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Rotkäppchen

Die Menschenseele taucht in die Materie ein, sammelt Erfahrung und kehrt bereichert in das Licht zurück.

Rotkäppchens Wand'rung hab' ich heut' bedacht.
Die Kleine kam vom himmelhohen Treppchen
Und tauchte fröhlich in des Waldes Nacht,
Den sie durchleuchtete mit lichtem Käppchen:
Es ging von mütterlicher Segenshand
Auf ihrem Haupt ein Schimmer über Land.

Sie wagt sich kühnlich in das Tannental
Und trägt den Korb, gefüllt mit goldnem Kuchen.
Sie will, ein ausgesandter Sonnenstrahl,
Mit Himmelsgruß die Hüttenfrau besuchen.
Der Waldpfad glitzert, wo das Seelchen schwebt,
Und jedes Kraut am Wege lacht und lebt.

Der Glanz von innen, der sie froh umsprang,
Erschrickt zwar vor des Waldes finstrer Feuchte;
Hier werden blaue Kinderaugen bang,
Und hier erlischt beinah' des Käppchens Leuchte.
Kommt gar der Wolf, so taucht in Nacht und Not
Das Blondhaar und des Käppchens letztes Rot.

Doch sieh, schon schreitet, nicht von ungefähr,
Ein Weidmann durch den Forst, ein weitgereister;
Den ängstet weder Wolf noch Luchs noch Bär,
Der ist sogar dem Tod ein kecker Meister.
»Komm, Seelchen, komm!« An stolzen Geistes Hand
Kehrt jenes Kind zurück zum Sonnenland ...

Rotkäppchens Mutter, zweifelst du am Licht
Und spähst und klagst den Schwalben und den Täubchen?
Schau' hin, und schaust du dort das Leuchten nicht?
Weidmann – und Hüttenfrau – und rotes Häubchen!
Bereichert stehst du, und du lächelst fein:
«Eine zog aus – doch dreie ziehen ein!«

Lebensfrucht

 

Schneewittchens Einsamkeit

Schneewittchen geht verträumt im Abendschein
Auf einer Wiese, drum der Hochwald dunkelt.
Mit einem Waldreh wandert dort allein
Die Königsmaid, vom Himmelsglanz umfunkelt.
Es kann kein Engel so umflossen sein.

Wie hebt sich jedes Tännchens zartes Reis
Schwarzgliedrig an des Himmels roten Gründen!
Es ist so still, nur eine Wachtel weiß
Vom toten Tage kurzen Spruch zu künden.
Ein Wiesenquellchen rieselt lieb und leis.

Im Moorgrund, auf dem schmalen Pfade, ruft
Ein Zwerg dem andern, alle schwer beladen;
Man hört ihr Keuchen in der linden Luft;
Der Boden zittert; von entfernten Pfaden
Herwandernd, wittern sie des Häuschens Duft.

Das steht am Waldrand. Bläulich schwebt der Rauch
Ins Abendrot, das still und golden schimmert.
Das Moosdach ist, nach kluger Zwerge Brauch,
Ganz dicht und tief, das Türchen schmuck gezimmert,
Der Garten voller Nutzkraut, und ein Strauch
Von Kletter-Rosen hält die Wand umflimmert.

Sie rufen jetzt: sie haben sie erspäht.
In Wehmut lächelnd wartet die Verbannte.
Sie steht in ihrer schlanken Majestät
Und hält ihr schmiegsam Reh am goldnen Bande;
Sie grüßt das kleine Volk: »Kommt ihr so spät?«

Wie geht ein Plaudern an! Sie packen aus,
Sie heben an zu zeigen und zu nennen:
Sie spricht gelassen lächelnd von dem Schmaus,
Der drinnen harrt – die müden Kleinen rennen!
Und lächelnd, seufzend geht auch sie ins Haus.

Lebensfrucht

 

Gänseliesel

Nun bin ich recht von Herzen satt
Des Wanderns durch verstäubte Lande –
Den Stift! ich dichte einen Reim
Aufs Gänseliesel hier im Sande!
Ich hab' ihr eine Stunde lang
Den Hof gemacht nach Herzenslust –
Umsonst! Das Gänseliesel hat
Kein Herz in ihrer jungen Brust.

Ihr Lebtag hat sie keinen Strumpf
An ihrem braunen Fuß gesehen,
Und ihre Sohlen sind so hart,
Daß sie durch Dorn und Nesseln gehen.
Sie hat so lederzähe Hand,
Die Hexe, und so schwielenbraun,
Daß sie mit kecker Faust zerreißt
Den stachelvollsten Heckenzaun.

Dann streicht die Schelmin wie ein Luchs
Den Wald hinab und nascht die Beeren,
Und weiß das höchste Elsternest
Geschickt der Eier zu entleeren.
Und kommt der Förster, ist sie fort,
Und kommt sein Hund, so wedelt er
Und reibt den Kopf an Liesels Knie,
Als ob's des Waldes Göttin wär'!

Dann liegt sie wieder regungslos
Und träumt an ihrem dürren Hange
Und starrt in ihre Gänseschar
Und rührt und regt sich nicht so lange,
Bis du am Wald vorüberkommst
Mit einem schlichten »Guten Tag!«,
Dann staunt sie groß und dumm dich an:
»Was wohl der Tölpel von mir mag?«

Ich saß heut' eine Stunde lang
An unsres Liesels Sonnen-Raine,
Mit Wanderstock und Wandersack
Auf einem heißgebrannten Steine,
Und predigte von dem und dem
Und fragte hier und scherzte dort:
Was war's, das sie zur Antwort gab?
Auf alles nicht ein einzig Wort.

Ei, Hexenkind, so gib mir doch
Zum Abschied wenigstens die Hände,
Daß ich mit einem Achtungsdruck
Die sonderbare Zwiesprach' ende!
Jedoch auch das nicht: langsam gähnt
Und reckt mein Liesel Arm und Bein –
Und wandert mit der Gänseschar
Gemächlich in den Wald hinein.

Lebensfrucht


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