Friedrich Lienhard
Das Landhaus bei Eisenach
Friedrich Lienhard

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Zweites Kapitel. Ein ungezogener Brief.

Noch ahnte man damals nicht die sinnbildliche Bedeutung der Wartburg als einer deutschen Kulturstätte ersten Ranges. Es war eine verfallende Burg unter anderen Burgen, freilich prachtvoll über der Stadt Eisenach gelegen, dem Auge freien Ausblick gewährend über die malerischen Feldhügel im Norden, über die weiten Waldberge auf den anderen Seiten.

Daß aber auf der Wartburg und in Weimar Deutschlands Herz schlug, daß dort auf der vielhundertjährigen festen Burg Luther das Neue Testament verdeutscht, Elisabeth ihre Wohltaten gespendet, Wolfram den heiligen Gral gesucht, Walther von der Vogelweide gemütsdeutschen Sang geprägt hatte – dies hatte man vor hundert Jahren schier vergessen oder doch nur nebenbei vermerkt, nicht aber als deutsche Grundkräfte in sich aufgenommen. Bis durch eine mehr ahnend erfühlte als klar erkannte Tat der jugendlichen Burschenschaft die Aufmerksamkeit ganz Europas auf diese bedeutsame Stätte gelenkt wurde. Und dann kam, wenige Jahrzehnte später, Karl Alexanders Neuaufbau jener Geistesfeste ... Wir erzählen hier von einem schlichten Landhause bei Eisenach. Es steht nicht mehr in Wirklichkeit, lebt nur noch im Phantasieland. In der Gegend etwa des heutigen Bahnhofs erhob es seine schmale Vorderseite, eingerahmt von einer mehr als mannshohen festen Taxushecke, die den Garten nebst Anlagen abschloß. Nur je zwei Fenster oben und unten schauten nach Eisenach; vom ersten Stock sah man über die Häuser hinüber nach der damals noch nicht vom hohen Turm überragten Burg mit der Breitseite des Sängersaales. Oft stand der kränkelnde Besitzer des Hauses am Fenster seines Arbeitszimmers und sah die flammenden Gewitter über die Feste ziehen. Und manchmal in schwülen Nächten irrten suchende Lichter um die Burg.

»Es ist mir,« sprach dann der alternde Mann gedankenvoll zu sich selber, »als ob da oben große Dinge des Geistes geschehen wären oder noch geschehen sollten. Aber ich bin ein zerbrechlicher Geistbehälter; meine Jugendfeuer sind verglüht. Nur Verärgerung zuckt noch selten auf, verfliegt aber bald wieder. Und die heutige teutsche Jugend? Wenn ich wenigstens so viel Kraft hätte, an sie zu glauben! Du bist aber ein Schatten, armer Schattenmann!«

Er hieß Schattenmann und lebte mit seiner Familie als Professor im Ruhestand, das geistige Leben beobachtend, aber nicht mehr in die Ereignisse der Welt eingreifend. Mutter und erwachsene Tochter saßen einige Monate nach jenem sommerlichen Waldgang nähend und stickend im unteren Zimmer des Landhauses. Beide Frauen wirkten in der Tracht jenes Zeitalters – lange Röcke, freier Hals, hochgebaute Haartracht – anmutig und vornehm. Geneigt über ihre Arbeit, übten sie durch ihr bloßes Dasein in schöner, geduldiger Weiblichkeit einen wundervollen Reiz aus.

»Horch! Was geht denn da oben vor?« sagte plötzlich die Mutter und legte lauschend die Hand auf den Schoß.

Die Burschenschaft auf der Wartburg am 18. October 1817

»Ich hör' es auch schon eine Weile,« sagte die dunkeläugige Tochter und hielt gleichfalls inne. »Seitdem Vater den Brief erhalten hat, ist irgend eine Unruhe in ihn gefahren.«

»Was für ein Brief war das?«

»Nun – von dem – von dem Kandidaten, dem Gangolf.«

»Von Ulrichs Freund? Was kann ihn denn – das heißt – ich kann mir fast die Sache denken – ich meine, da muß ich wohl mal zu ihm hinaufgehen.«

Dorothea, die Tochter, griff wieder zu ihrer Stickerei, während die Mutter das Nähzeug umständlich beiseite legte.

»Ich habe die Empfindung,« sagte die Tochter, »als wäre Unheil in unser stilles Haus eingezogen, mindestens umdroht uns ein anderer Geist, seit dieser – dieser Herr Gangolf hier unser Gast war.«

Dorothea hatte die Gewohnheit, manchmal mitten im Satze wie besinnlich innezuhalten, dann aber um so rascher und fester den Schluß zu bilden. Sie war von Natur schnell und sogar heftig; doch das Erbteil der besonnenen Mutter wirkte in ihr als Gegenkraft, ohne daß sie freilich immer den Ausgleich fand. Sie saß steil und gerade, mit ihrem grundvornehmen Gesicht, mit entschieden zusammengepreßtem Mündchen vor ihrer Stickerei, ohne aufzublicken. Ihr Mund hatte die Eigentümlichkeit, beim Lachen oder Lächeln – was freilich nicht oft geschah – die beiden Oberzähne sichtbar zu machen, was wie ein weißer Schimmer über ihr Gesicht ging und äußerst reizvoll wirkte. Dann aber schloß sich das Antlitz wieder und bekundete den bei ihr üblichen gesammelten Ernst.

»Wie kommst du plötzlich zu dieser Einstellung, Dorchen? Ich habe etwas anderes von dir in Erinnerung. Erst warst du von Gangolf ganz bezaubert, dann kam lange Monate dein nachdenkliches Schweigen – und jetzt eine geradezu feindliche Stellungnahme. Was ist eigentlich geschehen? Offen gestanden, Dora, ich habe dich beobachtet – und einmal geradezu befürchtet, du würdest – nun, du würdest dich Hals über Kopf mit Gangolf – – –«

Sie brach plötzlich ab, ohne das Wort verloben auszusprechen. Denn das Dienstmädchen Babette, ein untersetztes kräftiges Landkind, war eingetreten und horchte jäh auf, als der Name Gangolf fiel. Die scharfäugige Mutter bemerkte sogar, daß sie dabei zusammenzuckte und von einer zur anderen schaute, begierig, mehr zu erfahren. Sie stellte das Kaffeegeschirr ab und deckte den runden Tisch. Babette war nicht gerade die Klügste und hatte in letzter Zeit die ehedem blühende Gesichtsfarbe verloren. Gangolf? Er war am Semester-Ende mehrere Wochen zu Besuch gewesen, ein überaus lustiger Student und ein gar hübscher Mann, wie Babette, das Bauernmädchen, immer wieder gesprächig festgestellt hatte.

Zugleich trat Ulrich, der Student, Dorotheas Bruder, mit einigen Äpfeln aus dem Garten ein. Er hatte die hochgereckte, offene Art der Schwester, deutsch in Wesen und Tracht, durch und durch Turner von Turnvater Jahns Art. In den Gesichtszügen und sogar in der Bildung der Zähne trug er das mütterliche Erbteil, was ihm gelegentlich den Kneipnamen »Hasenmäulchen« oder »Spitzmaus« einbrachte; dies verbat er sich aber, und es blieb beim geläufigen »Uli!«

»Ich habe die ersten Apfel gepflückt,« sprach er. »Wer will mit essen? Da, Babette, hast du auch einen.« Und er legte das Obst auf den Tisch.

»Ulrich, es ist mit deinem Vater irgend etwas nicht in Ordnung,« sprach die Mutter, »ich höre ihn immerzu mit harten Schritten auf- und abgehen und dabei manchmal stampfen und laut reden. Wir sollten hinaufgehen und nach ihm sehen.«

»Wohlauf denn!« sagte Ulrich, zupfte sein bescheidenes Schnurrbärtchen und strich über das langwallende braune Haar.

»Dringen wir hinauf in das Reich des Eremiten und tragen wir gesunden Sauerstoff in seine dumpfe Löwenhöhle. Wie sagt unser mannhafter Jahn? Ist ein Überwinden von Lebensüberdruß und Unmut nicht auch ein Sieg? Auf, Mutter!«

»Ja, ich komme sogleich,« sagte die Mutter rasch, ihre Sachen vollends zusammenraffend, von ihres Sohnes frischem und festem Ernst angesteckt.

Und so gingen die beiden in das obere Stockwerk hinauf.


Oben bot sich den Eintretenden ein seltsamer Anblick.

Der Tag war ein wenig neblig oder wolkenbedeckt; der hagere Professor hatte sich in seinen Schlafrock gehüllt und ein dickes Tuch um den Hals geschlungen. In dieser unkriegerischen Gewandung stand er mitten im Zimmer und machte mit einem großen Lineal Fechtausfälle gegen einen unsichtbaren Gegner. »Da, Lump! Nimm das, Schurke! Glaube ja nicht, daß du mit einem Krüppel zu tun hast!« Doch plötzlich warf er das Lineal in die Ecke. »Es geht nicht mehr! Ich bin doch ein Krüppel!« Er hinkte an seinen Lehnstuhl und warf sich seufzend hinein. »Das Fechten sitzt noch – aber ich kann nicht mehr so lange stehen. Unmöglich!«

Und sich plötzlich nach den Seinen umwendend, rief er unwillig und verdrießlich: »Was wollt ihr hier?! Hab' ich euch gerufen, um diesem unwürdigen Schauspiel zuzusehen? Zu solcher Beschämung brauch' ich keine Zuschauer!«

»Stoßdegen, Vater! Glänzend!« rief der Sohn scherzend. »Du beherrschest den Stoßkomment!«

Die Mutter blieb in der Türe stehen und rief bekümmert: »Aber, lieber Karl, bei deinem Gesundheitszustand! Du erschreckst uns ja!«

»Ich habe euch schon oft gesagt,« rief der Alte heiser, den Schweiß wischend, »wozu das Fechten erfunden ist: um den Teufel geduckt zu halten, den Schuft, den gemeinen Tiermenschen in uns allen, wenn er heraus will! Denn wir alle haben Gewürm in uns. Und in diesem Schurken dahier, der mir den Brief geschrieben, reckt das Gesindel die Fratzen heraus. Da muß man drauf hauen!«

Und er reichte der Gattin den Brief. Dann fuhr er fort, in seinem angegrauten Kinnbart krauend: »Die Sache selbst ist mir eigentlich zu dumm. Aber der Kerl, der dahinter steht! Daß dieser Frechling Gast in meinem Hause war! ... Ich hab' neulich viel an Luther denken müssen. Wunderlich genug! Luther war ein Gottesmann; er hatte dennoch den Teufel in sich, sonst hätte er ihn nicht außer sich gesehen. Aber er hielt ihn geduckt, da liegt's! Der Teufel war ihm, bei seinem Temperament, nur Anreger, Düngerboden, unterirdische Kraftquelle; er aber, mit der Stärke seines Geistes, verwandte den Satan zum Guten, so daß ihm der Höllenfürst mit seinen Kräften dienen mußte. Ich kann's nicht. Was bei mir immer oben raus will, ist ungemeisterte Hitzigkeit, keine Kraft. Das ist der Unterschied. Ich kann nicht stille sein, nicht gelassen sein, sonst könnten mich solche armselige Niederträchtigkeiten überhaupt nicht aufregen. Stille sein? Lern's, wer's kann! Wieder einmal eine Niederlage! Meine Nerven meistern mich, nicht ich die Nerven!«

Die Mutter hatte den Brief gelesen, reichte ihn nun mit der ihr eigenen, fast nüchternen Ruhe dem Sohn und sprach: »Die ganze Sache läuft also auf einen ungezogenen Brief hinaus. Denn dieser Brief ist ungezogen, um nicht zu sagen frech.«

Der Mann im Sessel fuhr in seinen halben Selbstgesprächen fort und sprach: »Ja, frech! Weiß wohl, daß ich ein alter Knochen bin, keinen Schuß Pulver wert. Außerdem bin ich rheumatisch! Dieser Mensch, der mit seiner unverschämten Gesundheit protzt, dieser aufgeschwemmte Renommist – wie heißt er denn gleich? – dem ich taktvoll, ja verschwiegen ausgeholfen habe, so daß ich's selbst meiner Frau erst nachträglich sagte – dieser Vollblüter kneift! Und hatte mir sein Ehrenwort gegeben, daß er die Sache sofort nach der Heimkehr ordnen werde! Du hast ihm neulich geschrieben, Caroline, hast ihn mit vollem Recht an die Schuld gemahnt. Und nun? Was sagst du dazu, Ulrich? Nun fragt er in dem Brief da, ob meine Frau mit meinem Wissen und Willen geschrieben habe! Denunziert also gleichsam eine teutsche Frau bei ihrem Ehemann! Erwartet sogar, daß ich meine Frau maßregeln werde! Erwartet, daß ich auf die Geldforderung verzichten werde! Behauptet, ein großer Teil der Summe sei zu Verbindungszwecken benutzt worden – – –«

»Versoffen und verbuhlt hat er sie, der Lump!« rief Ulrich zornrot und warf den Brief auf den Tisch.

»Verhöhnt meine Weltanschauung!« krächzte der Professor. »Schreibt, er hätte nicht gedacht, daß ein sogenannter Idealist überhaupt noch an solche lumpige Kröten denke – lumpige Kleinigkeit von fünfzig Talern! Versteht also unter einem Idealisten Schillerscher Prägung einen leichtsinnigen Haushalter! Verwechselt Idealismus mit Illusionismus oder Ideologie!«

Er schwieg keuchend. An diesem Punkte war er am tiefsten getroffen. Denn er schlug sich mit nicht allzu vielen Mitteln wirtschaftlich tapfer durch und bezwang das Leben nur durch meisterhafte Sparsamkeit. Daß er sich, in seinem angeborenen großherzigen Edelmut, dennoch aufgerafft hatte, dem Freunde seines Sohnes mit einer für ihn nicht unbeträchtlichen Summe auszuhelfen, und daß ihm nun solcher Undank zuteil wurde, das kränkte den alten Herrn aufs bitterste.

»Ich habe diesem Arthur Gangolf nie recht getraut,« gestand Ulrich, »war aber immer wieder bezwungen durch seine unbestreitbar guten Sitten. Nun aber werde ich aufpassen. Vielleicht gibt dieser Vorfall einen passenden Anlaß, die Verbindung von ihm und seinem Einfluß zu säubern. Ich muß mir's überlegen.«

Er hatte viel von der Besonnenheit der Mutter und pflegte nicht überstürzt zu handeln. Nachdenklich ging er wieder nach unten, während sich Gatte und Gattin weiter miteinander unterhielten.


Dorothea war nur einen Augenblick ins obere Gemach nachgekommen, hatte den Brief gelesen und sich still wieder entfernt. Sie saß nun wieder an ihrer Stickerei, während das Dienstmädchen, den Kaffeetisch deckend, das offenbare Bedürfnis bekundete, sich mit dem Fräulein zu unterhalten.

»Was is denn mit dem Herrn Professor los, Fräulein Dora?« fragte sie.

»Verstimmung,« erwiderte Dorothea kurz – und fügte plötzlich hinzu: »Du hast ja auch den Herrn Gangolf bei uns kennengelernt?«

Mit einem halben Blicke streifte sie Babette, die errötete und sofort lebhaft erwiderte: »O ja, der Student! O, das ist ein so lustiger Herr! Und ein großer, hübscher Herr!«

»Er war ja zu dir wohl immer freundlich?«

»Ach ja, er ist so gemein mit den Leuten! Wie die Burschen auf dem Dorf! Er ist ja aus unserer Gegend und – denken Sie doch, Fräulein! – er hat mich immer Landsmännin genannt! Landsmännin hat er gesagt!« Sie kicherte unendlich und wurde ungewöhnlich lebhaft. »Na, und so – wissen Sie, wie auf unserem Dorf!«

»Na, Babette, wie sind sie denn auf eurem Dorf?«

»Na so, ein bißchen dreist! Und immer hinter die Mädchens her! Ach, wenn man so am Sonntagabend vor's Dorf ging – wissen Sie, so nach dem Wald hinaus – – na, und so!«

»Sie sagen immer ›und so‹, Babette, statt mir ordentlich zu erzählen, wie denn das war?«

»Ach, Fräulein, da haben Sie ja keine Ahnung davon! Sie sitzen viel zu fromm da hier in der Stube. Die Eltern – wissen Sie, Fräulein, zu Hause darf man ja nichts davon sagen, aber die haben's auch nicht anders gemacht, wie sie jung waren.«

»Meinen Sie wirklich?«

»I natürlich! Ach, das war ja zu lustig. Wissen Sie, da waren am Wald so hohe Kornfelder, und da auf einmal liefen die Mädchen alle auseinander und lachten und kreischten, und die Burschen hinterher, und jeder nach einer anderen Richtung – aber wissen Sie, was so jedem Mädel der Schatz war – wissen Sie, mit dem sie's hielt – der fand sein Mädel schon – ach, war das lustig! Und drüber war's Nacht geworden – wenn ich so an die lustigen Sonntagabende denke – nu ja – und gerade so war der Herr Gangolf auch.«

Dora sah das einfältige Mädchen jäh von der Seite an – und ein peinlich unangenehmer Verdacht stieg mit weiblicher Hellsichtigkeit in ihr empor. Grade so?! Also derart, daß ein Mädchen darüber die Farbe verliert?!

»Du hattest im Sommer noch so blühend rote Wangen, Babette,« sprach sie langsam. »Wohin sind die geschwunden?«

»Nu ja, Fräulein, 's ist vom Magen,« erwiderte Babette verlegen und ging nach der Türe, aus der gerade der merklich verstimmte Ulrich hereinkam.

»Babette,« sprach er, »Vater und Mutter trinken oben. Bring ihnen den Tee hinauf! Papa ist etwas angegriffen, die Mutter leistet ihm Gesellschaft.«


Als Babette gegangen war, vernahm Dorothea zunächst einen abgerissenen Bericht über die Vorgänge in Vaters Zimmer. Dann begann sie zögernd ihrerseits das Gespräch. Sie saß in ihrer gewohnten aufrechten Haltung am Kaffeetisch und spielte unruhig mit einer Brotkrume. Ihr Gesicht war ausdrucksvoll und nicht leicht zu vergessen; über dem schmalen festen Mund saß eine große, kühn gebogene Nase, von dunklen Brauen flankiert; die schwarzen Augen blitzten bei rascher Rede, senkten sich aber wieder, wenn sie in besinnliches Zögern kam.

»Babette war eben dabei, mir Bekenntnisse einer schönen Seele zu eröffnen – na, ich sage dir! Mehr animalische Bekenntnisse einer sogenannten Unschuld vom Lande. Kurz, ich danke! Da kann euer Vater Jahn lange predigen von der Würde der teutschen Jungfrau. Weißt du, Ulrich, manchmal beneid' ich fast ein so naives Geschöpf. Das überläßt sich sinnenfroh seinen Trieben, denkt gar nicht über die Folgen nach oder übernimmt halt auch die Schande als eine Buße für übermütige und ausgelassene Stunden. Aber wir? Jedermann in der Welt spricht von den Lützowern und anderen Kriegsfreiwilligen. Die konnten sich entlasten und ihren angestauten Tatendrang wild und schön in Handlung umsetzen. Wir Mädchen und Frauen aber – da sitzen wir und sind zur Untätigkeit verdammt. Wenn wir wenigstens mitarbeitend teilnehmen könnten am Wirken eines bedeutenden Mannes, etwa in Form einer vornehmen Freundschaft, wie die Schlegels in Jena oder Frau von Stein oder solche Frauen in Weimar! So hab' ich mir einst mein Leben gedacht.« Plötzlich abbrechend, schwieg sie einen Augenblick und fuhr dann mit jähem Ruck fort: »Du, sag' einmal frei und teutsch heraus: was ist das eigentlich für ein Mensch, dieser Gangolf?«

»Ein unbeseelter Sinnenmensch!« sagte Ulrich heftig. »Jetzt ist's mir klar, ganz klar. Und er hält diesen ungemeisterten Geschlechts- und Sauftrieb für Kraft. Das ist sein Lebensirrtum, an dem er über kurz oder lang zerschellen wird. Er ist zwar älter als ich; aber ich durchschaue ihn jetzt, nachdem er einige Semester mich übermäßig beeinflußt, wenn nicht beherrscht hat. Ich bin nun beizeiten aufgewacht. Er ist das Gegenteil von dem, was ein wackerer teutscher Bursche sein soll. Zwar hat er nur den letzten Teil des Krieges mitgemacht, aber er tut, als ob er bei Gravelotte beinahe den Bonaparte gefangen hätte. Ein Renommistl«

»Und du hast einen solchen bedenklichen Burschen in dein Elternhaus eingeladen?«

»Dumm genug! Überdumm! Insofern bin ich allerdings an diesen Widerwärtigkeiten schuld, die nun unseren Vater ärgern.«

»Wenn's nur das wäre!«

»Aber gesteh's offen, Dorothea: warst nicht auch du anfangs von ihm begeistert? Mutter und ich glaubten sogar, du würdest dich mit ihm verloben.«

»Mit der Reitpeitsche, jawohl!« Dorothea blitzte heftig auf. »Ich bin durch diesen unverschämten Brief und noch mehr durch Babetten plötzlich hellsichtig geworden und hätte nun nicht übel Lust, deinen Gangolf öffentlich durchzupeitschen. Bei mir ist's ihm nicht geglückt, aber Babette fiel auf ihn rein, fürcht' ich. Schau dir das dumme Ding einmal genau an! Ein hübscher Mann, sagt sie immer, natürlich, und ist stolz darauf, daß sich der hübsche Zuchtbulle um sie bemüht hat. Es ist zum Zähneknirschen, Ulrich! Daß ich auf unser derbes Dienstmädchen gleichsam eifersüchtig werden muß, weil – nun – weil ich mich unversehens in den Regionen niedersten Trieblebens mit ihr begegne! O, ich kenne jetzt seine Methoden der Verführung! Er versuchte mir weißzumachen, Liebe sei ein Kampf zwischen Mann und Weib. Das liebende Weib wolle erobert werden, wolle unterliegen. Er beginnt also mit Scherz, setzt den Kampf mit wüsten Griffen fort – und das Ganze läuft auf einen Bauernspaß hinaus, wie mir Babette soeben ausgeplaudert hat. Das hat er mal nach dem Mittagessen, als er einige Glas Wein im Kopfe hatte, im Gartenhäuschen auch bei mir versucht. Was, du Hund, ein bißchen Pfarrers Tochter von Taubenheim spielen, wie in Bürgers wüster Ballade? Ha, ich bin ihm übel an die Gurgel gefahren.«

»So also steht's mit dir, Dora?« fragte Ulrich tief erstaunt. »Du hast also den Katechismus dieses Verführers aus eigener Anschauung kennengelernt?«

»Allerdings. Und leide darunter. Leide unsäglich, Ulrich. Nichts beschämender für ein Mädchen, als wenn es eine gewisse – meinetwegen Neigung einem unwerten Manne zuwirft und dann solche Enttäuschung erleben muß. Eine Jungfrau will nicht nur des Mannes Liebe, sondern noch mehr des Mannes Achtung. Aber der? Ich hasse ihn unendlich. Brunst, wo ich Inbrunst erwartete! Geilheit, statt zarter Verehrung. Kann ein Mädchen schamloser beleidigt werden? O, ich mache mir keine Mätzchen mehr vor. Mit eben dieser Brunst schlich er dann in Babettens Kammer – o, es ist fürchterlich!«

Dorothea bog das stolze Gesicht mit der hohen Haarfrisur plötzlich herab, barg es in beiden schlanken Händen und weinte grimmig.

»Armes Kind, steht es so mit dir? Ich werde dem Kerl die Fratze zu Mus zerhacken!« rief Ulrich.

»Und dann? Was ist damit gebessert?« fuhr Dorothea rasch wieder empor. »Trenne dich für immer von ihm, wirf ihn aus der Landsmannschaft hinaus! Das ist ein Raubtier. Der lehrt seine Umgebung die verderblichen Angriffskünste des Raubtiers. Oder soll ich ihn öffentlich aus eurem Kreise hinauspeitschen?«

»Nun, nun, Dorchen,« beschwichtigte Ulrich, »beflecke dich nicht mit solchen gemeinen Händeln! Das ist nichts für Frauenhände. Überlaß es uns Männern.«

»Wenn ihr Memmen seid, so müssen Jungfrauen Männer werden. Gesteht, daß ihr Angst vor ihm habt, gesteht's nur!«

»Das nicht – aber er hat Einfluß – –«

»Also Angst! Angst vor seinem Einfluß! Vielleicht auch vor seiner glänzenden Klinge! Seid ihr nicht Memmen?!«

»Aber, Dorothea – –«

Es hatte an der Haustüre geklingelt, und jetzt trat die dreizehnjährige Jüngste ein, ein großes, fröhliches Mädchen, mit ihrer ebenso schön gewachsenen blonden Freundin Ilse und erzählte sofort, ihre Freundin wäre in Jena gewesen, und ihre Basen hätten mitgestickt an einer schönen Fahne für die Studenten; und die Fahne sei rot und schwarz und noch einmal rot, und auf dem Schwarz wäre ein goldener Eichenkranz gestickt; und die Studenten hätten eine junge Eiche vom Rauhtal hereingeholt und mitten auf einen Platz gepflanzt; und die Professoren im schönen Ornat wären dabei gewesen – und so frisch-fröhlich weiter, munter unterstützt von der Freundin.

»Gut, Hilde! Wirf deinen Bücherranzen ab! Setz dich da zu Ilse!«

Jetzt kam auch die Mutter von des Vaters Zimmer herab und nahm seufzend bei den Kindern Platz.


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