Friedrich Lienhard
Das Landhaus bei Eisenach
Friedrich Lienhard

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Siebentes Kapitel. Jahn.

Darf ich denn meinen Ohren trauen? Friedrich Ludwig Jahn? Der große, herrliche Jahn kehrt in meinem Hause ein?!«

Da stand er tatsächlich in der Stubentüre, von Dorothea eingeführt, von der Wartburg herunterkommend, der breitschultrige, vollbärtige Mann mit der bedeutenden kahlen Stirn. Und es zog so viel frische Luft mit ihm ein, daß es das Stübchen und des sonst kränkelnden, jetzt aber aufjubelnden Hausherrn Brust fast zu sprengen drohte.

»Vater Jahn, laßt Euch die Hände schütteln, soweit meine fast gelähmte Rechte noch zu drücken vermag! Welche Ehre ist meinem Hause widerfahren! Dies ist meines Lebens allerschönster Tag!«

Professor Schattenmann war außer sich vor Freude. Jahn selber beugte sich etwas zu ihm nieder und sprach unter der Überraschung, sich so freudig begrüßt zu sehen, mit etwas gekünstelter Fistelstimme die höflichsten Redensarten, so daß seine Vollnatur noch nicht herausbrach. Er sei auf der Durchreise, er wolle nur von einem früheren Schüler Schattenmanns einen dankbaren Gruß ausrichten, hatte aber auch schon ohnedies von dem braven deutschen Mann vernommen – und dergleichen mehr, bis man sich beiderseits etwas beruhigt hatte. Und auf einmal, als sie Platz genommen, waren sie auch schon mitten im Gespräch, während die Wartburg im flimmernden Abendlicht heruntersah. Und da entfaltete sich rasch Jahns eigentliche groß angelegte Natur.

»Junge Freunde haben mir einen großartigen Plan entwickelt« sprach er. »Er ist noch nicht fest umrissen, er kann die Knospe noch nicht sprengen, kann noch nicht durch den Götzendienst des Auslandes hindurch. Die teutschen Burschen – das kommt vom altfränkischen Wort Bursen, das sind die auf Kosten des Königs Lernenden, die aus der Burse bezahlt werden. Die Burschen, als der reine und volle Ausbruch des Freiseins, müssen sich in ihrer Jugendblüte zusammentun, und nach dem einen großen Ziele streben, das allen teutschen Männern gemeinsam ist: in brüderlichem Sinn ein Ganzes zu bilden, so wie die Vollausgereiften einen Staat bilden sollten. Da müssen all die kleinlichen und sündhaften Zwecke der Kränzchen, Orden, Landsmannschaften und wie die verzettelten Gemächte alle heißen, verschwinden und dem großen Gedanken der Freiheit, Einheit und Selbständigkeit des Vaterlandes weichen. Die Burschenschaft ist ein Anfang dazu. Sie sammle aus allen Gauen und Gruppen die besten Kräfte – wohlverstanden, die besten Kräfte! Jungmänner von großen Maßen, künftige Meister, geborene Führer! Die rufe sie zusammen zu einer großen Burschentagungl Und die werde an weithin sichtbarer Stelle maßgebend für das ganze teutsche Vaterland: Ein Burschen-Bundesstaat! Und was die Jugend mannhaft vortut, das machen wir Männer nach! Da gibt's keine Unterschiede mehr zwischen Nord und Süd, zwischen Katholik und Protestant – ein Volk von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt!«

»Groß ist das. wahrhaft groß! Und was soll dies Staatsgebilde werden? Und wen wollen wir an die Spitze setzen? Einen Monarchen? Und welchen?«

Schattenmann war Feuer und Flamme. Der schöpferische Vorschlag des Besuchers hatte ihn angesteckt.

»Frage zweiten Ranges!« rief der bärtige Jahn und stülpte sein schwarzes Käppchen auf den kahlen Kopf. »Große Dinge können erst in erhöhten Stunden geboren werden, nicht im Alltag, lieber teutscher Bruder! Die Schlachten gegen Napoleon – das waren erhöhte Stunden. Man soll diese großen Stimmungen nicht ungenützt lassen, sondern schmieden, schmieden. Festlichkeit muß bleiben in Deutschland, die über alles Gemeine hinwegträgt. Aus diesem schöpferischen, gärenden, gebärenden Deutschland wird ganz von selbst die rechte Verfassung gefunden werden – obschon ich meinesteils für den Monarchen bin, nicht für einen Freistaat.«

»Recht so! Schöpferisch! Nicht in den abgelebten Schlendrian zurückfallen! Soll denn der Wiener Kongreß oder der russische Zar dieses Neue schaffen? Nicht das freie teutsche Volk aus sich heraus?«

»Da steckt es,« schmetterte der Mann im Bart. »Dieser Metternich verpufft seine Kraft, um wieder in die alte Dumpfheit des Absolutismus einzulenken. Trägt er nicht ganze Eimer voll Wasser zusammen, um das heilige Feuer der Deutschen damit zu löschen? Vaterlandsliebe heißt auf einmal Schwärmerei! Uns alte Burschen, wackerer Bruder, nennt man Schwärmer und teutonische Narren! Pfui der Schande! Und da katzbuckeln sie wieder, die Hofschranzen, nicht vor Manneswert, sondern vor Orden und Uniformen, als ob kein Weltkrieg über Europa gegangen wäre« –

»Ja, herrlicher Jahn, und alles über den Haufen gefegt hätte! Oh, wenn ich die Kraft hätte wie den Willen – ich würde wahrlich mithelfen, die Staubperücken auszulüftenl«

Der alte kranke Mann fuchtelte nervös.

»Einen Luther brauchen wir,« fuhr Jahn fort. »Man soll an seinem Reformationstag zusammenkommen und seinen Segen herabrufen, und sie sollen sein Lutherlied singen: ›Ein feste Burg ist unser Gott‹!«

»Und wann und wo soll das sein? Ich kann die hohe Stunde kaum erwarten!«

»Wo? Da oben auf der Wartburg, wackerer Freund, wo einst Junker Jörg das teutsche Neue Testament wie einen Wildbach froher Geistesfreiheit ausgegossen hat in das teutsche Volk! Da soll es sein! Allda soll man das alt-junge, ewig-junge Lied singen: ›Und wenn die Welt voll Teufel wär‹! Und soll den Gott der Freiheitsschlachten um Kraft und Segen bitten, daß ganz Deutschland zu Freiheit und Einheit erstarke!«

»Herrlich, herrlich! Gott ist mit uns, Bruder Jahn! Seitdem du in diese Stube getreten bist, ist Gott in dieser Stube. Ich bin wieder gesund, ich bin kerngesund. Weißt du, wann das geschehen muß, diese Zusammenkunft der Burschen aus ganz Deutschland? Am Jahrestag des Sieges von Leipzig! Das ist nächst der Reformation unser größter Gedenktag. Der Gedanke ist über alle Maßen groß. Der Jugend-Burschentag als Vorbild und Anregung für die Einigung aller Deutschen! O mein Freund Jahn – laß mich weinen!« – –

Er umarmte den Vollmann Jahn und drückte sein verhärmtes, abgemagertes Gesicht an dessen wallenden Wodansbart. »Geh' hin, Jahn, und verbreite dieses Evangelium in der ganzen teutschen Welt! Den Gedanken hat dir Gott gegeben!«

»Nicht mir, Bruder!« rief der Mann im Bart. »Er lebt schon unter etlichen Burschen. Da muß er geboren werden, in der sprießenden, in der schäumenden und überschäumenden schöpferischen Jugend, denn das ist teutsche Zukunft. Und der Herr dieses Hauses soll am Fenster stehen, wenn er nicht mit hinaufhumpeln kann, und soll die Choräle hören und die Schallwellen der Bläser und soll zusehen, wie die beste teutsche Jugend auf den heiligen Berg wandert. Das walte Gott, in dessen Schutz wir stehen!«

So klang und sprang das Gespräch hin und her. Dieser Besuch, der nur als kurzes Grüß-Gott gedacht war, wurde ein Festtag und goß dem vergilbten Alten, der so lange schon wartete, neuen Schwung ins Blut. Es waren zwei Stunden verflossen, ehe sich der Mann im breiten Vollbart von dem schmalbrüstigen Greis trennte.

»Du hast noch das heilige Feuer in deinem schwächlichen Gebein, Bruder Schattenmann! Sei glücklich in diesem göttlichen Besitz!«

Schattenmann sank am frühen Abend körperlich ganz erschöpft auf seine Lagerstätte, war aber seelisch so voll Glück, daß er die Gespräche der Seinen und des Alltags kaum noch hören mochte. Er hatte zwei Stunden im Himmel gelebt.


Während dieses Gespräches, das Jahn mit dem Vater führte, saß Dorothea unten im Zimmer mit Klein-Ilse, der Freundin ihrer jungen Schwester Hilde. Diese selber lag krank, in der Pflege der Mutter, dem Besuch der Blondine unzugänglich.

Es ist ein gar artiger Anblick, wenn ein sehr junges, hellblondes, kaum vierzehnjähriges Mädchen bei der älteren Freundin sitzt und ihr mit vielen verlegenen und geheimnisvoll andeutenden Umschreibungen mitteilt, daß sie liebt – nun, was man so in diesem Alter Liebe nennt. Es war ein schwärmerisch unbestimmtes Gefühl, das mit dem Wachstum zusammenhängt und Dorothea eigentlich ein wenig langweilte, denn sie hätte viel lieber oben zugehört, wo Männer miteinander Gespräche tauschten.

»Weißt du, Tante Dorchen,« plauderte Ilse mit Dorothea, die am Schreibtisch saß und eben ihr Tagebuch beendet hatte, um nun einen langen Brief an ihren Bruder Ulrich zu beginnen, »Hilde wollte eigentlich für den Studenten Gangolf schwärmen, aber ich, nein, das sag' ich dir nicht. Meinst du, daß man sich mit vierzehn Jahren schon verloben darf?«

»Nein, Ilschen, das meine ich nicht. Es scheint mir etwas zu früh.«

»Zu dumm! Wie lange soll man denn eigentlich warten?«

Ilse war ein munteres und anmutiges Mädchen, ihrer blonden Schönheit nur wenig bewußt und nicht zur Eitelkeit geneigt. Sie sah Dorothea aus blauen Augen treuherzig an, auf der Fußbank sitzend, und hatte die Arme auf ihren Schoß gelegt.

»Wie lange? Vielleicht lebenslang, Kind,« sagte Dora seufzend, indem sie über des Blondchens Haare strich; »das Warten ist unser Frauenlos. Das Verloben ist das Vorrecht der Männer. Wir müssen warten, bis einer kommt, der sich mit uns verloben will.«

»Aber warum denn? Warum können wir nicht ebenso flink zugreifen wie die Männer?«

»Weil wir nun einmal das Unglück haben, als Mädchen geboren zu sein.«

»Aber – aber – Tante Dorchen – da mach' ich nicht mit! Und wenn nun einer kommt, den ich aber nicht will? Da werd' ich immer glattweg nein sagen, immerlos glattweg nein!«

»Diese Freiheit hast du allerdings als Ausgleich und kannst dein Dickköpfchen aufsetzen.«

»Aber wenn einer kommt wie etwa – weißt du, etwa dein Bruder Uli – da« –

Sie versteckte ihr Köpfchen in Dorotheas Kleid. Ilse war aus Jena und wurde in Eisenach bei nahen Verwandten erzogen.

»Sag' einmal, Tante Dora, wenn man von einem Mann einen Kuh bekommt – ist man dann verlobt?«

»Bei deinem Alter? Nein, das denn doch wohl noch nicht. Übrigens, Ilschen, bin ich erstaunt über deine Fragen. Bist du so auf Verlobung und Küsse aus? In deinem Alter soll man spielen und toben und sein artig in der Schule lernen und sich noch nicht über solche Dinge den Kopf zerbrechen. Wer hat dir denn einen Kuß gegeben?«

Sie erwartete, von dem einen inneren Gedankengang gequält, daß auch hier die Antwort lauten würde – nun wie bei Babette; und sie atmete ordentlich auf, als Ilse andeutete, daß sie beim Pfänderspiel einen Kuß bekommen hatte von Ulrich.

»Du mußt's aber niemandem sagen, Tante Dora. Er hat mich sogar zweimal geküßt. Ich hab's nur der Mutter gesagt« –

»Na, und was sagte denn die?«

»Ach, die sagt immer, es seien Dummheiten. Das sagt sie immer, aber ich hab's in mein Tagebuch geschrieben. Das hab' ich in einem verschließbaren Fach.«

»Nun ja,« sagte Dora gelassen, »das verstecke du nur gut.«

»Aber Hilde laß' ich's lesen, und manchmal schreib' ich auch einen schönen Vers hinein, weißt du, von dem Dichter Matthisson oder von Goethe – na, oder andere.«

»Kennst du das schöne Lied, das Ernst Moritz Arndt gedichtet hat, von dem feurigen Ritt um die Welt? Siehst du, das hab' ich mir selber abgeschrieben; hör' mal zu:

Und die Sonne machte den weiten Ritt
Um die Welt;
Und die Sternlein sprachen: Wir reisen mit
Um die Welt.
Und die Sonne sie schalt sie: »Ihr bleibt zu Haus,
Denn ich brenn' euch die goldenen Äuglein aus
Bei dem feurigen Ritt um die Welt!«...

Dorothea las dem jungen Mädchen ausdrucksvoll das ganze Arndtsche Lied.

Ilse klatschte nach der letzten Strophe begeistert in die Hände. »Oh, ist das schön! Bei dem feurigen Ritt um die Welt! Das werde ich mir gleich abschreiben, ganz abschreiben. Reich mir mal ein Blatt Papier her, Tante Dorchen! Darf ich?«

Und voll Feuer für das schöne Gedicht vergaß sie Kuß- und Verlobungsgedanken, saß am Fenstersims und schrieb eifrig die Verse aus Dorotheas Album auf ein Blatt. Der Abend verbreitete seinen milden Schein im Stübchen. Dora setzte ihre Arbeit am Schreibtisch fort und beantwortete ihres Bruders Brief:

»Mein lieber Bruder!

Dein Brief über die dortigen Vorgänge hat mich geradezu in ein Fieber versetzt, und ich habe alle Mühe, hier im Alltag Haltung zu wahren und im Geplauder mit der kleinen Ilse – während Vater Jahn oben bei Papa ist! Denk Dir: Turnvater Jahn! – so zu tun, als wenn alles in Ordnung wäre. Aber meine innere Welt ist in Unordnung, ist in ärgster Not. Es ist Dir also gelungen, jenen unwürdigen Vertreter Eurer Studentenschaft abzustoßen, und zwar so, daß ich immer mit der Peitsche drohend dahinter stand?! Er ist verschwunden? Und wohin denn? Und jener Bibliothekar Petersen – ich erinnere mich seiner kaum noch, zu meiner Schande gestehe ich es, daß er etwas verwildert auf mich gewirkt hat, fast unwirsch, gar nicht besonders liebenswürdig – wie verhängnisvoll ist es doch, daß man einem tüchtigen Menschen, der doch auch Dein Freund ist, wehe tut, ohne es zu wissen! Oh, lieber Bruder, ich bin durch diese Ereignisse ganz entzwei in meinem Gemütsleben. Aber mir, da oben in Vaters Stube, geht es in großen Gesprächen über die teutschen Dinge her – und ich sitze da unten und schwatze kindisch mit einem Kinde! Hilde liegt nämlich krank und wird von Mutter gepflegt. O Frauenlos! Ach, verurteile nie ein Mädchen, wenn es auf Irrwege gerät! Es geschieht nur aus Leere und Langeweile, aus Mangel an Aufgaben; es möchte etwas erleben, am liebsten natürlich Schönes und Gutes – ach, und nimmt dann so oft mit Minderwertigem vorlieb! Siehst Du, Uli, das ist der Wert und die Bedeutung großer Männer: sie stecken die Welt um sich her in Brand, sie geben uns Aufgaben, sie heben die Umwelt ins Ungemeine. An ihrem Feuer erwärmen wir uns Herz und Hände. Liebster Bruder, mein Sehnen ging immer nach dem großen Menschen. Und wenn ich nun keinen großen Mann liebhaben darf, so möchte ich wenigstens einen Gefährten liebhaben, mit dem ich gemeinsam große Menschen aus ihren Büchern oder Kunstwerken verehren darf, einen Mann, der mir dabei hilft, daß mein Leben nicht so furchtbar unausgefüllt und öde bleibt. Ich habe eben der kleinen Ilse Arndts Lied vom feurigen Ritt um die Welt zum Abschreiben gegeben, damit sie eine stille Beschäftigung hat. Ach, Uli, der feurige Ritt um die Welt! Wer uns Gesellen der Nacht dabei mitnehmen könnte als führende Sonne – – –«

Hier wurde Dorothea durch die befriedigt aufatmende Ilse unterbrochen, die ihr Gedicht abgeschrieben hatte. Die Kleine grübelte nicht viel oder nicht lang, sie lebte dem Augenblick, blühte und war einer unbewußt wachsenden Pflanze nicht unähnlich.

»Habe ich das gut gemacht, Tante Dorchen?« rief sie und hielt mit spitzen Fingern das noch feuchte Blatt in die Höhe. »Sag einmal, Tante Dorchen, auch der Dichter Goethe in Weimar hat schöne Gedichte geschrieben, nicht wahr? Der ist doch auch ein berühmter Mann, und er ist manchmal in Jena, ich habe ihn gesehen, wie er mit dem alten Herrn von Knebel spazieren ging, und sie sehen aus wie vornehme Herren – – –-«

»Und machen doch den feurigen Ritt um die Welt mit!« sagte Dora nachdenklich, »sitzen beide in der Enge und fliegen doch ins Ewige! Siehst du, Ilschen, der Dichter Goethe wird sich auch lange genug die Flügel wund gestoßen haben, bis er in seinem Käfig Weimar stillhalten lernte und hübsch gehorsam auf dem Stübchen saß.«

Ilse guckte Dora mit großen Augen an. Sie sah dabei so süß erstaunt aus, daß ihr das ältere Mädchen einen Kuß gab.

»Bist mein süßes Ilsebillchen und machst hoffentlich dieses Schicksal nicht durch, sondern erhältst beizeiten die rechte Lebensaufgabe! Nun geh, mein kleiner Liebling!«

»Tante Dorchen, komm' doch du bitte mal mit nach Jena!« bat Ilse. »Weißt du, wenn ich wieder nach Hause reise! Wir fahren dann Schiffchen auf der Saale, wir gehen auf die Kernberge, und da sind dann die fröhlichen Studenten, und die singen manchmal bei Frommanns, wo meine Mutter auch dabei ist –«

»Topp, Ilse, ich fahre mal mit!« Dora sprang jäh auf und küßte das Kind zum Abschied. »Schreibe nun das Gedicht recht hübsch in dein Tagebuch! Auf Wiedersehen. Kleinchen!«

Und nach mancherlei Grüßen an die kranke Hilde, die sie wegen Ansteckungsgefahr nicht besuchen durfte, enteilte Ilse.

Dora war allein. Oben verabschiedete sich bald hernach auch Turnvater Jahn vom Hausherrn, der ihn bis an die Treppe begleitete, wobei sich die Hausfrau hinzugesellte; und nachdem auch diese Stimmen verklungen waren, zog die gewöhnliche Stille in das Landhaus wieder ein.

Dora war allein. Die Stille lastete auf ihrem aufgeregten Gemüt. Oh, dieses quälend belanglose Geschwätz eines Kindes! Sie ertappte sich dabei, daß sie nicht einmal Lust hatte, den Vater aufzusuchen und zu erkunden, was er mit Vater Jahn besprochen hatte. Sie machte eine Stimmung durch, die sie als Lebensgrauen empfand: als Grauen vor dem leeren, nichtigen Leben. Warum schwatzt das Kind so nichtig? Weil die Kleine noch keine Lebensaufgabe hat. Daran liegt ja alles. Auch sie, Dora, hatte keine Lebensaufgabe! ...

Die Mutter trat ein und erzählte noch lebhaft von Jahn und seiner hinreißenden Wirkung auf den Vater. Plötzlich, auf Doras Zustand aufmerksam geworden, hielt sie ein und sprach: »Nun, was hast du denn wieder, Dora? Wieder einmal Vaters Dickköpfchen? Willst mal wieder mit dem Kopf durch die Wand hinaus, weil du so herumrasest? Was ist los?«

»Lebensgrauen,« stieß Dora heraus.

Die Mutter besah das längliche gebräunte Gesicht der Tochter, deren festgeschlossene Lippen, die stattliche brünette Haarkrone, setzte sich dann in ihrer gewohnten Besinnlichkeit an den Nähtisch und sagte: »Meinst du etwa, Dorothea, ich kenne diese Stimmung nicht? Leere ist viel schlimmer als Unglück. Denn das letztere beschäftigt uns wenigstens und zwingt uns zur Gegenwehr. Siehst du, ich habe mir meine Lebensaufgabe auch ein wenig anders gedacht, als ich noch ein junges Mädchen war. Jetzt bin ich Krankenpflegerin. Aber auf meinem Nachttisch liegen meine Lieblingsbücher, die mich mit dem Ewigen verbinden, so daß ich nicht ganz und gar verdumme: neben der Bibel etwa Thomas A. Kempis' Nachfolge Christi oder Jung-Stillings Bücher. Papa hat ja seinen Schiller, Klopstock, Gellert und andere schöngeistige Männer. Nun, jeder sucht durch seine besondere Pforte Gott und sein Reich. Du wirst auch die deine suchen müssen, Dorchen.«

Plötzlich warf sich Dora vor Mutters Schoß auf den Fußboden und fing heftig zu weinen an. Und dann, von Mutter besorgt ausgefragt, zeigte sie Ulis Brief und gestand, daß sie an Gangolfs Verzweifeln und Flucht mitschuldig sei, und was an wirren und heftigen Reden mehr waren.

Die Mutter, die hier ein großes Leid ahnte, redete erschrocken und taktvoll auf die Tochter ein, ohne freilich viel zu erreichen. Und als Vaters Klingel rief, gab sie ihr rasch einen zärtlichen Kuß auf die hohe Stirne und eilte nach oben.

Dora Schattenmann schrieb den Brief an den Bruder zu Ende:

»Weißt Du denn gar nicht, Uli, wo er sein könnte? Er hat ja zwar abscheulich gehandelt, aber man sollte sich doch wenigstens vergewissern, ob er keine Not oder Schulden hinterlassen hat. Frag einmal herum, was ihn denn eigentlich fortgetrieben hat! Oh, Du ahnst nicht, wie ich diesen Menschen hasse! Alles Edle so mit Füßen zu treten! Es ist wahrlich gut, daß er fort ist. Und dann der andere, dieser Dr. Petersen – man geht in der Welt wahrlich wie in einem Labyrinth umher! Denke darüber nach, wie wir das gutmachen, Uli! Vater Jahn ist soeben wieder abgereist, der ging wie ein Feuerstreif durch unser Haus. Mutter ist wieder oben beim Vater, ich werde nun auch hinaufgehen. Übrigens habe ich vor, mit Ilse nach Jena zu reisen. Verzeih diese wirre Plauderei!«

Und indem sie grimmig den Brief versiegelte, war kein Schmerz mehr in ihrem stolzen Gesicht. »Ich will diese Dinge unter die Füße treten. Stolz sein! Nicht gemein!«


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