Friedrich Lienhard
Das Landhaus bei Eisenach
Friedrich Lienhard

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Zehntes Kapitel. Spazierfahrt mit Goethe.

Die steilen Berge um Jena standen im klaren Spätsommerlicht. Die Ebereschen hatten sich bereits mit ihren roten Früchten behängt. Es war ein ruhig-heiterer Tag.

Seine Exzellenz, der Minister von Goethe, fuhr mit einem Gast aus Preußen in der bekannten Kutsche mit den beiden Schimmeln durch die Umgebung des geliebten Städtchens spazieren. Der Gast, ein preußischer Staatsrat, versuchte mehrfach ein Gespräch über die Lage der gegenwärtigen Politik anzuknüpfen; aber Goethe, den die Mineralogie der umgebenden kahlen Berge, die Wolkenbildungen und ganz besonders seine Farbenlehre weit unterhaltsamer schienen, lenkte immer wieder ab. Endlich aber ließ sich der Staatsrat nicht länger zurückhalten.

»Es ist uns zu Ohren gekommen, Ew. Exzellenz, daß in der Studentenschaft, besonders hier in Jena, ein etwas allzu freiheitlicher Geist herrsche, der für die ruhige Entwicklung der Staaten eine Gefahr bildet. Wie denken Ew. Exzellenz über diese beunruhigende Erscheinung?«

»Nun, Herr Staatsrat, wir beiden, die wir uns in reifen Jahren befinden, dürften darin einig sein, daß nur durch besonnene Entwicklung die Dinge eines Staatswesens vorteilhaft gelenkt werden,« sprach Goethe nachdenklich. »Aber ich muß Ihnen offen bekennen, daß mir die Fortsetzung unseres Gespräches über die Farbenlehre eine weit angenehmere Unterhaltung wäre.«

»Mir auch,« erwiderte der Staatsrat, »aber Ew. Exzellenz sind vielseitig genug, um auch über die angedeutete Besorgnis mir einen wertvollen Rat erteilen zu können. Es ist mir sogar zu Ohren gekommen, daß die hiesige Burschenschaft noch in diesem Jahre auf der Wartburg eine große Zusammenkunft plant, die immerhin eine politische Aussprache, um nicht zu sagen eine Art von Verschwörung bezweckt. Wir neigen in Preußen zu der Auffassung, daß unter allen Übeln, die heute Deutschland verheeren, sogar die Lizenz der Presse nicht ausgenommen, dieser Burschen-Unfug das größte, dringendste und drohendste ist. Und hier meine ich, man müßte erwägen, ob nicht der Großherzog von Weimar-Eisenach ein Machtwort sprechen oder mindestens durch Maßnahmen dafür sorgen müßte, daß die Bewegung in ruhigen Bahnen bleibt.«

»Es ist Ihnen nicht ganz unbekannt, Herr Staatsrat,« war Goethes zögernde Antwort, »daß der Fürst von Weimar samt seiner Regierung freiheitlichen Bestrebungen nicht unzugänglich ist. Ich glaube kaum, daß persönliche Bemühungen bei ihm in dieser Hinsicht erfolgreich wären. Im übrigen stimme ich mit Ihnen überein, daß die politische Erhebung des Volkes und besonders der schwärmerisch ergriffenen Jugend allerdings Grund zur Beängstigung geben könnte, sofern der Freiheitsdrang, der sich in den sogenannten Freiheitskriegen bekundet hat, nicht nur zur ruhigen Fortentwicklung, sondern zu gewaltsamen Vorgängen Anlaß geben könnte, gleichsam als ein Nachholen der französischen Revolution. Die Leute haben ein Genie wie Napoleon geschlagen, den man als den Geist der französischen Revolution ansprechen könnte, und glauben nun, auch die französische Revolution selber übertrumpfen zu können. Auch ich habe da allerlei Anzügliches zugetragen bekommen, z. B. über einen gewissen Follen, der ungescheut nach Jacobinerart den Tyrannenmord predigt und auf die ihm anhängende Jugend von sehr unheilvollem Einfluß sein soll. Gewaltsame Eingriffe in die natürliche Entwicklung sind auch mir ganz und gar verhaßt.«

»Ich freue mich, Ew. Exzellenz auf meinem Standpunkt zu finden,« sprach der Staatsrat. »Das Volk ist allenfalls zum Schlagen da, wie in den großen Schlachten; aber es ist nicht zum Raten zu gebrauchen. Die höhere Einsicht der mit allerhöchstem Zutrauen beehrten Staatsdiener muß alles leiten. Da ist der Ruf nach schrankenloser Freiheit vom Übel. Hierin erblicke ich das Grundböse, da es immer Kampf gegen Recht und Ordnung anstrebt.«

Beide Männer schienen zusammen zu stimmen, und doch blieb ein verdeckter, aber vollgewichtiger Unterschied in ihren Anschauungen: Der preußische Staatsrat betrachtete die Dinge von der Höhe des Beamten herab, wo man nur Gehorsam gegen höhere Befehle kennt, Goethe aber von der Höhe des Weisen, der als ruhig Besitzender die organische Entwicklung läßlich überschaut und sich des Genusses freut. Daß die großen Begebenheiten der letzten Jahre ganz neue Anforderungen notwendig hervorgerufen, daß bisher unbekannte Gefühle bürgerlicher Freiheit und Selbständigkeit zum Leben erwacht waren, das wollten beide nicht eingestehen, weil sie die Folgen derselben fürchteten. Doch der weitschauende Dichter hatte hiervon eine Ahnung. Er sprach nach einer kleinen Pause:

»Sie müssen bedenken, Herr Staatsrat, daß ich zur Zeit, als ich den »Götz« schrieb, oder Schiller als Dichter der »Räuber«, auch ein anderer war als heute. Ich glaube nicht, daß es für uns ältere Burschen die Pflicht ist, dem Freiheitsdrang der Jugend in die Zügel zu fallen; es scheint mir vielmehr unsere freilich etwas unbequemere Aufgabe zu sein, die geheime Leitung solcher Brauseköpfe zu übernehmen, damit sie die Richtung zum Guten und Heilvollen innehalten. Vermutlich wird sich auch der Großherzog nach dieser Seite entscheiden. Und wenn wirklich, wie Sie soeben sagen, eine Zusammenkunft auf der Wartburg geplant ist, so wird der Fürst gewiß nicht seine Erlaubnis versagen, vorausgesetzt, daß die Studentenschaft sich von wilder Unbotmäßigkeit fernhält. – Aber lassen Sie uns lieber zu unserem Gedankenaustausch über psychologische Gesichts- und Farbenerscheinungen zurückkehren.«

Während dieser Unterhaltung war die gemächliche Equipage dem Berge näher gekommen, den man die »Goethe-Ruhe« nannte. Da deutete der greise Dichter auf einen einsamen Spaziergänger, der sich von der Höhe her dem Wagen näherte. »Sehen Sie, da wandert ja ein einsamer Student! Wohlan, laßt uns den jungen Mann heranrufen und ihn auf Herz und Nieren prüfen!«

Er gab dem Kutscher ein Zeichen, dieser hielt an; und der Dichter winkte den ehrerbietig grüßenden Studenten herbei, der nun im Turnergewand am Wegrande stand und die schwarz-rot-goldene Burschenschaftermütze in der Hand hielt.

»Bedecken Sie sich,« sprach Goethe. »Sie kommen vom Turnplatz?«

Auf des Burschen bejahende Antwort erwiderte er:

»Die Turnerei halte ich wert; denn sie stärkt und erfrischt nicht nur den jugendlichen Körper, sondern ermutigt und kräftigt Seele und Geist gegen Verweichlichung. Darf ich übrigens nach Ihrem Namen fragen?«

»Krummacher, Ew. Exzellenz,« antwortete der Jüngling, der den berühmten Mann sofort erkannt hatte.

»Nun, dieser Name ist mir nicht unbekannt. Ist vielleicht der Verfasser der Parabeln mit Ihnen verwandt?«

»Derselbe ist mein Vater, Ew. Exzellenz.«

»Ei, das freut mich. Diese tiefen Dichtungen sind nach Inhalt und Form klassisch. Was studieren Sie?«

»Theologie, Exzellenz.«

»Ein sehr ernster Lebensberuf. Sie kennen ja wohl Herders Worte: Wie schwer ist es doch, daß ein Theologe in das Reich Gottes eingehe! – Gefällt es Ihnen denn hier in Jena?«

»Natur und Wissenschaft bieten vieles; aber auch unsere Verbindung, die Burschenschaft, die von einem patriotisch-sittlichen Geist durchweht ist.«

»Darüber haben wir uns soeben unterhalten. Sagen Sie mir einmal offen, junger Freund: Herrschen in Ihrer Burschenschaft nicht auch extreme Richtungen?«

Der Student schaute freimütig vom Minister und Dichter zum preußischen Staatsrat. Dann sprach er fest und ruhig: »Solcher Überschwang mag bei Einzelnen vorkommen; aber ich glaube, Ew. Exzellenz versichern zu dürfen, daß sie keinen Einfluß auf die Haltung des Ganzen und durchaus keine gefährliche Tendenz aufweisen.«

Der Greis wandte den bedeutenden Kopf zu seinem Begleiter und nickte dem stumm und gemessen sitzenden Staatsrat zu. Dann wandte er sich nochmals an den Studenten, wies mit einer weitausholenden Handbewegung in die Runde und sprach: »Daß Ihnen dieses herrliche Landschaftsbild gefällt, hat meinen Beifall. Schauen Sie nur dieses Panorama an, welches von unserem Hügel sich als ein harmonisches Ganzes darstellt: dort im Tal die Stadt mit der Saale, rings von Bergen umgeben, und südwärts die Burg, romantisch hervorragend. Sie tun sehr wohl daran, wenn Sie sich neben der Wissenschaft auch der Natur erfreuen. Und wenn Sie Ihrem Vater schreiben, junger Mann, so bitte ich, auch von mir hochachtungsvoll zu grüßen.«

Der Bursche verneigte sich tief und sprach: »Das wird meinem Vater ein außerordentlich wertvoller Gruß sein, für den auch ich Ew. Exzellenz herzlich danke.«

Goethe reichte ihm die Hand aus dem Wagen; und es war ein schöner Anblick, wie der Greis mit wohlwollendem Lächeln auf den frischen Jüngling schaute; dann sprach er abschließend: »Ich wünsche Ihren Studien einen recht schönen Erfolg,« wobei er die Schirmmütze zog. Die Schimmel setzten sich wieder in gemächlichen Trab, der Staatsrat zog höflich und kühl seinen Hut, und das Gefährt entschwand. »Nun, mein lieber Herr Staatsrat,« sprach Goethe, als sie wieder allein waren. »Haben Sie sich dieses jugendfrische Gesicht ordentlich angesehen? Halten Sie diese Jugend für gefährlich?«

Und ohne eine Antwort abzuwarten, schloß er: »Ich meinerseits nicht. Vielmehr freue ich mich ihrer von Herzen.«


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