Friedrich Lienhard
Das Landhaus bei Eisenach
Friedrich Lienhard

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Zwölftes Kapitel. Ilses Brief.

Gangolfs Sarg war vernagelt und vernietet auf einen Bauernwagen gestellt worden, auf dem sein alter Vater mit einem dörflichen Fuhrmann angekommen war. Nur wenige Studenten gaben dem Leichnam, der nach dem südlichen Thüringen gefahren werden sollte, das Geleit, darunter aber einige der tüchtigsten Sänger, die ihm zu Ehren ein Quartett sangen. Zum Schluß sprach der Theologie-Student Karl Sand aus Erlangen ein Gebet. So trabten die kräftigen Gäule aus der Universitätsstadt hinaus. Hatten sie die Dämonen mitgenommen, von denen der Kranke in seinen letzten Lebenstagen phantasiert hatte? Oder hatten sich diese Geister der Leidenschaft auf irgendeinen der wenigen Begleiter gestürzt, die den Wagen umstanden?

Dora bat Ilse, dem Bruder Ulrich einen recht langen Brief zu schreiben, da sie selber jetzt viel zu traurig sei. Und die Kleine entledigte sich beglückt dieser erwünschten Aufgabe, während Dora nach Eisenach zurückreiste.

»Mein lieber Uli!

Du darfst nicht erschrecken, weil ich Dir heute schreibe, denn Tante Dora ist nicht etwa krank, sondern nur so furchtbar traurig, weil nämlich Herr Gangolf gestorben ist. Sie hat ganz schrecklich geweint. So traurig habe ich sie noch nie gesehen. Sie ist doch sonst immer so tapfer. Mein lieber Uli, ich bin sehr glücklich, daß ich Dir schreiben darf. Kannst Du Dir das vorstellen, wie traurig es ist, wenn einem der liebste Freund stirbt, z. B. Du oder meine Mutter? Da würde ich auch schrecklich traurig sein und könnte mich vor Weinen gar nicht mehr fassen. Wenn ich jetzt nur daran denke, so muß ich schon weinen. Nein, ich möchte dann schon lieber selber sterben, wenn ich durch meinen Tod Dein Leben retten könnte, denn die Liebe ist stärker als der Tod. Ich bin hier in Jena geblieben, und sie ist wieder nach Eisenach heimgefahren. Mein lieber Uli, Du darfst mich nicht auslachen, aber ich habe neulich ein Gedicht gemacht, das allerdings nur aus zwei Zeilen besteht, denn ich habe nicht mehr weiter gewußt. Dieses Gedicht lautete: Denn der Mensch ist nur zu Hause, wo er sich geliebet weiß. Mein lieber Uli, es ist mir jetzt auch bewußt geworden, daß alles andere nichts ist, wenn der Mensch nicht geliebt wird. Mein lieber Uli, ich sehne mich oft so schrecklich danach, recht von Herzen geliebt zu werden. Und darum bin ich jetzt wieder gern bei der Mutter. Die Studenten waren auch so gut zu Herrn Gangolf, besonders Herr Riemann, und die Sänger haben ihm am Sarg ein Lied gesungen. Und ich durfte ihm auch einmal einen Blumenstrauß bringen, als er noch lebte. Es waren weiße Rosen. Er hat mich so freundlich angeschaut, hat aber nicht viel gesagt, und ich hatte ein wenig Angst. Und Tante Dora ist vom Dichter Goethe und von Herrn Major von Knebel auf einem Spaziergang nach Lichtenhain begleitet worden, aber ich war nicht dabei, denn Tante Dora läuft oft gern allein herum und will nicht gestört sein. Ich bin ihr wohl noch zu dumm, obschon ich am 4. September 15 Jahre alt werde. Mein lieber Uli, ich muß aber noch viel lernen; und ich will Dir noch schnell sagen, daß ich mich so schrecklich darauf freue, wenn Du wieder zu uns kommst. Ich kann es manchmal vor Heimweh fast nicht aushalten. Und nun leb wohl, mein lieber Uli!

Mit den allerherzlichsten Grüßen bin ich
Deine
getreue Ilse.«

Ulrich saß im Zwielicht am Fenster und las Ilses steile Handschrift immer wieder ganz genau. Dann steckte er den Brief, sorgfältig zusammengefaltet, in die Tasche. Also Gangolf tot! Das Gerücht hatte recht behalten, und hier nun hatte ein Kind die Mitteilung davon gemacht, ein Kind, selber ganz von Liebe erfüllt und sich unbewußt nach Liebe sehnend, in jenem jungweiblichen Zwischenzustand, der zwar noch von Mutterliebe verklärt ist, aber sich doch schon in unbestimmtem Drange nach dem geliebten Manne sehnt. Er sah im Geiste die hellblonde Ilse mit den blauen Augen vor sich und sah hinter ihr die braune, schlanke Schwester Dora, die vor Kummer nicht zu schreiben vermocht hatte. Wie ist doch das Leben ein kurzer, banger Traum, nur vom Schimmer der Liebe flüchtig aus der Ewigkeit überglänzt! Die kleine Ilse hat wahrlich recht, wenigstens die Frau ist ganz und gar auf Liebe angelegt und nur glücklich, wenn sie sich darin erfüllen kann. Der Mann freilich hat dazwischen sein Werk zu tun, das oft gar nicht mit der Liebe zusammenhängt. In unwillkürlicher Gedankenverbindung warf er die Mütze auf den Kopf, um zu seinem stillen Freund zu wandern, dem fleißigen Bibliothekar Petersen, der in diesen Tagen sein Werk über die Dichterin Roswitha und ihr Zeitalter zu vollenden gedachte.

Als er auf die Straße trat, war er noch ganz erfüllt vom liebreichen Brief der kleinen Ilse und dessen ernsten Nachrichten. Er war in einer sehr milden, fast wehmütigen Stimmung und fühlte sich allen Menschen freundlich gesinnt.

Da wurde er von einem Kommilitonen, der früher der schnell zerfallenen Burgundia angehört hatte, in ein Gespräch verknüpft.

»Hör' einmal, Uli, man munkelt allgemein, daß du an der unglückseligen Gangolf-Affäre schuldig oder doch mitschuldig bist.«

»Was soll das heißen?«

»Nun, ihr wart doch zuletzt zusammen, du und der Senior« ...

»Was folgt daraus?«

»Daß du ihm eine moralische Pauke geschwungen hast, Moralist, der du nun einmal bist!«

»Das soll wohl auf eine Rauferei hinauslaufen?«

Ein Wort gab das anders, und 24 Stunden später stand Ulrich auf dem Fechtboden, dem dicken Kunz von Tischendorf gegenüber, bis zur Unkenntlichkeit durch den Fechtanzug verhüllt. Zeugen und Sekundanten nahmen kühl und sachlich ihre Stellungen ein und lugten mit gezogenem Schläger aufmerksam auf die Paukanten. Ulrich stand, weit ausladend, vorgebogen und focht sehr besonnen und vorsichtig. Der erste Gang war beendet, ohne daß er selbst getroffen war oder den Gegner verwundet hätte, woran ihm übrigens gar nicht viel lag; denn Tischendorf war ihm viel zu gleichgültig, um seine Leidenschaft zu erregen. Doch beim zweiten Gang geriet er in eine stille Wut, die aber seine gewohnte Ruhe nicht beeinträchtigte. And als der unvorsichtige Kunz bei der Deckung lässiger wurde, hatte er seinen Hieb weg, und die Sekundanten geboten Halt. Der mitgebrachte Paukarzt stillte das Blut und nahm sich des Verwundeten an. Ulrich zog sich um, grüßte und ging in Ruhe nach Hause. Auch die Beteiligten grüßten gemessen oder schüttelten sich die Hände und entfernten sich nach und nach vom Fechtboden.

Ulrich nahm die Glückwünsche einige seiner Freunde recht nüchtern entgegen. Dieser blödsinnige Raufhandel hatte ihn aus den reinsten Stimmungen in die Plattheit des Alltags zurückgeworfen. Das Herz voll holder Neigung zu der niedlichen blonden Ilse, war Ulrich auf die Straße gegangen, fühlte noch ihren kindlichen Brief in der Brusttasche knistern – und eine Viertelstunde darauf kam diese alberne Herausforderung zum Duell, das nun erledigt war. Eine närrische Welt! »Es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt« sagt Schiller.

»Tischendorf hat dich gefordert?« sagte Petersen, »warum hast du denn mich nicht zum Zeugen genommen? Ich hätte gern wieder einmal mitgemacht. Du hättest mich auch als Stellvertreter vorschicken können. Ich wäre mit dem dicken Kunz fertig geworden.«

»Du siehst, es ist auch mir gelungen, ihn abzuführen, worauf ich übrigens gar keinen Wert lege. Ich wollte in diesem Semester fleißig und geschlossen büffeln und mich nicht mehr viel um Verbindungsdinge bekümmern, nachdem ich den Geschmack an der Burgundia gänzlich verloren habe. Der Burschenschaft in Jena gehört die Zukunft. Da fuhr mir dieses Rauhbein dazwischen, wie ein Nachklang aus überwundener Zeit. Was aber die Hauptsache ist – hör nun einmal genau zu!«

Und Ulrich, umständlich ausholend, erzählte dem Freunde, was er über Gangolf in Erfahrung gebracht hatte, besonders aus Doras Briefen in den letzten Lebenstagen des Unglücklichen. Und dann las er Ilses Brief dem kräftig rauchenden Übersetzer der Roswitha vor.

Petersen schwieg lange und nachdenklich. Unvermittelt sprach er dann: »Sag einmal offen, Uli, hat deine Schwester diesen Gangolf geliebt? Aus dem Brief des Kindes scheint hervorzugehen, daß sie vor Kummer ganz entzwei ist.«

»Geliebt?« sagte Ulrich gedehnt, »das ist wohl nicht ganz das rechte Wort. Sie haßt und verachtet ihn eher, aber wer will eine Frau ergründen! Die Art, wie er sich in unserem Hause benommen hat, reizte sie derart, daß sie ihn sogar mit der Peitsche zu behandeln drohte. Eher bin ich geneigt zu glauben, daß er in seiner Weise sie geliebt hat. Und als sie ihn dann hilflos auf dem Sterbelager sah, da zerschmolz sie vor Mitleid und wurde ganz erschüttert. Mitleid? Ja. Doch Liebe? Nein. Sie konnte ihn nicht genügend achten, und das steht bei meiner Schwester, die selber eine stolze Natur ist, obenan. Wie sie vom Mann Achtung für sich selber voraussetzt, so will sie auch ihrerseits dem Manne Achtung entgegenbringen. Oh, in diesem Punkte kenne ich meine Schwester genau. Wenn sie nicht selber schreibt, sondern die kleine Ilse vorschickt – und es handelt sich doch wahrlich hier um eine ernste Sache –, so war es nur, weil sie – nun, wie soll ich gleich sagen? – weil sie voll Scham und Verwirrung ist.«

»Ich verstehe nicht recht ... worüber sollte sie sich denn schämen?«

»Weil sie einen Augenblick jenen Schwätzer und Renommierburschen mit seiner derben Sinnlichkeit ernst genommen hatte oder auf ihn hereingefallen war. Das ist's. Er war ihr in unserem Hause in seiner ganzen blühenden und protzenden Lebendigkeit vor Augen getreten; und dort nun, in Jena, sah sie ihn abgemagert und verwildert. Und einige Tage später auf seinem Sterbebett offenbarte er sich in seinem ganzen seelischen Bankrott. Das hat sie furchtbar erschüttert. Ich bin gespannt auf ihren eigenen Brief, wenn sie sich einmal soweit erholt hat.«

Sie schwiegen beide. Dann hub Petersen langsam an:

»Ich beglückwünsche dich, Uli, daß dieses Kind jetzt schon so herzlich auf dich eingestellt ist. Das ist wahrlich ein großes Lebensglück, für das du Gott in deinem Nachtgebet danken solltest. Lächle ja nicht über den Backfischton dieses Briefes! Auch nicht in Gedanken! Ich kann mir meinesteils nichts Schöneres denken, als daß ein liebendes Weib mit einem liebenden Mann einem Edelziel zuschreitet, beide Hand in Hand, Schulter an Schulter, sich gegenseitig fördernd. Wem das beschert ist, der erhält eine göttliche Gnade, ein Geschenk von oben. Beide sind treu in der Arbeit der Enge und haben doch die Augen auf das Ewige gerichtet. Denn nach dem Ewigen muß man immer ein Fenster offen haben. Du tust recht daran, Uli, fleißig zu arbeiten, damit du bald in deine Aufgaben und in deine Stellung kommst und dieses lieblich heranwachsende Kind in dein Leben einfügen kannst. Fürchte dich nicht davor, daß man dich Philister schelte! Sei recht herzhaft Philister! Was weiß denn die Welt davon, welche Fülle von Glück zwei Menschen sich gegenseitig geben können, wenn sie liebend auf einander eingestellt sind! Glaube aber: aus dem alltäglichen Wirken, das man Philistertum nennt, beziehen wir unsere besten Kräfte. Wenn nur in unserem Häuschen, wie klein es auch sei, ein Fenster nach der ewigen Heimat offen steht. Ein von den Eltern wohlbehütetes Kind aus den Händen der Mutterliebe empfangen und in ihrer ganzen Reinheit und Unberührtheit in die Geheimnisse der Ehe und in die eigene künftige Mütterlichkeit einweihen zu dürfen, ohne die scheue Seele zu verletzen – – oh Freund, es rührt mich zu Tränen, es zwingt mich auf die Knie!«

Er schwieg ergriffen. Dann schüttelte er plötzlich nach seiner Gewohnheit dem Freunde die Hand und entließ ihn.

»Ich danke dir, Uli, daß du mich dieses Briefes gewürdigt hast. Er hat mich beglückt und wird neben allem, was er sonst noch anschlägt, mich noch lange beschäftigen.«

So gingen sie auseinander.


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