Friedrich Lienhard
Das Landhaus bei Eisenach
Friedrich Lienhard

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Sechzehntes Kapitel. Hagebutten.

Die sommerlichen Rosen im Wartburgwald hatten sich verwandelt in die roten Früchte der herbstlichen Hagebutten. Nun stäubte rauher Wind die Blätter der zarten Birken und das braune Laub der Buchen und Eichen durch die unwirtlichen Stätten. Nur selten und nicht weit erging sich der alte Schattenmann fröstelnd durch den Wald. Feine, flinke Meisen pfiffen behend durch die Hecken; in den Spinnwebnetzen, die sich in die Tannenäste hängten, schwirrten im Sonnenlicht einzelne Mückchen in dem opalisierenden Schimmer der feinen Fäden. Die Hagebutten standen fest und rot als einzige Zierde zwischen dem vielfach gebräunten und entblätterten Hochwald.

Es war erster Frost über die Welt gekommen; die Wartburg blieb vom Nebel umhüllt.

Da begegnete der Hausherr in der Nähe seines Landhauses einem Bekannten der weimarischen Regierung, mit dem er sich gelegentlich in Gespräche zu verwickeln pflegte.

»Diesmal nur ein Wort im Vertrauen, mein verehrtester Herr Nachbar,« sprach dieser hochwichtige Herr. »Sagen Sie mal ganz im Vertrauen – was wollt ich denn gleich sagen – es ist Ihnen ja wohl nicht ganz unbekannt, daß die Feuerbrände, die jene jungen Leute da oben auf dem Watenberge angesteckt haben, bei unserer und benachbarten Regierungen höchst unliebsames Aufsehen erregt haben. Nicht nur sind in österreichischen Blättern unschöne Bemerkungen gefallen, sondern auch einzelne, hauptsächlich preußische Beamte, z.B. der Königliche wirkliche Geheime Oberregierungsrat und Kammerherr von Kamptz und verwandte Naturen haben sich geradezu beschwerdeführend an Seine Königliche Hoheit den Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach gewandt, worüber ich zufällig ganz genau Bescheid weiß. Diese Haufen verwilderter Professoren und verführter Studenten da oben haben sich insgesamt der staatlichen Ordnung gegenüber auf der Wartburg höchst ungebührlich benommen. Wir sind darüber unterrichtet. Besonders jene Verbrennung war ein recht eigentlicher Vandalismus demagogischer Intoleranz, wodurch die öffentliche Ruhe und Ordnung höchst mißliebig gefährdet wurde. Unter diesen unreifen Solonen sind nun einige junge Herren ganz besonders verdächtig – nun, gerade herausgesagt, um zu Ihnen offen zu sprechen: die Spuren weisen auf ein Haus zurück, mein lieber Herr Nachbar, das ich Ihnen, um ganz offen zu reden, als das Ihrige bezeichnen muß.«

»Was sagen Sie mir da?! Ich bin also nach Ihrer Meinung revolutionärer Umtriebe verdächtig?«

»O nein, mein Verehrtester, da haben Sie mich sehr mißverstanden. Es wird vielmehr vermutet, daß unter Ihren Hausgästen einige unzufriedene Elemente bemerkbar waren, etwa z. B. ein Gast aus Gießen, ein Bibliothekar –!«

»Was, mein Herr Nachbar?! Habt Ihr Herren von der Regierung auch nur die geringste Grundlage für solche vermutete Staatsverbrechen?! Oder wagt irgend jemand an meiner langbewährten staatstreuen Gesinnung zu zweifeln?!«

»Nicht doch, verehrtester Herr, um Gottes willen, wie sollte ich zu solchen Vermutungen kommen! Aber man will immerhin bemerkt haben, daß –«

»Also Denunziation! Fängt das jetzt so an? Zum Donnerwetter nochmal, Herr Regierungsrat, ich bin zwar sehr langmütig und ein guter Patriot, aber es gibt Grenzen, wo der Staatsbürger wild wird, wenn das Heiligste seiner Grundsätze in Antastung gerät. Ich habe allerdings neulich gelesen, daß der österreichische Beobachter ganz Deutschland warnt, seine Söhne auf die freieste Universität Jena zu schicken, weil sie daselbst zu früh denken lernen. Oho, meine Herren, Sie unterschätzen die teutschen Väter! Wir lassen uns keinen Geistesdespotismus hier im Lande Weimar-Eisenach gefallen! Brechen Sie meinetwegen in unsere Häuser ein, denunzieren Sie, unterdrücken Sie – wir werden uns bis aufs Blut wehren. Das will ich Ihnen von vornherein gesagt haben, Herr Regierungsrat!«

»Gewiß, das können Sie ja tun,« erwiderte der andere merklich kühler, »wir Beamte der Regierung haben in erster Linie für staatliche Ordnung zu sorgen und die französische Pest von unserem Vaterlande fernzuhalten. ... Im übrigen wollte ich nur eine Warnung aussprechen – in aller Freundschaft natürlich, in aller Freundschaft!«

Er entfernte sich raschen Schrittes durch die tauspritzenden Hagebutten. Kaum war er durch die Nebel der sinkenden Sonne entschwunden, so rief Schattenmann seine Tochter Dorothea heran.

»Dora, heute abend kommt ja wohl dein Freund Petersen nach Eisenach? Hör mal, Dora, warne ihn beizeiten! Hier war soeben der Regierungsrat aus Weimar, der pfiffige Fuchs, und deutete allerlei an, dieser Späher. Er hat nämlich guten Wind, und ich kann mich auf seine Fährte verlassen. Es bereitet sich da irgend etwas vor.«

Und er erzählte der aufhorchenden Tochter die näheren Umstände. Genaueres wußte zwar niemand, aber man hielt doch nach diesen diplomatischen Andeutungen alles Schwere für möglich. Die leicht erregbare Dorothea blitzte sofort auf: »Sie sollen 's mal wagen, in unser Haus einzubrechen und uns mit Haussuchungen zu belästigen!« rief sie zornig. Aber in demselben Augenblick durchfuhr sie ein anderer Gedanke: woher darf ich denn eigentlich das Recht nehmen, für diesen Gast einzuspringen?


Petersen kam an demselben Sonnabend, um den Sonntag im Hause der Freunde zu verleben. Die Freundschaft zu allen Teilen, besonders zu Dorothea, war außerordentlich warm und herzlich angewachsen. Sein Gesicht strahlte ordentlich. Er brachte gute Nachricht mit. Fast hätte er in seiner Freude die kleine Ilse umarmt, die seit einigen Tagen wieder in Eisenach bei den Verwandten weilte.

»Es ward mir eine gute Stelle angeboten,« begann er sofort, als er mit Dorothea allein durch den herbstlichen Garten ging.

Ein norddeutscher Fürst hatte den fleißigen und stillen Mann für seine etwas vernachlässigte, sehr ansehnliche Privatbücherei als geschickten Bücherleiter ins Auge genommen; die Sache war in vollem Gang – er hoffte Petersen bald dauernd auf seinem Schlosse zu sehen.

»Kein übermäßiges Gehalt, Dora, aber es ernährt eine Frau und mich,« sprach der erfreute Petersen. »Die Sache ist bis in alle Winkel hinein bereits durchgesprochen und so gut wie fertig.«

»Was, mein Lieber, in demselben Augenblick, wo man dich von der Behörde verfolgen will?« sprach Dora rasch. »Von der Behörde? Wer hat denn einen Anlaß dazu?«

»Es genügt, daß du bei der Verbrennung der Bücher auf dem Watenberge dabei warst. Man munkelt sogar, daß du dabei eine Ansprache gehalten hast!«

»Ach, Dora, davon ist kein Wort wahr. Es mögen höchstens im Übermut ein paar lustige Worte gefallen sein. Also mit Späherei will man jetzt den Burschen zu Leibe gehen! Nun, da bin ich ja bei meinem Fürsten gut aufgehoben und hoffentlich von jedem Verdacht gereinigt. Denn dieser geistig bedeutende Mann schenkt mir sein volles Vertrauen.«

»Ach ja, gewiß, mein Lieber, wenn nur keine Quertreibereien dazwischen kommen,« antwortete Dora besorgt. »Ich werde sofort meinen Vater bitten, daß er auf der Stelle ein ausführliches Schreiben über diese Verdächtigungen an die Regierung einreicht. Er hat immerhin unter den Gelehrten einen gewissen Ruf. Oder ich werde an den Minister von Goethe eine Denkschrift richten. Dieser weitsichtige Mann kann doch solche Seuchen der Verdächtigungen nicht dulden. Es ist mir ja ein entsetzlicher Gedanke, daß man auf einen bloßen Verdacht hin dein Leben verpfuschen könnte durch jahrelange Kerkerhaft! Scheußlich, lieber Freund! Ich bin imstande, so 'nem Denunzianten eine Kugel in den Kopf zu schießen, wenn er dich in deiner ernsten Gelehrtenarbeit auch nur im leisesten antastet!«

Mit zärtlich ausholender Bewegung legte der lange Bibliothekar seinen Arm um die schlanke Freundin und sprach unendlich gütig:

»Liebste Dora, nun sag mir doch einmal in dieser Stunde aufrichtig, wie es ja deiner geraden Natur entspricht: Bist du mit deinen Gedanken eigentlich noch bei dem Verstorbenen? Verzeih diese unpassende Frage, ich will dich wirklich nicht verletzen, aber es lastet ein wenig auf mir –«

Dora sah ihn tief und innig an, schmiegte sich an seine Brust und sagte rasch und leise: »Liebster Freund, ich war eigentlich schon lange auf diese Frage gefaßt. Nun ich dir antworte, ist es mir ein heiliger Augenblick. Von ganzem Herzen sage ich dir aus aufrichtigem Herzen: nein, Liebster, mein Wesen ist nur bei dir. Liebster Freund, ich – verzeih mir – ich liebe dich leidenschaftlich, ich möchte geradezu sterben, wenn ich nicht bei dir sein darf.«

Und plötzlich schlang sie beide Arme um Petersens Hals und bebte vor tiefer Erregung. Der Freund spürte, wie sie leidenschaftlichster Liebe fähig war und durchaus nicht die gehaltene Natur, die er in ihr vermutet hatte. Sie hing an seinem Hals und wollte sich von seinen Küssen gar nicht trennen. »Liebster,« flüsterte sie hastig, »wir werden unser Schicksal gemeinsam erleiden, was uns auch beschieden sei. Ich bin so überglücklich, daß ich dich lieben darf – und daß ich zu dir ein so grenzenloses Vertrauen habe.«

Sie standen Mund an Mund; und den Bibliothekar überbrauste das Glück mit solcher Gewalt, daß er fast betäubt war.

Ilses nahe Kinderstimme schreckte sie in die Wirklichkeit zurück. Und dann traten sie zwischen den roten Früchten der späten Herbstbüsche langsam wieder in die Welt der Menschen, beide bereit, den Kampf mit dem auferlegten Schicksal willig und liebend gemeinsam aufzunehmen.

»Werdet groß, ihr Deutschen, was auch in der Welt geschehe!« sprach Schattenmann, als er die Verlobten segnete. »Der Deutsche ist wahrhaft groß, wenn er seine vielen Träume oder Pläne zusammenfaßt zur genialen Tat. Seht, Kinder, ich scheine zwar seit Jahren ein Sterbender, bin aber in den Tiefen immer lebendig, denn ich warte immer auf das Große, auf die Erfüllung, die denn doch schließlich der Sinn des Daseins ist. Und so sind wir wahrhaft in unsrer Wesensart, wenn wir im schaffenden Wartezustand sind – im tätigen Harren und Hoffen! Es gibt keinen Tod, meine Freunde, es ist alles nur Übergang!«


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