Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Leben - Brief an eine Frau

Leben - Brief an eine Frau

Die Wolken wollen den Mond verdunkeln:
er rächt sich, indem er sie versilbert.
Hebbel

Meine verehrte gnädige Frau!

Es wird mir ein künstlerischer Genuß sein, eine schwere Frage allmenschlicher Art fast kinderleicht zu gestalten, indem ich mich nach den rechten herzlichen Worten dafür umsehe. Ich will so klar und warm Worte über Sie ausschütten, als ständen die Akazien da draußen bereits in Blüten, als schüttelte der Wind die weißen Zierate in Fülle auf Sie nieder. Sie sollen gar nicht merken, wie diese einfache Plauderei Sie und mich an den letzten Lebensquell führen wird.

Ich habe mir einen lichten Sonntag dazu ausgesucht. Heut ist auf allen Hügeln und in allen Tälern unseres lenzlichen Deutschlands Feiertag. Aber ganz besonders auf den Hügeln. Denn die Hügelungen dieser Erde recken sich wie Jubel oder Seufzer, wie Gebet und Sehnsucht von dieser fliegenden Scholle empor; sie sind wie erhobene Arme, die empor und hinausgreifen ins vollere Licht. Auf den lichtnäheren Hügeln bauten die Menschen, als noch Poesie und Religion in ihnen wirksam war, ihre Sonnentempel und Gotteskirchen. Aus den Glockentürmen dieser Kirchen rauchen heute noch, wie ein Duft aus Blumenstengeln, Wohlklang und metallene Akkorde hinaus und hinan ins große Weltall und hinab in die Wohnstätten der kleinen Menschen.

An Sonntagen ist die Lufthülle der Erde stiller als sonst oder doch melodischer als sonst. Die Werktagsgeräusche sind verstummt, und statt ihrer schwingt die Luft in den Schallwellen vieler Glocken und Gesänge.

Ich habe mir diesen mild-melodischen Sonntag ausgesucht, verehrte Freundin, um in diesem sehr auf das Gefühl gestellten Briefe mit Ihnen zu plaudern.

 

Kürzlich las ich eine gehaltvolle Schrift, die Sie freilich, verehrte Frau, nicht zur Hand nehmen werden, da sie zu viel Beschäftigung mit den behandelten Gegenständen voraussetzt. Ein Naturforscher macht darin seinen Sorgen Luft (Raoul Francé: Der Wert der Wissenschaft; Dresden, Verlag von Reißner), und zwar Sorgen so tiefer Art, daß sie an den Lebensnerv gehen. Dieser Mann gehörte zu jenen zahllosen Schwärmern der Gegenwart, die auf dem Wege der exakten Wissenschaft das Lebensrätsel schlechthin lösen möchten. Endlich aber war er der Tretmühle müde. Er klagt bitter über die »tiefen und häßlichen Spuren dieser Eilfertigkeit«, über die »unglaubliche Leichtfertigkeit, mit der man heute an die Enträtselung des Daseienden geht«, über den »enormen Wust wirklich unnützen Wissens«, über die »neue Religion, die aus der Naturwissenschaft geschöpft ist, nämlich den Materialismus, der, durch etwas Spinozismus vertieft, Monismus genannt wird« – er bringt seine Klagen geistvoll und in bedeutender Sprache vor. Und mit einem starren und energischen Hinweis auf Goethe schließt er sein Idealbild eines Gelehrten ab. An Goethe verehrt er »das ins Große gesteigerte und auf die Wissenschaft angewendete Künstlertum«.

Meine verehrte Freundin, was mag diesen Forscher derart irre gemacht haben an dem heutigen Betrieb seiner nützlichen und angenehmen Wissenschaft? Verdanken wir nicht der Spezialforschung des verflossenen Jahrhunderts ganz erstaunlich viele Errungenschaften? Angefangen von der entdeckten und eingefangenen Kraft des Dampfes bis zu den neuesten Entdeckungen auf dem Gebiete der Elektrizität, von den Bazillen bis zu den Röntgenstrahlen, von der Tiefseeforschung bis zu den Polarfahrten, von der Vervollkommnung der kleinen Apparate und Werkzeuge im Haushalte bis zu den furchtbarsten modernen Festungs- und Marinegeschützen: – hat da die moderne Wissenschaft nicht Triumph über Triumph gefeiert? Haben wir nicht auf dem Gebiete der Rassenkunde, der Seelen- und Nervenvorgänge, der vergleichenden Sprachforschung, der Bibelkritik, der Vererbung und Zuchtwahl und Anpassung usw. merkwürdige Einzelheiten herausgefunden? Wollen wir nun an alledem einfach irre werden und verzweifelt ins »Künstlertum« flüchten? Ist diese Wissenschaftsflucht nicht eine Art Weltflucht, vergleichbar der Tagesflucht der allen Mönche, die aus dem unerträglichen Staatsgefüge des römischen Epigonenreiches in die ägyptische Wüste flohen und nur mit den Sternen der Nacht und dem Heiland am schlichten Holzkreuz und dem Gott in ihrer vereinfachten Seele Zwiesprach hielten?

Der Philosoph Nietzsche hat an diesem Zwiespalt zwischen künstlerischer und wissenschaftlicher Weltbetrachtung schwer gelitten; er ist vielleicht hieran zugrunde gegangen. Denn sehen Sie, liebe Frau, den richtigen Wissenschaftler, der mit seinem Gelehrtentum bis ins einzelste hinein blutigen Ernst macht, verfolgt seine zergliedernde Art des Schauens und Schlüsseziehens wie ein Gespenst. Auf diesem Wege liegt Verknöcherung oder Wahnsinn. Und dieser wissenschaftliche Wahnsinn hat nun in der Tat in unsere Literatur und unser Geistesleben Einzug gehalten, und wir müssen daraus flüchten in eine andere Schauensart hinein.

»Aber wieso denn?« fragen Sie im ersten Augenblick erstaunt. »Zwar haben Sie schon immer den Wert eines hohen Menschentums als Grundlage von aller Kunst und Kultur in Ihren Aufsätzen und Werken hervorgehoben; aber, lieber Freund, es gibt doch gewiß auch unter den Gelehrten viele sehr nette Leute, ich kenne reizende Menschen, die im übrigen in einem ganz einseitigen Berufe aufgehen. Und eine Art Literat – sind ja Sie selber?!«

Ganz recht! Es kommt auf den äußeren Beruf als solchen nicht viel an. Man kann als Bauer wie als General, als Theologe wie als Gelehrter ein wertvoller Mensch, ein Edelmensch sein. Hier handelt es sich aber um die Gesamtstimmung einer Zeit, um die Windrichtung einer ganzen Epoche; und der Wind unseres Zeitgeistes weht vom einheitlichen Menschentum und vom durchgöttlichten Menschentum hinweg in die verwirrende Fülle nüchtern erfaßter Erscheinungen hinein. Ich werde Ihnen sofort in Worte fassen, daß ich dem gegenüber beherrschendes » Lebensgefühl« und edel entfaltetes » Menschentum« verlange, und was ich darunter verstehe.

Nicht das Hirn, sondern das Herz denkt den größten Gedanken, wie sich Jean Paul im »Hesperus« einmal ausdrückt. Unser Herz aber oder unsere Seele oder der Kern unserer Persönlichkeit ist ein Funke aus dem Lebenslichtmeer Gottes. Wenn das Herz durch die Ausstrahlungen verwandter Herzensmenschen und großer Persönlichkeiten zitternd erweckt ist und aufblüht, wie eine Pflanze unter Sonnenkuß, ganz instinktiv, durch Lebensberührung und erst in zweiter Linie durch Studium: so ist diese neue, das ganze Wesen durchdringende Liebe von nun ab Richtschnur unseres Handelns. Dies ist kein Widerspruch zu jenem Nachdenken und Studium, das wir inzwischen vom Gehirn aus betrieben haben; nein, dies ist vielmehr die ganz unerläßliche und notwendige Ergänzung, ohne die jene Wissenshaufen tote Masse sind. Vom Herzen eines Persönlichkeitsmenschen aus strahlt die Flamme, die unsere Umwelt erleuchtet und erwärmt, die zugleich unsere Erkenntnisse und Pflichten ordnet und sichtet. Und wenn das an sich so wohltätige, zu unserem Aufblühen ins Werk gesetzte, zu unserer Lebens-Entfaltung bestimmte Staatsgefüge und gesellschaftliche Gefüge in Mechanismus und Maschinentum erstarrt, sodaß sich der Persönlichkeits-Mensch nicht mehr entfalten kann: so ist dies die schwerste Gefahr nationalen und individuellen Lebens. Mit aller Macht müssen dann die Wenigen, denen Gott die Gnade und Kraft gab, in freier Entfaltung Lebenskräfte auszuströmen über ihre Mitgefangenen, in erster Linie die Dichter und Künstler und schöpferischen Geister, ihre Stimme erheben und den Ton des Lebens, den erquickend warmen, heimatlichen, elektrisch ansteckenden Ton durchgöttlichten Menschentums werbend hinausklingen lassen in die unmelodischen Geräusche der Staats- und Gesellschafts-Maschine.

Lebensgefühl nenne ich diese hohe Gabe des Genies, des Befreiers. Dies Gefühl aber ist wie eine Art Fluidum, wie eine Art Magnetismus, wie eine stark entwickelte, leuchtende Lustkraft, die in und um einen hohen Menschen wirksam ist. Kein Dogma und kein Moralgesetz, diese notdürftigen und notwendigen Formeln, bringen solches Lebensfluidum einem Menschen bei. Vom Herzen und seinen Erlebnissen, besonders seinen Leiden und Entäuschungen, aber auch aus seiner Sehnsucht entwickelt sich diese – Substanz, möcht' ich beinahe sinnlich sagen. Es ist eine Innigkeit, eine stille und feste Kraft, die alles vergoldet, was sie anfaßt, die aber freilich ihren durch Bildung veredelten Instinkt dafür sorgen läßt, daß er eben nicht alles ohne weiteres anfaßt. Dies neue Lebensgefühl hat mit der naiven Lebensfreude, die für einen gebildeten und bewußten Kulturmenschen nicht mehr möglich ist, nur manche Erscheinungsform gemeinsam. Doch über ihrer hellsten Heiterkeit liegt etwas Gedämpftes, über ihrem tiefsten Schmerz etwas Vornehmes: in beiden Fällen ist sie dort vor Übermut, hier vor Verzweiflung bewahrt. Sie hat den Unwert des Erdenlebens voll erlebt, aber sie hat in neuem Erwachen auch den vollen Wert dieser fliegenden Scholle, auf der wir Menschen wachsen, in sich aufgenommen. Denn – und jetzt kommt die Hauptsache –: solchen Menschen ist der Sinn aufgegangen für die Unendlichkeit und die Göttlichkeit aller Schöpfung und ganz besonders der Menschenseele. Ihr tiefstes Wesen ruht in jener Fülle des schöpferischen Lichtes, das man seit Jahrhunderten Gott nennt.

Alle Erfindungen und modernen Erkundungen in höchsten Ehren! aber von dort aus allein kommen wir dem »Eins ist not« nicht näher. Einfangen und formulieren in Systemen läßt sich diese Welt nie; nur erleben läßt sich ihr Geheimnis, nur vorleben und nachleben läßt sich dies letzte und tiefste Rätsel. Die großen Menschen aller Zeiten und Völker haben uns immer nur, in wechselnden Worten, dies Eine gekündet: das Wesen des Lebens, indem sie es uns ausstrahlten. Alle ihre Taten waren Ausstrahlungen, alle ihre Worte waren überfließende Tropfen voll Leuchtkraft aus dem übervollen Eimer ihres Wesens. So befreiten sie uns Grübler aus den Banden wissenschaftlicher, theologischer, ethischer oder ästhetischer Dogmen und machten uns zu wahren Gotteskindern. Und sie selber und ihr Wesen sind nicht einzufangen in ein erschöpfendes Dogma – so wenig wie die reiche Natur selber, so wenig wie das reichere Göttliche, die beide uns umleuchten und in uns weben und leben.

Sehen Sie, liebe Frau, das ist es, was so ganz wunderbar herrlich aus einem lebensvollen Genie mitten in die Vernünftelei der Mittelmäßigkeit hineinsprüht! Leben ist es! Es ist eine unendlichfarbige Sonnenkraft, die im Taudiamanten ebenso funkelt wie in einer genialen Menschenseele. Und genial ist nicht nur Goethe oder Bismarck: diese Genialität steht dem Wesen nach, wenn wir Mut und Glück haben, uns allen offen, diese Genialität ist in Kindern und im Volke und in reichen Frauenherzen instinktiv lebendig. In den Fischern von Galiläa blühte sie auf, als Christus mit seinem Herzensmagnetismus sie berührte, während die Pharisäer bildungsverknöchert staunten und nicht begriffen. Dies Lebensgefühl ist Gottesgefühl, ist »ewiges Leben«, aufsprießend aus der Scholle und hineinragend ins Gotteslicht, aus der irdischen in die himmlische Heimat, »Heimatkunst« hier und dort. Es ist gewissermaßen, als ob wir Menschen elektrische Verbindungssäulen wären zwischen Himmelskraft und Planetenkraft: von oben und von unten her strömt Kraft in uns ein, stößt zusammen und erzeugt das, was wir mit Freuden nennen: eine reiche und starke Persönlichkeit. Bloßes Erdentum wäre plumper Naturalismus, bloßes Himmelstum blaß hinsiechende Ideologie: beides vereint, knisternd und funkelnd ineinander überspringend, oft einander nutzvoll bekämpfend, wobei die himmlische Kraft aber den Sieg behält: das ist volles und echtes Menschentum voll Kraft und Süße, voll Befreiungskraft für glückliche Zuschauer und alle Lebensbedürftigen dieser Gesellschaftswelt.

Meine verehrte Freundin! Ihr herzensguter und seelenvoller Gatte ist seines Zeichens kluger Elektrotechniker: grüßen Sie den lieben Freund und seine wunderbare Wissenschaft dazu, von der ich noch viel Überraschungen erwarte. Kein Jota unserer vielen Entdeckungen soll aufgegeben werden, das laßt uns festhalten! Aber es gibt in uns selber, in unserem Gemüts- und Seelenleben Elektrizitäten und Dampfkräfte und Lichtwirkungen so wundersamer Art und so himmlischer Substanz, daß sie in der Tat, wie jener oben genannte Wissenschafter fordert, nur im »Laboratorium« des dichterischen, des künstlerischen und des religiösen Menschen in Wort und Werk einzufangen sind. Es gibt geheimnisvolle, sittliche Mächte und Instinkte von unwiderstehlicher Funkenkraft, es gibt unwägbare religiöse und nationale Mächte, Mächte von elementarer Lebenskraft, die heute brach liegen, die nicht in zeitgemäßen Formen entfaltet sind, Mächte der Beseelung unseres Reichskörpers und modernen Menschheitskörpers. Diese Gemütsmächte und Lebensinstinkte möcht' ich endlich wieder frei sehen, einen Bismarck der Reichsseele möcht' ich erleben, unser unausrottbar tiefes deutsches »metaphysisches Bedürfnis« möcht' ich kraftvoll in neuen Formen an der Arbeit sehen – so stark belebend, daß kein Jota unserer äußeren Errungenschaften bekrittelt und verworfen, sondern nur nach Möglichkeit umgesetzt würde in liebeverklärtes und freudeatmendes Leben!

Sie in Ihrem Umkreise, liebe deutsche Hausfrau, besitzen und betätigen diese vergoldende Kraft des Königs Midas. Grüßen Sie mir Ihre drei herzigen Elfchen! Sie alle betätigen dort mitten durch alle Wechselstimmungen des Alltags das Leitmotiv »Gut sein und glücklich machen!«, das ich meinem Lebenslied und Frühlingslied von den Schildbürgern zugrunde gelegt habe. Und jene buchwaldumwehte Luft und Liebe Ihres gesunden deutschen Hauses möcht' ich ins Große und ins ganze Reich übertragen sehen. Sie war im großen Goethe mächtig, den wir jetzt einstimmig als die bedeutendste Künstler-Persönlichkeit und Menschen-Persönlichkeit des letzten Jahrhunderts verehren. Und strahlen Sie nun in Ihrem Umkreise diese Kraft der Liebe und wahren Herzensbildung aus, so sind Sie eine Dichterin der Tat, so schaffen Sie mit an den zartesten Fäden deutscher Kultur, so küß' ich Ihnen lächelnd als einer bedeutsamen Mitarbeiterin die gütige und fleißige Hand. Denn das deutsche Haus ist ja der gegebene feste und innerste Kreis, in dem sich wertvolle Menschen entfalten können; und wenn wir vieler solcher blühenden Beete haben, wie es Ihr Haus ist, so steht es gut um unseren Garten Deutschland. Noch einmal, liebe Freundin: wir haben so bitter lange mit Seziermesser und Mikroskop die Welt betrachtet und – mörderisch zerstückelt, daß ich nun alle Mächte des Gemütes, alle Kräfte des deutschen Herzens wieder anflehen und aufrufen möchte, unser Lebensgefühl zu vertiefen und einheitlich mit der Kraft durchgöttlichter und edelmenschlicher Persönlichkeit die Welt beseelen zu helfen. Alle Mächte des Gemütes, als da sind: das deutsche Herz, das deutsche Haus, die edeldeutsche Frau, das reine Mädchen- und Kindestum, der empfindungsstolze und empfindungsstarke Mann, der begeisterungsfähige Jüngling – sie alle sollen wieder zu Worte kommen und aufbauen helfen an der noch unstarken Seele unseres Reiches!

Sie sehen, meine verehrte Freundin, von Ihren holdstimmigen und sonnigen Kleinen bis hinauf zu Goethe und anderen Heroen der Weltgeschichte ist kein Riß, kein Zwiespalt. Derselbe Funke lebt in Ihren Lockenköpfchen, wie er in jenem großen Kinderfreund zur Flamme ward. Und Sie wissen, was der Heiland der Welt, der wie ein Meteor aus den Sphären auf diesen Stern kam, von den Kindern und ihrem tiefen erzieherischen Wert für uns alle gesagt hat. Dies ist es ja eben immer wieder, dieser »hohe Stil des Lebens« (Jean Paul), was der oben genannte Lebenssucher und Naturforscher will. »Mehr persönliche Seele!« ruft Ruskin, und man kann hinzufügen: mehr Menschentum, weniger Papiertum! Und wenn ich für mein Teil die Gnadengabe hätte, in dichterischen Werken das auszuleben, was ich hier unvollkommen in den Aufsatzton einspanne, so müßte mein Schaffen in Tragik und Humor, in Vers und Prosa ein einziges und einheitliches Lied des Lebens sein, von der kleinen Scholle meiner irdischen Heimat bis hinauf in die ewige Heimat.

Sehen Sie, liebe Hausfrau: was der unstet suchende Knabe und Jüngling spät versteht und erst bitter erlernen muß, habe auch ich erst als Mann langsam erleben gelernt: Goethes zuerst fast spießbürgerlich anmutendes Wort von der weisen Beschränkung. Er schrieb zum Beispiel an Eckermann (1823, 14. August): «Möge ich Sie in stiller Tätigkeit antreffen, aus der denn doch zuletzt am sichersten und reinsten Weltumsicht hervorgeht.« Dies Wort wird sofort in der ganzen Weite und Schönheit, in der es gemeint ist, durch folgende Fassung an anderer Stelle in rechte Beleuchtung gesetzt: »Jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.« Wie ist das tief und einfach! Wie schauen wir plötzlich, fast erschrocken, aus unserem Unendlichkeitsflug, wo wir Gott suchten, auf die nahe übersehene Sekunde und hören beschämt und erstaunt die Worte jenes lächelnd-schlichten und doch so hoheitsvollen Lebenskünders, daß das Reich Gottes in uns ist und das Gute so nahe liegt! Für den Menschen, der diese zweierlei Optik, diesen ausruhenden Naheblick und diesen fliegenden Fernblick hat, ist Humor und Tragik kein Widerspruch; und ein Idyll kann er so bedeutsam gestalten wie eine Tragödie. Es ist ja kein Tod im Weltall, liebe gnädige Frau, und nichts ist groß, nichts ist klein! Ich spekuliere wahrlich nicht gern über Unsterblichkeit und Jenseits, eben weil ich tief durchdrungen bin von einem unerschöpflichen Lebensgefühl, das man auch »Glauben« (pistis) nennen könnte. Und diesen Glauben umschrieb Luther als eine »lebendige verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade«. Und mir ist, da ich von diesem Kirchenmann und deutschen Mann rede, als müßte ich meine Überzeugung bei dieser Gelegenheit aussprechen, daß zwischen hohem Menschentum und reinem Christentum kein Unterschied bestehe. Wenn wir uns doch einigen könnten, wir konfessionell zerspaltenen Deutschen, auf dem Boden eines hinreißenden und doch erdenfesten, lebenstiefen Idealismus, über alle notwendigen Dogmen hinüber! Ich selbst verdanke den Evangelien unermeßlich viel; jedoch über Dogmen und dergleichen sprech ich mich auch hier und zu Ihnen so wenig aus wie über Unsterblichkeit und andere spekulative Dinge. Wertvoll wird das alles erst dann, wenn es sich in Lebenskraft umsetzt, wenn es die Strahlen, die von unserem Herzen belebend und beseelend ausgehen, stärkt. Diese Lebensstrahlen ewiger Art sind das Wichtige. Sie weben um uns ein Kleid, das sich von innen heraus immer mehr verklärt, dessen Verfertiger wir selber sind samt der in uns wirkenden Individualität und Gotteskraft. Wollt' ich in Spielereien diesen Brief von der Unendlichkeit des Lebens enden lassen, liebe Freundin, ich würde Ihnen ausmalen, wie ich mir die unermeßlichen, anscheinend leeren Räume des blauen Weltalls voll unsichtbaren Lebens denke, so bunt und reich wie die Tierwelt im Wassertropfen, die wir ja vor Erfindung des Mikroskops auch nicht schauen konnten. Aber das sind Spielereien. Wir bedürfen ihrer nicht, die wir lebensbewußt und schaffend wandeln im goldenen Lichte unseres kleinen Planeten.

Im Türmer, III. Jahrgang


 << zurück weiter >>