Friedrich Lienhard
Das Landhaus bei Eisenach
Friedrich Lienhard

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Achtes Kapitel. Jena.

Ein stattlicher älterer Herr im dunkelblauen Mantel stand im Paradies zu Jena unter den Fenstern des Majors von Knebel, der dort wohnte, und klatschte kräftig in die Hände. Eine Zipfelmütze erschien oben und nickte herunter. Bald darauf schritten die beiden befreundeten Männer am Ufer der Saale entlang und wandten sich nach der Gegend des Dorfes Lichtenhain.

»Ich habe vorhin einen artigen Anblick gehabt,« sagte der Dunkelblaue. »Es stand dort am Strande des Flusses eine edelgebaute und vornehm anmutende jüngere Dame. Sie schaute nach den Bergen und streckte einen Augenblick die Arme aus. Was mag sie dabei gedacht haben? Ich mußte mir unwillkürlich meine Iphigenie vorstellen: ›Und an dem Ufer stehe ich lange Tage, das Land der Griechen mit der Seele suchend.‹ Sie ist dann weitergeschritten, meinen Augen entschwunden. Ein holder Anblick! Schade!«

»Ja, schade, daß wir ihre Bekanntschaft nicht gemacht und vielleicht ein artiges Abenteuer erlebt haben,« erwiderte der andere. »Ich saß gerade über meinem Dichter Properz und hätte eine kleine Auffrischung ganz gern hingenommen.«

»Auch ich schließlich, der ich in meinem alten, lieben Gasthof ›Tanne‹ Wolken und Winde beobachte und dabei dem Frischlebendigen fast etwas abzusterben drohe. Man muß sich doch immer wieder am grünen Baum des Lebens aus der grauen Theorie zurechtfinden ... Doch wie ist mir denn? Geht nicht da vor uns die schöne Unbekannte?«

Und in der Tat: nicht weit von ihnen, am Saalestrand, von den beiden älteren Herren bequem zu erreichen, schritt langsam und einsam in weißem Gewände, einer Priesterin nicht unähnlich, die besinnliche Naturfreundin Dorothea. Sie hatte die Augen zu Boden gesenkt und trug am rechten Arm den schön bebänderten Frauenhut.

»Frischauf, wir reden sie an!« rief Knebel, »obschon ich sonst gern eine gewisse Distanz oder optische Entfernung innezuhalten pflege. Vielleicht wird sich dabei eine gewöhnliche Spießbürgerin entpuppen, vielleicht aber auch eine höhere Seele, die irgendein Geheimnis hat, das wir aus ihr herausklopfen, wie ein Buntspecht Nahrung aus einem mürben Ast!«

Die Wandelnde war nicht wenig überrascht, als plötzlich zwei gut gekleidete Herren der besten Gesellschaftsschicht höflich den Hut vor ihr zogen und ein Gespräch begannen.

»Verzeihen Sie unsere Kühnheit! Wir unterhielten uns soeben darüber, meine Verehrte, worüber Sie nachdenken. Sie erinnerten uns an Goethes Iphigenie, wie sie am Ufer des Meeres steht und über die Wasser hinüber nach dem fernen Griechenland trauert. Haben wir mit unserer Vermutung ungefähr recht gehabt – oder befinden wir uns auf einer falschen Fährte?«

Dorothea war zunächst überrascht; aber da sie sich mit ihrer ganzen Seelenverfassung in etwas gehobener und romantischer Stimmung befand, wich sie der unvermuteten Anrede nicht aus. Sie schaute mit ihren großen klaren Braunaugen die beiden freundlichen Wanderer verwundert an, lächelte ein wenig – was ihr wie immer ganz reizend stand – und schwieg betroffen. Dann sagte sie mit ihrer vollen dunklen Stimme:

»Ich habe Goethes Iphigenie allerdings oft gelesen, mich vielleicht auch manchmal mit ihr verglichen und fühle ihr nach. Sie suchte die Heimat ihrer Seele – und ich beschäftigte mich eben mit dem Gedanken, wo denn wohl des Menschen wahre Heimat sei.«

»Sieh mal an!« sagte der Herr, der unter Knebels Fenster in die Hände geklatscht hatte. »Das läßt sich hören. Ich sollte fast meinen, wir sind da mit unserer neugierigen Frage mitten in das Zentrum eines bedeutenden Gedankenganges eingetreten. Oder ist es nicht gerade für ein Frauengemüt die wichtigste Lebensfrage? Aber wenige Frauenzimmer dringen so tief, nehmen vielmehr mit der bequemen Oberfläche vorlieb, etwa mit dem täglichen Haushalt, in den sie hineingeboren sind, oder mit Mann und Kindern, in die sie gleichsam hineingeheiratet haben. Das heißt – verzeihen Sie – ich weiß nicht, ob ich die Ehre habe, eine verheiratete Dame vor mir zu sehen?«

Er zog höflich mit kurzer Verbeugung den Hut.

»Ich bin nicht verheiratet,« sprach Dora kurz.

»Um so bequemer dürfen wir Sie vielleicht einladen, sich mit unserer einfachen Gesellschaft und Unterhaltung zu begnügen,« war die Antwort. »Wir sind nämlich eben im Begriff, in der gleichen Richtung zu lustwandeln.«

»Wobei wir uns freilich,« warf der andere ein, »nicht über tiefere Probleme zu unterhalten gedachten, sondern beim Geplauder über leichte Gegenstände lieber in ein anmutiges Antlitz schauen. Ich nämlich, um Ihnen das offen zu bekennen, war gerade mit lateinischen Dichtern beschäftigt, als mich mein Freund anrief –«

»Ach, Sie übersetzen auch aus dem Lateinischen?« erwiderte Dorothea. »Dasselbe ist nämlich meines Vaters Lieblingsbeschäftigung. Er ist in Eisenach Professor im Ruhestand. Aber er sagt manchmal, wir Jüngeren gehören mit unseren Jahn und Arndt und Lützow einem anderen Geschlecht an; dabei liebt er aber den Turnvater Jahn sehr, der erst neulich bei uns war.«

»Dann darf ich also die Tochter eines Kollegen begrüßen?« sagte der lange Knebel und griff an den Hut. »Was hat aber dieses ferne Latein mit Ihren persönlichen nahen Gedanken zu tun? Ich frage nicht aus unbescheidener Neugier, sondern suche nur die Verbindung von dem zu jenem. Oder dachten Sie über eine Stelle in Ovids Metamorphosen nach?«

»Keineswegs,« lachte Dorothea. »Ich wandle mit beiden Beinen auf teutschem Boden und dachte eben, daß doch die Frau eigentlich nur zum Dienen berufen ist –«

»Nur?« warf der Dunkelblaue hier bedeutend ein. »Ist das etwa nicht genug? Dienen wir nicht alle?«

»Nun ja, oder besser gesagt, daß die Frau nicht schöpferisch sein kann, wie der Mann, sondern sich eine vorgeschriebene Aufgabe wählen muß, die ihres Frauentums würdig ist. Dieser Tage, wie ich schon sagte, war der Turnvater Jahn in meinem Elternhause. Da sprachen die Herren mit Feuereifer von den großen teutschen Aufgaben. Und ich dachte mir im Stillen: Wie beneidenswert sind doch die Lützower und alle diese freiwilligen Jäger, die mit hinaus in die Schlachten gezogen sind! Sie können für das Vaterland kämpfen, können sich eine große Aufgabe stellen – aber wir Frauen, wir sitzen zu Hause und warten. Wir warten immer nur tatenlos, wie Iphigenie am Meer. Ist das nicht ein beklagenswertes Schicksal?«

Der Herr im dunkelblauen Rock blieb stehen und schaute die erglühende Dorothea mit herrlich funkelnden Augen an.

»Sie sprechen zwar ein großes Wort aus, mein Fräulein, aber Sie sprechen es nur halb aus. Meinen Sie etwa, das sei nur Frauenlos? Was wissen Sie davon, wie wir Männer an den Prometheusketten rütteln, bis wir reif und ruhig werden? Sind Sie nicht bei einigem Nachdenken der Überzeugung, daß hiermit ein allgemeines Menschenlos berührt wird?«

Dora, die gleichfalls stehen geblieben war, starrte ihn an und erkannte ihn plötzlich, über und über errötend.

»Verzeihen Sie – ich glaube, Sie nach Bildern zu erkennen – habe ich nicht die Ehre, Herrn – Herrn von Goethe – Exzellenz von Goethe aus Weimar vor mir zu sehen?«

»Das tut nichts zur Sache, liebes Kind,« antwortete der Angeredete. »Wir beide, mein Freund und ich, haben das Leben größtenteils hinter uns und schauen aus etlicher Ferne auf dieses wunderliche Abenteuer. Aber wichtiger ist die Beantwortung dieser Fragen für Sie, meine schöne Unbekannte. Wie kommt ein so junges Frauenzimmerchen in einen so lebensmüden Zustand? Das scheint mir naturwidrig und muß von uns beiden erfahrenen Männern – das ist nämlich mein Freund Hofrat von Knebel – mit etlichen triftigen Gründen bekämpft werden. Meinen Sie nicht? Wenn wir jung wären, gäbe es eine sehr naheliegende Lösung: Wir würden uns weidlich in Sie verlieben. Der Gegenstand wäre anziehend genug. Und Sie hätten Beschäftigung in Fülle.«

Es gab für Dorothea einige Augenblicke der Verwirrung, für die beiden Herren aber ein vergnüglich lächelndes Behagen. Sie war völlig überwältigt von dem Ungewöhnlichen, in die Lebensluft solcher hohen Geister ganz zwanglos emporgehoben zu sein aus den Bezirken dumpfen Alltagslebens, sei es Babette oder Gangolf oder selbst die halbwüchsige Ilse mit ihren harmlosen Plaudereien. Sie hatte anfangs Mühe, nachdem sie nun ihre Begleiter kannte, den Unterhaltungston zu wahren und sich der Würde dieser Stunde gewachsen zu fühlen. War sie nicht in eine Hofdame verwandelt, die zum erstenmal in Höhenluft weilte nach der vielen Einsamkeit und Krankenpflege in Eisenach? Doch nach und nach fand sie mit der ihr eigenen gesunden Art wieder ihre natürliche Unbefangenheit, plauderte von ihres Vaters Krankheit, doch auch von den geistigen Gesprächen, ließ die religiöse Stimmung ihrer Mutter taktvoll mit einfließen, von der sie sich beeinflußt fühlte, und deutete nur flüchtig manche Enttäuschung an. Sie fühlte dabei, daß sich alles, was ihr bisher kleinbürgerlich erschienen war, ins Ungewöhnliche erhob und daß ihr durch die belebende Gegenwart dieser bedeutenden Begleiter die Schwingen wuchsen.

So waren sie wandernd und plaudernd, wobei sie kaum der Umgebung achteten, nach dem von Studenten viel besuchten Dorf Lichtenhain gekommen.

Goethe hatte allmählich das nicht gemeine Gespräch dahin zusammengefaßt: Des Menschen Erdenaufgabe sei die Gestaltung reiner Menschlichkeit; diese Aufgabe sei zwar verschieden bei Mann und Weib, doch diese wirkten bei gutem Gedeihen fördernd aufeinander und gemeinsam sei ihnen die Doppelerkenntnis der Weisheit und der Güte; doch ganz besonders schön sei die Entfaltung helfender Liebe. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Je früher ein Sterblicher aus dem zunächst noch ungestümen, eigensüchtigen, prometheischen Trieb zu dieser schönsten Entfaltung gelange, um so reiner und ruhiger.

Hier wurden sie durch ein tolles Abenteuer versammelter Studenten lustig unterbrochen.


Trotzdem durch die Burschenschaft ein ernsterer Ton in das studentische Treiben von Jena eingekehrt war, ließen sich die Musensöhne doch nichts von ihrem jugendlichen Übermut rauben und benutzten jede passende und unpassende Gelegenheit zu Ulk und scherzhaften Unternehmungen.

Der Platz in Lichtenhain war überfüllt mit fröhlichen Burschen und glich einem Jahrmarkt. Da waren alle Trachten vertreten, vom schwarzen deutschen Rock mit weißem, offenem Kragen bis zum roten Burschengewand der Vandalen oder anderen freudigen Farben, worunter sich die ehrsamen Bürger oder Damen und Bäuerinnen lachend umhertrieben. »'s is heute was Besonderes los!« hieß es allenthalben, »die Großherzogin kommt!« – »Nu ja, nee, 's is nur die Großherzogin vom Bierstaat Lichtenhain – dort reitet sie uff'm Esel!« – In der Tat: auf je einem Esel – wer weiß, wo sie die Tiere aufgetrieben hatten! – ritten der Großherzog Thus vom Ulkstaat Lichtenhain und seine Frau Großherzogin einher, mit großmächtigen Orden bedeckt, die auf dem Bauch lagen statt auf der Brust, jener mit einer Pappdeckelkrone, diese mit Schleier und einem fast unmöglichen Hermelinmantel, begleitet von einem überaus bunten Gefolge. Ihnen voraus ritt mit einer großen Trommel, die er kraftvoll bearbeitete, der Student Loholm in mecklenburgischer Husarenuniform; sein Müllkutschergaul war harthörig und schwer von Schritt, so daß die gemächlichen Grautiere sich nicht zu übereilen brauchten. Die Großherzogin wurde dargestellt von einem noch unbärtigen, schlanken Studenten, namens Dürre (dem man unter Schleier und Schminke nicht ansah, daß er noch vor wenigen Jahren in der Lützower Uniform gestanden hatte), so daß man ihn recht gut für eine Dame halten konnte, zumal sie sich mit den züchtigsten Gebärden nach allen Seiten hin huldvoll verneigte. Den Großherzog spielte sein Freund Weißendorn aus Demmin, den man – obschon er gar nicht plump, sondern hübsch gewachsen war – im Kreise der Kommilitonen »Junker Plump von Pommerland« zu nennen pflegte. Kultusminister war der Student Hans Ferdinand Maßmann, der auch die silbernen und goldenen Bierorden aus Pappe angefertigt und verteilt hatte, genannt der »Schnurrenkinderschulmeister«, und verkündete dem verehrlichen Publico, daß der Großherzog, um die aufständischen Bauern zu beruhigen, sich mit der Tochter des »Bauern Großmaul« vermählt habe und sich nun öffentlich dem Volk zeige. Binnen kurzem werde die Entbindung erfolgen. Dazwischen wurde herzhaft Lichtenhainer Bier – dem Lehmwasser nicht unähnlich – aus Holzkrügen gezecht. Es fehlte auch nicht an Radau-Musik, wobei eine Gießkanne hauptsächlich mitwirkte; und die Spießbürger oder Philister kamen aus dem Lachen gar nicht heraus.

Plötzlich, nach allerlei lustigen Ansprachen, verwandelte sich die Szene. Die Großherzogin trat in das Wirtshaus ein, und nach einigen Augenblicken erschien sie als Bäuerin wieder und verkündete – da man von dem Gerücht bereits überall vernommen hätte – sie verbitte sich die üble Nachrede einer so raschen Entbindung, vielmehr, so kreischte sie mit hellstem Tenor und sprang aus Scherz in Ernst über, sei soeben die Großherzogin von Weimar eines gesunden Kindes entbunden worden, was hiermit einer versammelten und ehrfurchtsvoll teilnehmenden Bürgerschaft mit geziemendem Ernst vermeldet werde. Hierauf ging der übermütige Student sogar in Stegreifreime über, wobei er Entbindung mit Empfindung vermählte und mit einem begeisterten, medizinisch umrahmten Hoch auf Großherzog und Großherzogin schloß.

Goethe und Knebel hatten sich in die Menge gestellt, während Dorothea, so lärmender Versammlung ungewohnt, etwas abseits blieb. Besonders der Dichter wurde von dem improvisierten Bühnenspiel lebhaft angezogen und schüttelte sich vor Lachen. Die heutige Veranstaltung war einer Szene aus dem Faust nicht unähnlich; und Dürre war ein paar Stunden später nicht wenig erstaunt, als Goethes Sekretär auf der Mäderei erschien, wo der Student mit anderen Kommilitonen wohnte, und sich mit höflichen Komplimenten den Text der lustigen Reime erbat, da sich der Herr Geheime Rat gerade mit Studien über studentisches Treiben beschäftige. Aber Dürre lehnte ab: die Verse seien nur für den Augenblick verfertigt und nicht aufgeschrieben.

Grundsätzlich wurde auf jenen Lichtenhainer Lustbarkeiten nur der beste Trinker zum Großherzog erkoren, wobei einmal ein Meininger Student zehn Kannen geleert haben soll. Aber dergleichen gesundheitsschädliche und nicht sehr geschmackvolle Übertreibungen wurden von den Burschenschaftern nicht mitgemacht, sondern sie zogen es vor, »ungekrönte Bauern« zu bleiben, wie man die mäßigen Trinker nannte, und hielten sich überhaupt etwas im Hintergrunde. Diesmal aber war der lustige Teufel des Humors auch in sie gefahren.

»Kinder, Freunde und Brüder, wißt ihr, was wir jetzt noch tun, da wir so schön im Zuge sind?«, rief der Student »Bauer Großmaul«, »wir ziehen nach dem Marktplatz von Jena und spielen ›Die Entführung‹ von Bürger, die ich mit Loholm und anderen dramatisiert habe. Los!«

Und nachdem man in lustigem Wirrwarr hin- und hergehandelt hatte, wälzte sich der ausgelassene Zug zu Fuß und Pferd und Esel in die Universitätsstadt zurück, wo man auf dem Marktplatz die dramatisierte Entführung spielte, wobei der Reichsbaron »Junker Plump von Pommerland«, mit versilbertem Pappdeckel gepanzert, auf seinem lendenlahmen Müllkutschergaul saß, während das verschleierte Fräulein Trudchen (Dürre) aus einem Zimmer im dritten Stock auf einer Feuerleiter hinunterstieg in des geliebten Ritters Arme...

Diese übermütigen Geschehnisse aus Jenas Studententreiben sahen jedoch weder Dorothea Schattenmann, noch Goethe und sein Begleiter. Die beiden alten Herren hatten sich höchst vergnügt und angeregt auf den Heimweg gemacht. Aber der holden Besucherin aus Eisenach blieb noch ein besonderes Erlebnis an diesem ereignisvollen Tag vorbehalten.


Gangolf war vom Harz nach Osten abgeirrt, hatte sich dann halb nach Süden gewandt, planlos am Ufer der Saale streifend, und schwankte zwischen Lebensdrang und Selbstmordgedanken. Sollte er in Jena diesen unheimlich festen und geschlossenen Studenten Riemann aufsuchen und ihm das Lebensgeheimnis ablauschen? Welches Wissen ließ jenen jungen Mann so kühn und fest dem Schicksal ins Auge schauen?

In Merseburg oder Naumburg, vom Wege abgekommen, war er fast preußischen Werbern in die Hände gefallen und verspürte ein Weilchen Lust, Soldat zu werden. Aber nach einer Nacht, wo er sich sinnlos betrank, entwich er heimlich aus dem Wirtshaus. »Ich bin auf dem besten Wege, als Strolch zu verlumpen oder als Landstreicher unter die Räder zu geraten,'' sprach er zu sich selber. »Soll ich ein Ende machen? Soll ich mich in die Saale werfen?«

So war er in die Nähe Jenas gekommen, vom unbewußten Drang gejagt, der ihn seinem Schicksal zutrieb.

Dora befand sich auf dem Rückweg, nachdem sie sich unauffällig von dem lustigen Treiben zurückgezogen hatte, ohne sich förmlich von ihren beiden Begleitern zu verabschieden. Eine unerklärliche innere Unruhe ließ sie nicht zu reinem Vergnügen kommen. Was sollte das alles? Es erging ihr wie so oft in heiterer Gesellschaft: sie fühlte sich um so stärker in die Einsamkeit gedrängt. Etwas in ihr, mächtiger als der Verstand, übernahm die Führung. Mit Ilses jugendlicher Mutter hatte sie sich verabredet, war aber nun fast wider ihren Willen weitab nach Lichtenhain verlockt worden, obwohl diese lebensfröhliche Studentenstimmung gar nicht zu ihrem wahren Seelenzustand passen wollte. Nun fiel ihr die Verabredung mächtig auf das Gewissen. Sie eilte mit beschleunigten Schritten stadtwärts, um sich mit der Freundin zu treffen.

Da erlebte sie ein geradezu unglaubliches Abenteuer, ebenso aus heiterem Himmel wie den Bierulk in Lichtenhain. Am Ufer der Saale spielte eine Anzahl Kinder. Sie vergnügten sich damit, Schiffchen in rasch fließendem Wasser schwimmen zu lassen, manchmal auch ins Wasser zu waten und mit Gejauchz das Holz wieder zu erwischen. Auf einmal – kein Mensch dachte an dieser seicht scheinenden Stelle an ein Unglück – ein schrilles, verzweifeltes Geschrei –, und ein Kind wirbelte im Wasser und rang mit den Wellen! »Helft! Sie ertrinkt! Hilfe! Hilfe!« Die Kinder kreischten, wateten nach der Verunglückten, liefen hilflos am Strande auf und ab und rannten schließlich laut schreiend davon. Da sprang ein Mann, der am Ufer dahergeschritten war, ohne Besinnen in die Flut, schwamm kräftig, packte die Kleine – und hatte sie mit einigen Stößen glücklich ans Land gebracht. Dorothea rannte mit einigen anderen aufgeregt herbei – und erkannte in dem Lebensretter augenblicklich Gangolf! Sie glaubte, fast ohnmächtig zu werden. Zum Glück hatten sich auch einige Kinder wieder gefunden, benachbart wohnende Mütter stürzten aus den Häusern herbei, es entstand ein allgemeiner Wirrwarr, wovon sich die Mutter der Verunglückten rasch mit dem Kind loslöste, um die Gerettete ins Trockene zu bringen. In der allgemeinen Erregung wurde der Retter von der lebhaft durcheinander laufenden Gruppe nicht viel beachtet, wenn man auch nicht vergaß, ihm zu danken – und nur Dorothea stand mit wogendem Busen und gemischtesten Empfindungen vor dem Mann, der sie noch vor kurzem als drohende Germania mit der Peitsche vor sich gesehen hatte und der sie nun gleichfalls, sprachlos vor Staunen, erkannte.

»Sie? Wie kommen denn Sie hierher?« waren Dorotheas erste Worte.

»Und Sie? Ich frage dasselbe,« antwortete der klatschnasse Student.

»Vor allem, ziehen Sie sich rasch um, Sie sind ja pudelnaß!«

»Das hat nicht viel auf sich, Fräulein. Darf ich Sie begleiten? Ich bin Ihnen manche Erklärung schuldig – oder vielmehr, ich habe Sie um Entschuldigung zu bitten – Sie und Ihr ehrenwertes Elternhaus – nein, es hat mit der Nässe nichts auf sich, es ist mir, als hätte ich ein Sühnebad genommen – – nur ich bin etwas ausgehungert, bin seit Wochen auf Wanderungen – – mein Fräulein, verzeihen Sie mir!«

»Aber wo in der Welt treiben Sie sich denn eigentlich herum? Mein Bruder schrieb mir davon. Hier ist Ihr Hut, den der Junge da eben aufgefischt hat« – –

Sie war Weib genug, diese kleinen Dinge des Alltags nicht aus dem Auge zu lassen, rang den Hut etwas aus, den ein Junge aus dem Wasser geholt hatte, und reichte ihn dem gänzlich Durchnäßten, der nun zu zittern begann.

»Sie müssen jetzt rasch nach Hause laufen, sich gleich zu Bett legen und am besten heißen Tee trinken!«

»Ich habe kein Zuhause!«

»Gut, aber dann rasch in ein Wirtshaus, ins nächste beste Wirtshaus!« Sie ging rasch voran und zog ihn mit sich fort.

»Ich habe leider – ich bin in Verlegenheit – !«

»Sie haben kein Geld? Gut, ich habe welches, das ist jetzt Nebensache, vor allem machen Sie sich Bewegung, damit das Blut in Umlauf kommt! Wollen Sie nicht in einem dieser Häuser einkehren?«

»Nein, ich möchte noch ein wenig bei Ihnen bleiben – wenn Sie gütigst gestatten – möchte Ihnen sagen – ich werde dann im Gehen schon wieder trocken und warm –«

»Nun, ich bringe Sie nach Jena – etwa in den »Schwarzen Bären« – aber flink! Sehen Sie, da vor uns gehen noch ein paar Studenten. – Einen Augenblick, meine Herren!«

Im Nu hatte die entschlossene Dorothea mit den beiden Studenten Fühlung hergestellt, erzählte kurz den Vorgang und bat um Unterkunft für den nassen Kommilitonen.

»Hallo, wir kennen uns ja schon!« rief der eine. »Wissen Sie noch? Vivat Burgundia! Von wannen treibt Sie der Teufel nach Jena? Riemann heiße ich immer noch, und das ist mein Freund Rödiger.«

»Kein Teufel, Herr Riemann, vielmehr ein guter Engel hat ihn hierhergeführt. Herr Gangolf hat jenem Blondköpfchen, das soeben ins Wasser gefallen ist, das Leben gerettet. Sie sehen, er ist ganz erschöpft. Tun Sie nun ein gutes Werk – nehmen Sie ihn auf Ihre Studentenbude, sorgen Sie, daß er sich umzieht oder zu Bett legt!«

Die Studenten waren ohne weiteres einverstanden, setzten sich mit dem zitternden und durchfrorenen Gangolf in flotten Trab und liefen mit ihm nach Jena hinein.


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