Friedrich Lienhard
Das Landhaus bei Eisenach
Friedrich Lienhard

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Dreizehntes Kapitel. Doras Bekenntnis.

Einige Tage später kam Doras lang ersehnter Brief. Er unterschied sich von Ilses Schreiben, wie eben ein reifes Weib, das schon vom Leben heimgesucht wurde, sich von dem unbeschwerten Geplauder eines liebevoll schwärmenden Backfisches abhebt.

Dora schrieb:

»Du wirst Dich gewundert haben, liebster Uli, daß ich Dir das Kind über eine so traurige Angelegenheit berichten ließ. Verzeih mir, liebster Uli, aber ich konnte nicht. Ich brauchte etliche Tage, um das Erlebte zu verarbeiten. Denn ich sah zum ersten Male einen Menschen sterben, ich saß am Todesbette eines jungen Mannes, der sein Leben verpfuscht hatte und nun vorzeitig hinwegmußte. Er sagte dabei zu mir, ich hätte entscheidend in sein Leben eingegriffen! Ich, Deine Schwester Dora, in sein Leben eingegriffen! Als er das sagte, war ich zu Tode bestürzt, denn er war ja anscheinend der Stärkere gewesen mit seiner unbekümmerten Sinnenlust, der ich nicht genügend entgegengetreten war, ja, deren sprühende Form der Werbung mich ein Weilchen gefesselt hatte – als ob ich ein blind-verliebter, eitler Backfisch wäre! Oh. Uli, ich schäme mich jetzt. Ich hätte diesem sinnlichen Burschen ganz anders gegenübertreten müssen. Ich hätte durch meine Gegenkräfte eine weibliche Mission zu erfüllen gehabt, um ihn aus den Niederungen emporzureißen auf die Höhen, wo das Edle und Schöne wohnt. Dazu sind ja wir Frauen berufen, nicht aber dazu, uns von den stärkeren Trieben des Mannes herabzerren zu lassen. Und wie ich nun an seinem Bette saß und ihn da liegen sah in seinem Elend, da ward mir eine erschütternde Erkenntnis bewußt. Nein, geliebt habe ich diesen Mann nicht, aber ich hätte ihn hilfreich warnen und fördern sollen. Es war ein Mitmensch in Not – und ich habe es leider nicht erkannt, zu spät erkannt. Und dieser Mann läuft mir, nach mannigfachen Irrwegen, am Ufer der Saale entgegen, um vor meinen Augen ein Kind aus dem Wasser zu retten und dabei den Tod zu finden! Dieses Kind stand im Mittelpunkt seiner Fieberphantasien. Ich weiß jetzt, warum. Das Kindlich-Reine hätte ich in ihm beleben sollen. Ich habe aber diese Aufgabe nicht einmal bemerkt, geschweige denn gelöst, sondern habe mit ihm herumgealbert, als er bei uns im Hause war, und er hat dann mit Babette weiter getändelt, nur in derberer Weise als mit mir. Er hat auf seinem Todeslager immer von den Dämonen phantasiert. Ich habe nicht die Kraft gehabt, diese Dämonen aus seinem Leben zu vertreiben, ja, sie überhaupt nur zu ahnen. Ich bin an einer Lebensaufgabe vorübergegangen. Er sah mich in seinen Phantasien immer nur mit der Peitsche in der Hand – oh, welch eine Demütigung für eine Frau! Dieses Erlebnis hat mich ganz umgeworfen, daß ich Dir schon deshalb nicht schreiben konnte. Auch mit meinen Eltern oder mit den Freunden in Jena kann ich mich darüber nicht aussprechen. Wenn Du in den nächsten Ferien heimkommst, wird mir vielleicht freier zu Mute sein.

Nun liegt er dahinten, auf seinem dörflichen Kirchhof – und ein paar Häuser davon hat soeben Babette ein totes Kind geboren!

Deine Dora.«

Hatte Ulrich Ilses Brief mit zärtlichem Wohlgefallen zweimal gelesen, so las er dieses Bekenntnis seiner stolzen Schwester wohl ein halbes Dutzend mal, um in die Seelenvorgänge einzudringen, die der Brief widerspiegelte. Jetzt erst recht hatte er das Bedürfnis, zu seinem unentbehrlichen Freund Petersen zu eilen und mit ihm dieses Trauerspiel durchzusprechen. Er hatte das Drum und Dran mit Babette bisher schamhaft nur flüchtig erwähnt; jetzt packte er auch damit aus und versetzte Petersens reine Natur in große Bestürzung.

»So also hat der Unglückselige an den Frauen gehandelt! Mädchenschänder! Sein letztes Ziel war also Verführung der Unschuld. Das habe ich immer geahnt und bin dennoch jetzt entsetzt. Da begreife ich wohl, wie sich die Horden von Dämonen um ihn geschart haben. Deine Schwester tut mir furchtbar leid. Das ist ja ein erschütternder Zustand. Sei doppelt gut zu ihr, Uli, und schreibe ihr recht eindringlich, sie dürfe sich nicht mit Selbstvorwürfen peinigen. Edlen Frauen ist der Drang zur Hilfe und zur Erlösung eingeboren. Und deine Schwester ist sehr edel, sehr vornehm. Es hat sie ganz aus der Fassung gebracht, daß sie hier eine vermeintliche oder wirkliche Frauenaufgabe verkannt hat. Ach, so gehen Menschen so oft aneinander vorüber und versäumen häufig ihre Pflicht, wo ein gutes Wort so nötig wäre. Dein Vater hat recht; ich erinnere mich noch genau, wie er zu mir sagte: ›Wir Menschen sind einander furchtbar fremd.‹ Ich habe einmal in einer Stadt gewohnt, wo kurz nach einander in meiner nächsten Nähe drei Selbstmorde stattfanden. Zwar kannte ich die Leute flüchtig, hatte jedoch keine Ahnung davon, wie es in ihrem Innern aussah. Das hat mich damals außerordentlich gedemütigt. Sei recht gut zu deiner Schwester, Uli! Du mußt sie in deinen Briefen gleichsam streicheln, damit sie wieder Menschenwärme spürt ... Übrigens sag einmal – – hältst du es für schicklich, wenn ich ihr – etwa an Gangolfs Tod anknüpfend – einen Brief schreiben würde?«

»Vielmehr ist das ein glänzender Einfall, Langbein! Tu das ja! Du wirst schon die rechten Worte finden. So entzwei habe ich meine Schwester noch nie gesehen!«


Und Petersen schrieb noch in derselben Nacht an Dorothea Schattenmann im Landhaus bei Eisenach:

»Sehr verehrtes Fräulein!

Entschuldigen Sie diesen Brief eines Ihnen fast Unbekannten. Ich habe mir von Ihrem Herrn Bruder die Erlaubnis erbeten, Ihnen schreiben zu dürfen. Sie wissen, daß ich sein Freund bin. Er war heute lange bei mir, und wir haben auch den Tod unseres Kommilitonen Gangolf und dessen erschütternde Wirkung auf Ihre Innenwelt durchgesprochen. Sie werden erstaunt sein, zu hören, daß ich dabei nicht ganz unbeteiligt war. Ich habe darüber nicht gesprochen und tue es jetzt zum ersten Male: Auf seinen Irrwegen kam Gangolf auch in die Gegend des Kyffhäusers; man vermutete, daß er nach Hamburg wandern wollte. Eines Abends geriet er in eine Höhle, wo ich nächtigen wollte. Ich hörte seine Stimme: »Barbarossa, wache auf!« – oder so ähnlich. Und ich rief, einen Störenfried oder eine Neckerei vermutend, drohend und donnernd aus der Tiefe: »Was willst du hier?« Darauf entwich er jählings, hat aber nachher in einem benachbarten Wirtshaus sein Abenteuer der Wirtin erzählt, von der ich's am Tage darauf erfahren habe. So habe ich ihn also vom Kyffhäuser vertrieben und ihn abgelenkt nach jener Gegend, wo er den Tod gefunden hat. Ob dieses Abenteuer auf seine weitere Lebensfahrt Einfluß gehabt hat, weiß ich zwar nicht gewiß, aber ich habe immerhin seinen Lebenspfad gekreuzt und in sein Schicksal eingegriffen – wie einst er in das meine. Und nun kommen auch Sie dort dazu und erleben mit, wie er das Kind gerettet hat! Ich muß Ihnen gestehen, verehrtes Fräulein, daß auch mich dieses Erlebnis erschüttert hat. Er will nach Hamburg, um ein neues Leben zu beginnen, und, am Kyffhäuser abgedrängt, läuft er seinem Schicksal in die Hände. Wahrlich, die Sprache der Symbolik ist mir noch nie in solcher Weise in die Augen gesprungen!

Nun aber, mein verehrtes Fräulein, möchte ich es wagen, Sie herzlich zu bitten: Überlassen Sie den Dahingeschiedenen seinen jenseitigen Führern und Meistern und denken Sie an sich selbst und Ihre Erdenaufgaben. Ich habe Ihren Bruder gebeten, Sie recht herzlich und fürsorglich mit Liebe zu umgeben, damit Sie wieder an das Leben glauben und Seelenwärme verspüren. Verzeihen Sie gütigst und nachsichtig, wenn auch ich, der ich Ihren Bruder als meinen besten Freund achte, mich hiermit dieser Bitte anschließe, obschon ich kein Recht dazu habe. Wir haben, Ihr Bruder und ich, den Fall gemeinsam durchgesprochen, ich fühle mich also mitbeteiligt. Und so haben diese Zeilen nur den Zweck, Ihnen etwas Ermunterndes zuzurufen, verehrtes Fräulein. Wenn Sie jenen Fall, wie Sie an Uli schreiben, als eine Niederlage betrachten, wohlan, so sammeln Sie nun Ihre Kräfte auf eine neue Ausfahrt und machen Sie künftig besser, was Sie schlecht gemacht zu haben glauben. Man wächst durch Niederlagen und lernt von ihnen. Ich glaube – vielleicht ist es nur ein täuschendes Gefühl – sogar in der kleinen Ilse Ihren Einfluß bemerkt zu haben. Auch werden Sie von den freundlichen Meistern der unsichtbaren Welt noch manche Aufgabe gestellt bekommen, die Sie zu lösen haben werden, indem Sie Ihre Mitmenschen in das Höhere hinanführen durch Austeilen von verstehender, helfender Liebe, worin auch ich den Sinn und die Erfüllung des Daseins erblicke.

Nehmen Sie mit diesen schlichten Worten vorlieb, verehrtes Fräulein, sie entsprechen wirklich einem tiefen und stark gefühlten Bedürfnis meines Herzens. Ich sehe in Ihnen einen Mitmenschen in Not, und da treibt es mich unwillkürlich, Ihnen irgend etwas Gutes zuzurufen.

Mit verehrungsvollem Gruße

Wilhelm Petersen.«

Als Dora in ihrem Zimmer saß und diesen Brief las, war ihr zu Mute, als ob sie die Hände falten und beten oder Gott danken sollte.

»Siehe, ein Mensch! Siehe, da kommt ein Mensch zu meiner einsamen, von Nacht umhüllten Seele! Gott hat mich also doch lieb, daß er mich von einem so guten Herzen besuchen läßt!«

Und sie sank händefaltend in sich zusammen, schloß die Augen und drückte den Brief innig an das Herz. Die qualvollen Empfindungen der ganzen letzten Wochen und Monate wichen einem neuen großen Glücksgefühl.


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