Friedrich Lienhard
Das Landhaus bei Eisenach
Friedrich Lienhard

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Drittes Kapitel. Der Bibliothekar

Als Ulrich einige Tage darauf wieder in seiner Universitätsstadt war, überlegte er hin und her, wem er wohl im Falle Gangolf dieses aufregende Erlebnis anvertrauen könnte. Die Sache hatte ihn ebenso erschüttert wie seine Angehörigen. Er hatte bisher unter dem Einfluß und Banne des lebensvollen Burschen gestanden. Nun mußte er das abschütteln und selber gehen lernen, mit solcher Enttäuschung im Herzen. Wen konnte man um Rat fragen? Einen Kommilitonen? Nein, die waren selber zu unreif. Einen seiner Hochschullehrer? Nein, diese persönliche Sache gehörte nicht vor ihr Forum. Aber – der Gedanke schoß ihm plötzlich in den Kopf, und er wunderte sich, daß er ihn nicht früher gedacht – vielleicht den Stadtbibliothekar Dr. Wolf Petersen, einen alten Herrn seiner Verbindung, mit dem er sich befreundet fühlte?

H. A. Riemann

Gedacht, getan! Dieser Einsiedler, ein langer, ungelenker Gelehrter, hatte ja damals, gerade als Gangolf in Eisenach war, Ulrichs Familie einen kurzen Tag besucht und war sofort wieder abgereist. Er hatte eine einzige Leidenschaft: das Wandern. Diesem Drange folgte er sehr ergiebig. Und daneben liebte er seine Bücher und seine langen Pfeifen. Vielleicht aus dem Bedürfnis heraus, nicht zu sehr Stubenhocker zu werden, erging sich der Eigenbrötler oft mutterseelenallein weitum in Wald und Flur; und es kam ihm nicht darauf an, auch einmal in einer Höhle oder im Freien zu übernachten, zumal da er mit bald vierzig Jahren noch unvermählt und nicht verwöhnt war. Sein ungeselliges Wesen ließ ihn stolz und spröde scheinen. Die Kneipe seiner Landsmannschaft besuchte er fast nie; es erregte Aufsehen, wenn er abends einmal eintrat, um etwa eine neueste politische Nachricht zu verkünden, kurz zu besprechen und ebenso rasch wieder zu verduften. Für Ulrich hatte er eine besondere Vorliebe.

Dr. Wolfgang Petersen saß auf seinem Zimmer vor einem seiner Lieblingsbücher, vor den Dichtungen der Äbtissin Roswitha von Gandersheim. Er beschäftigte sich besonders mit der lateinischen Dichtung des Mittelalters, war aber auch in klassischer Philologie und Geschichte beschlagen. Die Stube war über und über mit Büchergestellen umrahmt; und an dem einzig freien Wandfleck hingen Pfeifen von verschiedener Größe. Er saß rauchend vor seinem Codex; und der Besucher mußte sich erst durch eine dicke Rauchwolke hindurchfinden.

Die lange Don-Quixote-Gestalt erhob sich und begrüßte den jungen Kommilitonen mit großer Herzlichkeit. »Salve, Carissime!« rief er mit seiner vollen Baßstimme. »Siehe da, ein lebendiger Mensch! Wagst du dich in meinen Rauch und ins lateinische Mittelalter, Uli?«

Er schüttelte dem Freund die Hand, wobei sein kriegerischer Haarbusch mitbebte. Petersen trug beim Lesen eine Brille; er hatte einen etwas verwilderten blonden Krausbart, so daß der Hüne im ersten Augenblick fast unheimlich wirkte. Aber seine blauen Augen blickten unendlich gütig, als er sich nun durch so angenehmen Besuch überrascht sah.

»Zurück aus der Heimat, liebster Ulrich? Wie geht's deinem werten Vater?«

»So schlecht und recht wie immer.«

»Ein unendlich gelehrter Mann! Und in so zerbrechlichem Körper gefangen! Es ist der Geist, der sich den Körper baut, sagt zwar unser Schiller, aber in diesem Falle kann man von einem Kampfverhältnis zwischen Körper und Geist sprechen. Ich erinnere mich mit Vergnügen an den Tag in eurem Hause.«

»So? Nach deiner auffallend raschen Wiederabreise zu schließen, schien es dir bei uns nicht sehr zu gefallen. Es ist uns aufgefallen, daß du so ungewöhnlich schnell wieder verschwandest. Warum denn eigentlich? Vater besonders hat es lebhaft bedauert. Er erhält so wenig gelehrten Besuch und konnte sich über deinen schnellen Abschied gar nicht beruhigen.«

»Nun,« sagte der Gelehrte zögernd und strich sich durch den wirren Bart, »ihr hattet ja schon Besuch – –«

»Was schadete das? Wenn etwa der Raum nicht reichte – wir haben gute Nachbarn genug. Und er hätte gereicht.«

»Nein, nein,« winkte Petersen ab. »Es sollte nicht sein. Genug davon!«

»Warum nicht?« beharrte Ulrich. »Du verschweigst mir etwas! Es war also doch etwas, was dir bei uns mißfiel?«

»Ach, das hat weiter nichts auf sich.«

»Doch, es hat allerdings etwas auf sich. Und diesen Grund möcht' ich eben gern wissen.«

»Man trägt seine kleinen und großen Verdrießlichkeiten gern allein, verstehst du, Uli. Euer Haus – ein echt teutsches Haus! Mir ist es im übrigen nicht gegeben, jemanden in mein Inneres sehen zu lassen, so lieb ich dich auch habe.«

»Also: es liegt etwas vor liebes Langbein!« sagte Ulrich und nannte den Freund bei seinem Kneipnamen, indem er ihm mit der Hand auf das Knie schlug. »Du verbirgst mir etwas! Sind wir Freunde? Ich habe dich bisher für meinen Freund gehalten, wenn ich dich auch in deiner Einspännerklause wenig behelligte; ich hielt dich immer für einen außerordentlich wahrhaftigen Menschen.«

Petersen senkte den Blick und schwieg, eifrig Dampf aus seiner holländischen Pfeife stoßend. Endlich sah er Ulrich offen an.

»Wenn du mir denn so kommst, mein braver Uli – nun, so will ich nicht hinterm Busch halten. Aber, Junge, du bewahrst Stillschweigen! Nämlich – offen gestanden – der Gast, der damals bei euch im Hause war, der Kandidat Gangolf – offen gestanden – gefiel mir nicht, hat mir nie gefallen. Der Henker mag wissen, wie dieser Raufbold und Saufbold Senior der Verbindung wurde und gerade in euer Haus kam! Darum bin ich ausgerissen, Uli, einzig darum!«

Er lehnte sich zurück und führte die Pfeife wieder zum Mund.

»Aha!« rief Ulrich und schlug auf sein eigenes Knie. »Da haben wir's! Hinc illae lacrimae! Und um eben dieses – Kerls willen komm' ich zu dir und will deinen Rat hören.«

Er erzählte in seiner bedächtig ausholenden Art genau den Vorfall und deutete auch das Gespräch mit der Schwester über Babette an. Petersen lauschte gespannt, vergaß darüber das Rauchen und erhob sich, als Ulrich aufhörte, um mit langen Schritten schweigend im engen Zimmer auf und ab zu wandern, wobei er beträchtlich hinkte, da seine Wunde von Ligny wieder schmerzte.

»Also doch!« sprach er endlich. »Also doch!«

»Was sagst du dazu, Langer?« schloß Ulrich.

Der Büchereiverwalter setzte sich wieder, schaute durch seine Brille scharf und lang den Freund an und ergriff dessen Hand. »Lieber Uli, ich bin in diesem Falle zu sehr Partei und würde heftig werden, maßlos heftig, wenn ich auch nur ein Wort schnaufen würde. Um dir's offen zu gestehen: deine Schwester Dorothea hat mir einen außerordentlich – wie soll ich sagen – vornehmen Eindruck gemacht. Du weißt, ich laufe den Unterröcken nicht nach; drüben wohnt meine Mutter – und damit gut. Mich hat meine Wissenschaft in den Klauen. Aber deine Schwester – eine Königin! Nun gut, als ich nun diesen Gangolf dort Hahn im Korbe und das Feld beherrschen sah, überlief es mich ingrimmig – und ich hab' sofort mein Ränzel geschnürt. Laß uns also nicht wieder auf diese Sache zurückkommen! Mich grinst da das Laster des dumpfen Zeitalters an.«

Ulrich saß staunend. Hier also steckte der Grund, warum dieser stille, wunderliche Mensch so rasch aus seinem Vaterhause entflohen war!

Petersen aber war in Feuer gekommen und fuhr fort: »Habt ihr denn noch immer kein Gefühl dafür, ihr jungen Burschen, worum es jetzt in Deutschland geht? Ich habe die Franzosenzeit in Berlin miterlebt; habt ihr eine Ahnung, was für schändliche Dinge diese Seelenmörder dort trieben? Da war kein junger Stiefelputzer vor ihren Lüsten sicher. Schüler lockten sie in ihre Militärställe, um schamlosen Handlungen zuzuschauen. Und wieviel Knaben lungerten überall herum und führten ihnen Dirnen zu! An diesem Lottertreiben habe ich meinen Franzosenhaß genährt. Unser Freiheitskampf war ein sittlicher Kampf. Mit meinem blutjungen Freund Dürre, einem echt teutschen Jüngling, bin ich bei den Lützowern eingetreten und habe den ganzen Feldzug mitgemacht, immer in dem Bewußtsein, ich kämpfe für eine heilige Sache. Wir müssen unser Land reinigen von der Franzosenpest. Denn das sind Räuber und Lüstlinge – und schleppten den ganzen Gestank und Unrat der französischen Revolution in unser Land. Himmel und Hölle! Nun kommt solch ein Lump und bringt die Seuche der Gemeinheit in euer Haus?! Ich bin stolz darauf, daß mich echt teutsche und große Männer wie Arndt und Stein und Lützow oder Jahn ihres Umganges würdigten – und ich soll mich mit diesem unzüchtigen, geilen Hund an eine Bierbank setzen?!«

Er war in teutonischen Zorn geraten und donnerte die Worte derart heftig heraus, daß seinem Besucher die Ohren gellten. Jetzt war der Büchermann aufgezogen, jetzt war er im Schwung; sein Inneres brauste wie eine Windsbraut; und dieses Innere war eine Heldenwelt, Ulrich brauchte nur zu lauschen; die Erinnerungen an den Krieg durchwogten Petersen – und unmittelbar hinterher die Enttäuschungen der Reaktion.

»Ich habe sie gekannt, die großen Männer, die jetzt keinen Einfluß mehr haben im erbärmlichen Deutschland. Schon bei Leipzig fing es an. O, ich weiß wohl, wie Gneisenau verbittert war, als unser König, der preußische König, kein Wort für ihn hatte nach all diesen Siegen und Heldentaten. Übergang über die Elbe, Möckern und all die grauenhaften Kämpfe von Dennewitz bis Leipzig – dazu mit ungeschulten Landwehrmännern und Freiwilligen – wer macht uns Deutschen das nach?! Und jetzt? Überall tuschelt und wispert der Argwohn, wir Kämpfer aus den Freiheitsschlachten wären Revolutionäre und müßten geduckt werden. Nur ja keine freiheitlichen Zugeständnisse! Nur hübsch Volk und Jugend am Schürzenbändel halten! Wohin ist der Schwung? Wohin die schöpferische Kraft? Begraben im Wiener Kongreß! Schlugen wir dazu die mörderischen Schlachten, damit der reaktionäre Metternich aus den Strudeln auftauche und mit seinen Trabanten Europa wieder versaue?!«

»Jawohl, mein Lieber!« fuhr er in herausforderndem Schnauben fort, »man muß den Mut haben, der Tragik des Daseins stracks ins Gesicht zu schauen! Dein Vater hat recht! Das tun die wenigsten Sterblichen, obschon sie doch wissen, daß sie alle ohne Ausnahme zum Tode verurteilt sind – alle, von Geburt an. Eure Thüringer Landgrafen hatten den Löwen im Wappen. Ein Löwe muß immerdar in unserem Wappen sein: Mut, mein Junge, Mut. Wir sind hienieden kein Keglerklub, sondern auf einem Schlachtfeld. Wir bluten aus stillen Wunden, machen aber nicht viel Wesens davon. Solcher Kampf adelt und ist ein fördernder Spannungszustand. Verstanden, Uli? Das Leben ist eine kalte Frostnacht, an einem Lagerfeuer durchwacht, während der Feind in der Nähe lauert, der Tod. Weiß solch ein Genüßling etwas vom Sinn des Daseins? Nichts weiß er! Darum stirbt er den Strohtod, denn er fault schon bei lebendigem Leibe. – Und jetzt geh, mein Uli! Ich reise morgen früh einige Tage nach dem Kyffhäuser und will mir durch diesen Lüstling oder Scheinmenschen nicht meine Stimmung verderben lassen.«

Er verabschiedete sich plötzlich mit festem Händedruck, und Uli sah sich vor die Türe gesetzt, ehe er recht zur Besinnung gekommen war. »Übrigens, Uli,« rief der Bibliothekar noch dem Abgehenden nach, »hab' ich nie eine schlechte Klinge geführt, hab' mich täglich im Fechten vervollkommnet und hoffe den stärksten Raufer abzuführen.« Und mit hocherhobenem rechten Arm führte er einige wilde Bewegungen aus, ehe er wieder in seine Stube hinkte.

Gedankenvoll schritt Ulrich in den leise rieselnden Abendregen hinaus. Es war ihm, als hätte er heute zum ersten Male seinen Freund erlebt, als hätte er überhaupt jetzt erst einen Blick geworfen in dessen stürmische Innenwelt. Was für ein Feuer steckte in diesem Einsiedler! Wo waren denn bisher diese Kräfte? Hatte der rohe Gangolf bei jenem Besuch zu Eisenach, ohne es zu ahnen, auch in dieses Leben eingegriffen?


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