geschehen soll, geschieht. Und es ist gut so.«

Als sie zum Zelt zurückkehrten, stand da jemand, ganz allein.

»Pirre! Gute Indianer schlafen, wenn die Nacht ihre schwarzen Bärenfelle über den Himmel hängt.«

»Ja, Vater. Aber du bist noch auf. Und ich möchte sein wie du.«

»Es gibt größere Indianer als mich. Denk an Saiko, unseren größten Jäger.«

»Ist auch dein Blut so unruhig? Ich fühle es, und Estelle fühlt es, und auch die Hunde.«

»Das kommt, weil wir bald abreisen.«

»Wann, Großmutter, wann?« 109

»Der Wind sagt, daß der See uns bald weit wegtragen will. Der Mond sagt, daß der Weg nun hell ist. Vielleicht reisen wir schon morgen.«

Der Vater sagte nichts. Es war das Vorrecht der Großmutter, Warnungen und Versprechungen aus den Zeichen der Natur zu lesen, die sich nur den sehr Alten offenbaren, die ihre Seele von der Selbstsucht der Jugend losgelöst haben.

Pirre folgte ihr in tiefer Verehrung. 110

 


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