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Goethe, Schiller und die Frauen

Goethe, Schiller und die Frauen

Mignon und Euphorion

Die sonderbare Natur des guten Kindes, von dem jetzt die Rede ist, besteht beinah nur aus einer tiefen Sehnsucht: das Verlangen, ihr Vaterland wiederzusehen, und das Verlangen nach Ihnen, mein Freund, ist, möchte ich fast sagen, das einzige Irdische an ihr; beides greift nur in eine unendliche Ferne, beide Gegenstände liegen unerreichbar vor diesem einzigen Gemüt« ...

Der Arzt sagt es zu Wilhelm. Aber mit den Allgemeinworten »tiefe Sehnsucht« erschöpft er dies Problem nicht. Denn es haftet dieser Sehnsucht nichts Schmachtendes an: sie ist sich ja auch der Sehnsucht kaum bewußt. Sie geht mit stillen, großen Augen durch die Menschen hin und versteht dies alles nicht: und doch ist sie Weib und hat Fleisch und Blut. Die halb erst Erwachte ahnt nur dumpf die ganze Beschränktheit und dennoch Leidenschaftlichkeit irdischen Handelns – sie, die gleichsam noch diesseits des Handelns und der Befleckung steht. Sie zaudert, noch eine schwebende Taube, sich in die Materie und ihre Erschütterungen niederzulassen. In jener Nacht wird ihrer halbentwickelten Natur das Furchtbare dieser Berührung mit der Materie schaudernd klar – und sie bricht zusammen. Sie stirbt; sie zieht sich von der Erde wieder zurück.

Ich weiß nichts in der Weltliteratur, was den reifen Beschauer (denn Reife ist Voraussetzung) so ergreifen könnte wie diese Mignon. Da ist nichts Sentimentales; da ist Symbolik, die unser Tiefstes angeht. In dieser Symbolik, so schlicht und natürlich gestaltet, verbirgt sich das tragische Los der Menschenseele. Sie kommt aus lichten Höhen, sie strahlt mit reinen Mädchenaugen vertrauensvoll die Welt an und hält alle Dinge für schön, alle Menschen für gut – bis das Verlangen und sofort aber auch das furchtbare Erschrecken über sie kommt, bis sie immer deutlicher erkennt, auf welchen Stern sie hier geraten ist und welchen Prüfungen und Lüsten sie ausgesetzt werden muß. Da fangen dann grade für die tiefsten, verwundbarsten und doch vom Erdendrang erfüllten Wesen die »grenzenlosen Tränen« an; Mignon liegt »unter entsetzlichen Zuckungen« die ganze Nacht zu Füßen des greisen Harfners.

Die höhere Seele sitzt wie Mignon abseits und weint; ihr niederer Teil liegt im Staube. Uns scheint übrigens (ich wenigstens habe immer mit einer ähnlichen Empfindung zu kämpfen): hier ist Goethe in der bewußten Objektivität etwas weit gegangen. Seine Stilistik findet keine Wendung der Ablehnung für die reichlichen Leichtfertigkeiten; das Verhalten Wilhelms Mignon gegenüber und besonders diese ganzen Liebeswirrungen rund um Mignon her muten uns etwas grausam oder doch nichtig an, während Mignon wie das reine Gewissen fremd und groß über die Erde hinweggeht. Da vermisse ich etwas an Goethes Stil, ohne daß ich eigentlich näher begründen könnte, was es etwa sein müßte. Vielleicht so: Goethe taucht alles, auch die groben Verirrungen, in dieselbe warme Farbe. Ähnlich ungefähr, wie er alle Welt, auch Kinder und Dienerschaft, in diesen Lehr- und Wanderjahren dieselbe Goethesprache reden läßt. Und da ergibt sich zwischen Diktion und Inhalt für mein Empfinden eine Dissonanz. Wie uns überhaupt die Liebesgeschichten der letzten Kapitel der Lehrjahre fast zu bunt werden.

Aber – eben dadurch, eben auf diesem wirren Hintergrunde, hebt sich Mignons Stille, Mignons edel-einfacher Ton, zumal auch ihr Tod und das Leichenbegängnis, um so erhabener und ergreifender ab. »Schreitet, schreitet ins Leben zurück! Nehmet den heiligen Ernst mit hinaus! Denn der Ernst, der heilige, macht allein das Leben zur Ewigkeit«...

So singt, warnend und mahnend, der Trauerchor in diese Schauspielerei.

Man könnte bei Mignon noch an eine andre, nur skizzierte Frauengestalt Goethes denken: an Nausikaa. Auch ist zwischen Mignon und dem ebenso früh wieder entwichenen Euphorion im »Faust« eine äußere Ähnlichkeit. Auch Mignon zeigt früh schon »eine besondere Lust zum Klettern«. »Die höchsten Gipfel zu ersteigen, aus den Rädern der Schiffe wegzulaufen und den Seiltänzern, die sich manchmal in dem Orte sehen ließen, die wunderlichsten Kunststücke nachzumachen, war sein natürlicher Trieb. Um das alles leichter zu üben, liebte sie mit den Knaben die Kleider zu wechseln... Ihre wunderlichen Wege und Sprünge führten sie manchmal weit; sie verirrte sich... Das Kind blieb aus, man fand seinen Hut auf dem Wasser schwimmen, nicht weit von dem Orte, wo ein Gießbach sich in den See stürzt. Man vermutete, daß es bei seinem Klettern in den Felsen verunglückt sei«... Man vergleiche damit ihr männliches Gegenstück: den gleichfalls nur über die Erde hinschwebenden, hochspringenden, felsensuchenden Byroniden Euphorion, der stürzend rasch wieder die Erde verläßt. Es sind Kinder ungewöhnlicher, ja unnatürlicher Ehebündnisse; um sie her ist etwas Magisches.

Aus einem späten Sinnendrang ist Mignons Mutter Sperata entstanden; der Vater schämt sich des Spätlings und verbirgt sie. Damit setzt das Unheil ein. Ihr leiblicher Bruder, obwohl Mönch, faßt leidenschaftliche Liebe zur unbekannterweise eigenen Schwester; er glaubt den Enthüllungen nicht; und Mignon wird die Frucht dieser zweifach sündigen Liebe. Mignon zerbricht dann durch eben diesen unheimlichen Drang, der Sperata ins Leben gerufen, der Sperata und Augustin zusammengezwungen – Mignon zerbricht, als sie Zeugin wird dieser Erdengewalt. Sie stirbt vor dem Eintritt in diesen Bezirk. Und damit ist der Kreislauf vollendet und jene erste Schuld gesühnt. Ihre Mutter ist ihr schon vorausgegangen: und bald wird ihr der Vater Harfenspieler in blutig-unnatürlichem Tode folgen.

Wunderlich ist auch eine hierbei wiederum auftauchende Vorliebe Goethes: schon Speratas Körper läßt tagelang keine Fäulnis bemerkbar werden; sie ist hinübergesiecht wie die Ottilie der »Wahlverwandtschaften«. Auch an Speratas Grab »zeigten sich unter der Menge verschiedene Kuren, die der aufmerksame Beobachter leibst nicht erklären und auch nicht geradezu als Betrug ansprechen konnte. Die ganze Gegend war in Bewegung« ... Ebenso ist Mignons Körper, aber durch balsamische Mittel des Arztes, kunstvoll vor Verwesung geschützt, »und das Kind lag in seinen Engelkleidern, wie schlafend, in der angenehmsten Stellung. Alle traten herbei und bewunderten diesen Schein des Lebens«.

Hängt dies mit seiner Abneigung vor dem Gestalten-entstellenden Unkünstler Tod zusammen? Ist es ein Bedürfnis des Dichters, ein geliebtes »Nachbild« möglichst lange festzuhalten? Wie er ja selber von seinen Balladenkindern erzählt: »Ich hatte sie«, sagt er zu Eckermann (6. März 1830), »alle schon seit vielen Jahren im Kopfe, sie beschäftigten meinen Geist als anmutige Bilder, als schöne Träume, die kamen und gingen und womit die Phantasie mich spielend beglückte. Ich entschloß mich ungern dazu, diesen mir seit lange befreundeten glänzenden Erscheinungen ein Lebewohl zu sagen, indem ich ihnen durch das ungenügende, dürftige Wort einen Körper verlieh. Als sie auf dem Papiere standen, betrachtete ich sie mit einem Gemisch von Wehmut; es war mir, als sollte ich mich auf immer von einem geliebten Freunde trennen« ...

Wege nach Weimar

Vignette

Goethe und die Frauen

»Ja, mein Freund!« sagte sie lächelnd, mit ihrer ruhigen, sanften, unbeschreiblichen Hoheit: »es ist vielleicht nicht außer der Zeit, wenn ich Ihnen sage, daß alles, was uns so manches Buch, was uns die Welt an Liebe nennt und zeigt, mir immer nur als ein Märchen erschienen sei.«

»Sie haben nicht geliebt?« rief Wilhelm aus.

»Nie oder immer!« versetzte Natalie.

Goethe, » Lehrjahre«

In den Briefen, die Schiller über »Wilhelm Meister« an Goethe schrieb (1796), fallen uns die Worte auf: »Ich verstehe Sie nun ganz, wenn Sie sagten, daß es eigentlich das Schöne, das Wahre sei, was Sie, oft bis zu Tränen, rühren könne.« Wir gedenken eines späten Wortes von den »grenzenlosen Tränen«. Wir wissen, wie außerordentlich eindrucksfähig der junge wie der alte Goethe war: wie stark, tief und dauernd ihm bedeutende Eindrücke in Sinn und Seele nachleuchteten. Wenn wir hinzunehmen, daß Goethe selber bis in sein Alter ein schöner, auf die Frauen wirkender und seinen Besuchern imponierender Mann war, voll von Genialität und gesellschaftlicher Liebenswürdigkeit, voll von edler Tiefe und vielseitiger Bildung, so wundert es uns nicht, daß hier Schönes dem Schönen entgegendrängte. Der Dichter kam aus der Tändel- und Rokokozeit, aus den Gefühlserregungen der Sturm- und Drangepoche, kam aus der höfischen Atmosphäre des nicht eben sittenstrengen Jahrhunderts; er hätte, bei weniger Gehalt, in Verliebtheiten untergehen können, hätte er sich nicht in bewußter Gegenwirkung mit vielseitiger Geistesarbeit befrachtet. Das große Publikum unterschlägt diese Selbsterziehung und ist um so rascher geneigt, Goethe von der andern Seite behaglich gelten zu lassen: als einen vielverliebten Lebenskünstler. »Ja, der Goethe, der hat's verstanden!« Und anekdotische Bemerkungen, wie etwa von Sulpiz Boisserée (1815) von der Rheinreise mit Goethe: »Ein junges, frisches Mädchen bedient uns, ist nicht schön, hat aber verliebte Augen. Der Alte sieht sie immer an. Kuß« – sind so recht nach dem Geschmacke dieses Publikums.

Aus dem Goetheband der »Wege nach Weimar«

1. Friederike Brion

Was wüßte man viel von Goethes sogenannten »Liebesgeschichten«, wenn er nicht selber die Geliebten durch seinen poetischen Bericht geadelt und der Nachwelt in diesem veredelten Bilde übergeben hätte?

» ...In diesem Augenblicke trat sie wirklich in die Tür; und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. Beide Töchter trugen sich noch deutsch, wie man es zu nennen pflegte, und diese fast verdrängte Nationaltracht kleidete Friederike besonders gut. Ein kurzes, weißes, rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine schwarze Taffetschürze – so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heitren blauen Augen blickte sie deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehen und zu erkennen.«

So wird Friederike Brion in »Dichtung und Wahrheit« (II, 10) vorgestellt. Hunderte mögen sie gesehen und gern gesehen haben: nur Einer faßte dies Bild. Nur einer trug es in diese Worte, so daß es nun in unzähligen Tausenden lebt und leben wird. Wir alle sind nun durch Schönheit bereichert. Und ich denke, diesem großen geistigen Gewinn gegenüber sind alle die Streitfragen nach den Einzelheiten dieser Liebe und nach Friederikens Erdenlauf von untergeordneter Bedeutung.

Was frommt es uns also, wenn mir in Erfahrung bringen könnten, wo und wie Friederike später als »Tante Brion« gelebt und auf die Mitlebenden gewirkt habe? Diese gealterte Tante Brion ist doch nicht mehr jenes eine, in die Weltliteratur eingetretene Mädchenbild von Sesenheim, das an und für sich und als solches eine typische und unsterbliche Bedeutung gewonnen hat. Es gab und gibt Tanten und Riekchen genug: nur aber eine Friederike Brion, die in jenem Augenblicke wie ein Schönheitsblitz durch eines Dichters Seele fuhr. Der Augenblick der flammenden Berührung und seine lang nachleuchtende Wirkung: sie sind auf der geistigen Ebene das Entscheidende. Es entstand in Goethe ein Bild; und dies unvergängliche Bild benennen wir mit dem Namen jenes Mädchens, das die ihr innewohnende und in ihr gestaltete Schönheit in den Dichter hineingestrahlt hat. Der Dichter strahlt es nun wieder aus in der Dichtung.

2. Frau von Stein

Aus allen Sphären trug der Dichter des »Tasso« auf diesen Namen nieder, was sein Herz an Liebe enthielt »(Tasso I. 1), und adelte diese Hofdame zur Iphigenie, auf Jahrhunderte hinaus, so daß diese Liebe in solchen Formen in die Menschheit überhaupt überging. Seine Briefe sind ein einziger zärtlicher Dank für diesen durch Lotte Stein geweckten neuen reinern Zustand. Wir können im Verlauf dieser einzigartigen Briefe deutlich verfolgen, wie sich der spielend-verliebte junge Verwöhnte in den leidenschaftlich Liebenden, in den beruhigt Geliebten, in den vergeistigt zur Allgemeinheit zurückkehrenden und herb von der Sonder-Person gelösten Dichter verwandelt, der mit Charlotte, Herder und Herders Gattin in jenem Jahrzehnt eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft bildet. Das einfach-natürliche selbstverständliche Gefühl der Zusammengehörigkeit zu der liebenden und geliebten einzelnen Frau wirkt noch in die italienischen Erneuerungsjahre nach, bis dann, nach der Rückkehr aus dem verjüngenden Sonnenland in die nordische Heimat, der schmerzliche Bruch eintritt, der Goethe nach allen Seiten hin aus seiner Umgebung losriß. Es war bis zum Eintritt Schillers (1794) Goethes einsamste Epoche; sie war nur das Endergebnis eines im ersten Keim bereits nicht ganz natürlichen, nicht wurzelhaft gegründeten Verhältnisses mit einer sieben Jahre älteren, bereits verheirateten und mit Kindern umgebenen Frau. Es war ein Seelen- und Geistesbund, möglich in Poesieland, aber nicht auf die Dauer durchführbar für Menschen von Fleisch und Blut und innerhalb einer bürgerlichen Nähe und Enge. So folgte der geistigen Spannung die Entspannung: auf Frau von Stein die anspruchslos-jugendliche Christiane Vulpius, die den Dichter mehr als irgendwelche Hofdame an die freie Natürlichkeit italienischer Verhältnisse gemahnte. »Niedere Minne«, wie die mittelalterlichen Sänger derartige Sinnenverhältnisse zu nennen pflegten, war an Stelle der hohen Minne getreten. Das Körperliche war noch nicht verbraucht oder durchgeistigt genug: und mit dem Körperlichen die ganze Welt der zwanglos-behaglichen Bürgerlichkeit, die noch den nahen Besitz braucht. Ohne Frau von Stein keine Christiane Vulpius: so dürfen mir sagen. Die beiden Frauen – fein und etwas kränkelnd jene, rotwangig und zur Fülle neigend diese – bildeten körperlich und geistig geradezu Gegenpole.

 

Tischbeins Goethebildnis ist mir wertvoll. Goethe, vom breiten Hut überschattet, schaut in weite Ferne; er ahnt etwas von den kommenden Jahren. Hintergrund: zerfallende Kampagna-Bauwerke und im Herzen ein bald zerfallender Liebesbund. Das wirft Melancholie über das Bild ...

Wäre keine Möglichkeit gewesen, daß Frau von Stein, die Gattin und Mutter, den Drang nach dem unerreichbaren Dichter niederkämpfen und ihm selber die Gattin hätte zuführen können? Das hätte freilich ungewöhnlichen Heroismus erfordert; aber er hätte drei Menschen in ein Reich hochgearteter Liebe emporgehoben. Goethe, der Kinderfreund und ruhig-heitere Apoll, der ernste Mann einer sich weise beschränkenden und doch weltverklärenden Arbeit, zwischen «Krone« Schröter als Gattin und der klugen Frau von Stein als Freundin bewegungsfrei gebunden: alle drei den Blick auf das Ganze der Natur und der Gottheit gerichtet, dem Herderschen Ehepaar auch fernerhin im Austausch nahe, von Schiller angeregt und mit Lotte befreundet, den Willen zu einer bedeutend erkannten Lebensaufgabe gleichmäßig ausgebildet: – eine solche Verfreundung wäre denkbar. Denkbar allerdings für eine sehr reife Zeit und innerlich freie Menschen.

Aber das Weib als Geschlecht verlangt Ausschließlichkeit. Eine liebende Frau ist zum Heroismus der Entsagung allenfalls bereit – schwerlich aber zum Heroismus der Vorstellung, daß der Geliebte »in den Armen einer andren« ihrer vergessen könnte. Sie muß sich ihn vorstellen, auch bei aussichtsloser Trennung, wie er in stillem Schaffen oder fröhlicher Geselligkeit »nur an sie« denkt. Diese Ausschließlichkeit gibt ihr Kraft. So hatte sich Frau Charlottens Empfinden jahrelang von dieser Vorstellung genährt.

Die Unnatur einer solchen einseitigen Spannung einem freien, auf der Höhe des Lebens stehenden Vollmanne gegenüber konnte nur eine begrenzte Zeit hindurch wohltätig wirken. Charlotte selber trug zwar die Spannung, Kraft ihrer Liebe; sie selber aber war Ehefrau und mußte sie tragen. Sie hatte sieben Kindern das Leben gegeben und hatte noch ihrer drei zu erziehen. Geburt und Tod, Sorgen und Freuden waren wechselvoll über sie verteilt gewesen. Über ihn nicht. Sie wollte ihm dies Gebiet verschlossen halten, getragen von einem ungesund romantischen Gefühl von »ewiger Liebe«.

Doch waren dies bei so gestalteten Verhältnissen und bei Goethes ganzer Anlage wohl nicht die rechten Formen großgearteter Liebe. Und so zerbrach die Natur den Willen der einzelnen Frau, und jener schwer begreifliche Riß kam in Goethes Leben.

Wohltätige Wirkung der Frau von Stein auf Goethe: Förderung der in seiner Natur liegenden ernsthaften Sammlung. Indem er nämlich durch das magnetische Band der Liebe an diese eine Frau gefesselt ward, lernte er sich überhaupt konzentrieren. Er übte sich in der Heimrufung der vordem landfahrenden erotischen Phantasie. Dies entwickelte zugleich den Sinn für Verehrung; denn auch dies Gefühl muß wachsen wie alles andere. Und es wuchs damit die Goethische Eigenschaft liebevoller Aufmerksamkeit. Dazu warf dann die Stimmung der Liebe an und für sich einen Glanz auf die betrachteten Gegenstände ab.

So wirkte dieses Bündnis wohltätig auch auf die ganze italienische Reise. Er verinnerlichte mit dessen Hilfe die andrängenden Erscheinungen. Und es ist sinnreich, daß das italienische Reisetagebuch aus den Briefen an Frau von Stein entstanden ist.

3. Christiane Vulpius

Auf Goethes Ehe ruhte kein nachwirkender Segen. Es ist ein trübes Schauspiel, den Niedergang seines Sohnes August, das unfruchtbare Hinsiechen seiner beiden Enkel zu betrachten. Und wenn wir auch über Goethes persönliches Verhältnis zu Christiane – über die Lebenswärme gleichsam, die sie ihm gegeben hat – nicht urteilen dürfen, so bedeutet sie doch alles in allem nicht viel mehr als eine gute Haushälterin. Christiane steht, als geistige Wirkung, trotz der »Römischen Elegien«, nicht entfernt auf gleicher Stufe mit den sonstigen Anregerinnen, die auf die Seele dieses großen Dichters eingewirkt haben. Aber man darf nicht vergessen, daß sie eben »ihren Lohn dahin hatte«: sie war satter Besitz, sie wirkte durch ihre körperliche und häusliche Nähe, sie ist nicht umstrahlt von der adelnden Wehmut des Entsagens wie die andern alle. Sie diente mit dem, was ihr die Natur gegeben hatte: mit ihrem Körper und ihrer heitern Geschäftigkeit.

Edelfrauen

Schiller war eine Natur, die der Beruhigung bedurfte: er hat in seiner sanften, treu und stark sich einfühlenden Lotte seines Sehnens Erfüllung gefunden. Goethe, dessen zauderliches Leben Anregung brauchte und dessen langsames Wachsen Ring an Ringe setzte und Epoche zu Epoche fügte, ist auch in seinem Liebesleben eine ganz anders gestimmte Natur.

Man kann aus Schillers und Lottes Briefen einen Perlenkranz von Prosalyrik zusammenreihen. Wie tiefglücklich ist Lotte! »O, ein guter Genius führte Dich mir zu! daß Du die Freude meines Lebens sein solltest, und ich nur Dich glücklich zu machen existieren sollte, Lieber, Teurer! es ist ein süßer, süßer Gedanke! ... Es lieben gewiß wenige so stark und treu wie ich, und ich kann es so wenig fühlbar machen! Ich trug, wie ich jünger war, immer das Gefühl mit mir herum (ich weiß nicht woher), daß man mich nicht lieben könne, nicht so zum wenigsten als ich. Daher mag mir vielleicht dieser Anschein von Kälte, von Verschlossenheit geblieben sein, weil ich immer so sorgfältig jedes meiner Gefühle verbarg. Aber nun, mein lieber, teurer Freund, weißt Du es und fühlst es, nicht wahr? ... O, der Gedanke hebt meine Seele, Dir Freude geben zu können, Dir ruhige, schöne Momente schaffen zu können in meinem Herzen! ... Mögen die Menschen um uns her denken und sagen, was sie wollen, wir brauchen sie nicht.« Und Schiller: «Ich habe nie so frei und kühn die Gedankenwelt durchschwärmen können als jetzt, da meine Seele ein Eigentum hat und nicht mehr Gefahr laufen kann, sich selbst zu verlieren. Ich weiß wo ich mich immer wiederfinde.« So streben diese beiden zu einer edlen Einheit. Und in dieser Einheit verstehender Liebe wird es ruhig in ihnen: sie werden sicher, warm und groß. Lotte wächst an ihrem Dichter, den sie »wie ein höheres Wesen« in ihre Welt gestellt sieht. Noch die Witwe bekundet in zahlreichen Stellen ihrer schönen Briefe oder in dichterischen Bekenntnissen, wie sie voll ist von Schillers Geist und ihre Kinder in diesem Geiste lebensstark erzieht.

Wie anders Goethe! Man kann keine vollkommene Freude an seiner Ehe empfinden, es ist kein Segen über seinen Kindern, es ist Wechsel in seinen Herzensneigungen. Mit ganzem Glanz strömen sie in ihn ein, diese wertvollen Frauengestalten; der unbedeutendsten eine wird aber seine Haushälterin; eine kongeniale Gattin ist ihm nicht beschieden. Von den Frauen, die ihn verstanden hätten – Lili, Corona Schröter, Frau von Stein usw. – trennt ihn das Schicksal auf unbegreifliche Weise.

Nicht der Besitz der einzelnen Frau war ihm das Ziel. Die Frau war ihm eine elektrische Kraft, an der seine eigene Kraft sich entflammte. Wie ein Sprühregen von Funken erglühte an diesen Frauen seine Poesie. Und es ist das Merkwürdige (was unsere Goethe-Philologie noch nicht beachtet hat), daß jede Goethesche Poesie-Epoche auch durch eine führende Frau gekennzeichnet ist. Die ländliche Friederike begleitet die Straßburger Epoche des Volksliedes, der Götz und der Faustanfänge, jene frischen Shakespeareeinflüsse, die so Deutsches und Naturhaftes versprachen: Charlotte Kestner und die Werther-Epoche gehören zusammen: Lili Schönemann war die einzige, die wirklich als Goethes Gattin in Betracht kam, falls er sich in Frankfurt einer stolz-bürgerlichen Laufbahn gefügt hätte: Weimar war mehr als ein Jahrzehnt hindurch von der veredelnden Priesterin Frau von Stein gekennzeichnet, ohne die ein Tasso oder eine Iphigenie undenkbar sind. So kann man sagen, daß diese Frauen Mitarbeiterinnen an Goethes sämtlichen Werken sind. Mitarbeiterinnen? Man darf sogar sagen: Offenbarerinnen, Genien, Musen. Die Gottheit benutzte diese Edelgestalten, um zu dem Dichter in einer Symbolik zu sprechen, die seinem Verständnis entsprach.

Durch Symbole und Repräsentanten schaute Goethe und schauen die Großen in die Welt: sie vermögen im besonderen Fall das Allgemeine, in der einzelnen Erscheinung bedeutsam das Gesetz zu erkennen. «Es kommt auf das Gemüt an, ob ihm ein Gegenstand etwas bedeuten soll«: einem Dante oder Goethe bedeutet eine geliebte Frau etwas völlig anderes als einem Menschen, der durch die Härte der Erscheinungen nicht hindurchzubringen vermag in ihren leuchtenden sinnbildlichen Geistgehalt. »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis« – das ist die Schlußweisheit des großen Vergeistigers von Weimar. Und so hat er es oft ausgesprochen, daß an der Liebe zum einzelnen Weibe die Liebe zur ganzen Welt erwachen kann. Man braucht nur ein Wesen recht zu lieben, sagt er, so wird man allen Menschen gut. Und durch Frau von Stein sah er, wie durch einen Kristall hindurch, die ganze Welt glänzend und schön. Hier ist der Punkt, wo uns der Gehaltswert des schöpferischen Evangeliumwortes »Liebe« ahnungsvoll aufgeht. Liebe ist wie ein Licht, das über die Welt fällt und das ganze Weltbild in Schönheit. Kraft und Güte umgestaltet.

So fasse man Goethes »Liebesgeschichten« auf! Wir werden alle besser dabei fahren und eine so leicht in Trivialität entgleisende Sache plötzlich mit feineren und reineren Augen anschauen.

Wege nach Weimar


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