Friedrich Lienhard
Das Landhaus bei Eisenach
Friedrich Lienhard

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Fünftes Kapitel. Beichte.

Als die Schar der Füchse die kurze Treppe hinunterrannte, machten sich neben ulkigen Bemerkungen bereits unwillige Ausrufe Luft. Und als sie dann im spärlichen Lichtkreis der Gasthofslaterne beisammen standen, wurde der allgemeine Unwille stürmisch laut.

»Das hab' ich nun ein Semester mitgemacht – jetzt mach' ich's ein zweites Semester nicht mehr mit. Der Mann aus Jena – ja, den lass' ich mir gefallen!«

»Aber nicht diesen Zuchtbullen! Ich protestiere!«

»Jetzt habt ihr den Unterschied erkannt zwischen einem ehrlichen teutschen Burschen und einem Saufaus und Renommisten!«

»Wohin ist Riemann? Er muß den Senior fordern! Bedenkt aber, daß Gangolf weit und breit der beste Fechter ist!«

»Riemann? Den haben Ekel und Dunkelheit eingeschluckt oder weggeblasen! Die Polizeistunde ist vorüber! Wollen wir ihn im »Roten Ochsen« aufsuchen?«

»Er marschiert schon morgen früh weiter. Wird von unserer Verbindung einen netten Eindruck mitnehmen. Ich geh' zu Bett.«

»Ist er vielleicht bei Schattenmann? Mit dem ist er ja befreundet.«

»Ist Uli überhaupt schon in der Stadt?«

Als der Name Schattenmann erklang, tauchte ein Schatten jenseits des Lichtscheines auf, und es rief einer herüber: »Hier Schattenmann! Vivat Burgundia!«

Es war der einsame Ulrich, der in der nächtlichen Stadt umhergelaufen war, um nach dem Gespräch mit Petersen in seiner bedächtigen Art den Fall Gangolf gründlich zu durchdenken. Unter dem lauten Hallo der Füchse trat er nun heran und begrüßte die Kommilitonen, die ihn sofort umstürmten und mit Neuigkeiten überschütteten. Der Regen hatte aufgehört; es herrschte in der schlafenden Universitätsstadt eine graue Stille.

»Uli, haben dich bitter vermißt! Riemann war da – Riemann aus Jena, du kennst ihn! Hat sich beinahe mit Gangolf geschlagen! Großartig, wie die aneinander gerieten! Famoser Bursch, der Riemann!«

»Riemann? Schade, daß ich den verfehlte! Und Gangolf? Ist er noch oben?«

»Freilich! Sitzt noch mit dem feisten Kunz zusammen, hat sich gleich noch zwei Maß geben lassen, obschon Polizeistunde längst vorüber ist. Gänzlich besoffen, Uli!«

»Der kommt mir gerade recht. Ich geh' noch 'nauf.«

»Wir nicht. Wir haben genug!«

»Genug! Genug!«

Und nach vielem Hin und Her zogen die Füchse und Jungburschen davon. Ulrich aber, gefüllt von seinen grimmen Nachtgedanken, ging nach oben.


Als Schattenmann das Kneipzimmer betrat und die wüste Stätte übersah, hatte er den unwillkürlichen Eindruck: ein Schlachtfeld! Eine einzige trübe Wachskerze brannte vor den beiden Zechern und hüllte das Zimmer in Dämmerlicht. Die Deckenbeleuchtung war vom ungeduldigen Kellner gelöscht worden. Stühle standen unordentlich umher oder lagen am Boden. Der dicke Rauch lastete schwer über dem unerfreulichen Raum. Und der eine Trinker hatte den Kopf mit dem gänzlich verrückten Helm auf die Arme gelegt und schien zu schlafen, während der dicke Kunz zurückgelehnt im Stuhl daneben saß und krampfhaft zu rauchen versuchte, obwohl ihm die Pfeife fortwährend zu entfallen drohte.

»Guten Abend! Ihr seid allein?« begann Schattenmann.

Fast gleichzeitig tauchte hinter ihm der Kellner auf, wischte die Hände nervös an seinem Aufwartschurz und rief den Zechern zu: »Draußen stehen die Häscher, Herr Gangolf!«

»Was wollen die infamen Philister?« fuhr der Senior der Burgundia auf. »Kann mich ein Nachtwächter daran hindern, mein Bier in Ruhe auszutrinken? Sie sollen hereinkommen, damit ich ihnen alle Knochen im Leib einzeln zerschlage – alle Knochen – alle sechsundzwanzig Knochen – Kunz, wieviel Knochen hat der Mensch?«

Und wieder sank er auf seine Arme in schlafende Stellung.

»Winke den Leuten ab, Jakob! Abwinken!« rief der schlaftrunkene Kunz und machte abwehrende Bewegungen. »Kneipe ex, Füchse fort, Licht dunkel! Was wollen die Tröpfe? Hier ist eine stille Nachfeier! Apage!«

Der Kellner ging achselzuckend fort. Schattenmann trat näher.

»Seid ihr das letzte Häuflein auf diesem Schlachtfeld?«

»Ich geh auch heim,« sprach Kunz von Tischendorf, »habe schwer gezecht heut' Abend – aber mich hat noch keiner unter den Tisch getrunken, keiner. Gut' Nacht!«

Und nach einigen unverständlich gemurmelten Worten war auch er aus dem Zimmer gewankt.

Gangolf machte einige unbestimmte Handbewegungen, die nach einem Winken oder Grüßen aussahen. »Solide Nachtmützen! Philister! Legen sich um Mitternacht schon in die Falle! Salve, Uli! Sieh da Uli! Wo kommst du denn auf einmal her? Da setz' dich her! Auf den Stuhl da gesetzt! Glaube ja nicht, daß ich betrunken bin – ja nicht dummes Zeug glauben! Bin unheimlich hell – unheimlich! Ich weiß zum Exempel ganz genau, daß du eine schöne Schwester hast namens Dorothea! Was, Alterchen, und jetzt? Bin ich nüchtern oder nicht?«

»Kann sein, Arthur. Aber ich würde dir doch raten, dich ganz still in deine Falle zu legen.«

»Wozu denn? Muß denn der Mensch überhaupt nach Hause? Kann ich nicht da – irgendwo – da auf dem Schanktisch oder in einer Ecke schlafen? Schlachtfeld – sagtest du nicht Schlachtfeld? Stimmt! Parole: Jena! Der Kerl aus Jena – der Riemann – der hat alles versaut, Uli, hat mich aus dem Feld geschlagen!«

»Ich bedaure, daß ich meinen Freund Riemann verfehlt habe.«– –

»Nenn' ihn nicht deinen Freund! Wie kommst du denn überhaupt auf einmal daher geschneit, du Schattenmännchen? Von der schönen Schwester, was? Du, die hat das entzückendste Frätzchen in ganz Deutschland – diese spitzen weißen Oberzähnchen – Uli, sie macht mich geradezu verrückt – verrückt!«

Er lagerte jetzt zurückgelehnt im Stuhl und griff mit der Rechten verzückt in die Luft.

»Uli, es ist aus mit mir! Nicht mehr ein Fünkchen Respekt haben diese ungeratenen Füchse vor mir. Sie sind alle zu Riemann abgefallen. Dieser Tugendapostel mit dem Eisernen Kreuz! Besonders der eine da – der Benjamin – ein Frechdachs, so jung er ist – weißt du, der Mensch mit dem Jungferngesicht! Hat mir unverschämte Beleidigungen an den Kopf geworfen. Oh, ich bin unheimlich hell, Uli. Sie sind alle von mir abgefallen, alle!«

Ulrich hatte die Ellbogen auf den Tisch gestemmt, plötzlich fest entschlossen, die Stunde auszunützen. Aus den wirren Reden der Füchse hatte er soviel entnommen, daß hier der ältere und reifere Riemann vorgearbeitet hatte.

»Ich habe in den letzten Wochen viel über dich nachgedacht, Arthur Gangolf. Und weißt du, zu welchem Ergebnis ich dabei gekommen bin? Ich sehe von Persönlichem ab; daß du mir eine ungeheure Enttäuschung wurdest, ist eine Sache für sich. Doch davon abgesehen: es ist mir klar geworden, daß die Räder der Geschichte über dich hinweggehen. Begreifst du das? Du verstehst die Zeit nicht, du spürst nichts vom neuen Geist, weil du ganz im Dunst deiner niederen Sinnlichkeit steckst. Diese Erkenntnis war für mich erschütternd.«

Gangolf sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Willst du da – willst du die Moralpredigt dieses Riemann fortsetzen?«

»Es handelt sich dabei nicht um Moral oder theologische Redensarten,« sagte Ulrich ruhig und fest, »es handelt sich um dein verpfuschtes Leben, Arthur. Ich komme von zu Hause und weiß, was du dort angerichtet hast. Bei meiner Schwester ist's dir vorbei gelungen – da hast du dich über Babette hergemacht: Jetzt kommt's an den Tag!«

»Ba–bette? Die – ist ein ganz üppiges Frauenzimmer!« Er schnalzte mit der Zunge und knipste mit den Fingern der rechten Hand.

In Ulrich stieg die Zornröte empor. »Jedenfalls will ich dir das noch sagen, denn zu weiterem reicht es wohl nicht heute Abend bei deiner Besoffenheit. Als meine Schwester Dorothea hinter deine Schweinereien kam, wurde sie so wild – merk' dir nun genau, was ich dir sage – so wild, daß sie beschloß, nächstens hierher zu reisen und dich auf offenem Markt mit der Reitpeitsche durchzuprügeln!«

»Donnerwetter!« Das fuhr dem Betrunkenen derart in die Knochen, daß er jählings fast nüchtern wurde.

»Jawohl. Arthur, so steht's mit dir! Ich ahnte deinen Zustand schon lange. Du suchst dich mit deinen wüsten Zoten zu betäuben, aber deine anscheinende Lebenslust ist nicht echt, es gelingt dir nicht. Nun spürst du die neue Luft um dich her und versuchst dagegen anzukämpfen. Schwächlicher Versuch! Bei uns zu Hause in Eisenach ist dein Ruf vernichtet. Besonders seitdem du so unverschämt warst, durch deinen letzten Brief an meinen Vater, der meine Mutter bei ihm denunzierte – so 'ne Niederträchtigkeit! – meinen braven alten Papa so zu erregen, daß er dich am liebsten vor die Pistole fordern würde!... Aber was soll ich mich hier mit den Biermassen in deinem Bauch länger unterhalten? Ich gehe nach Hause und suche dich ein andermal auf, wenn du bei deinen fünf Sinnen bist.«

Er wollte aufstehen, aber der plötzlich aufgestörte Gangolf hielt ihn krampfhaft fest. »Bleib, Uli! Wir gehen zusammen. Mich – was hast du da gesagt? – mit der Reitpeitsche will sie mich traktieren – Dorothea?«

Er stand torkelnd auf und rührte das fast noch volle Glas nicht mehr an. »Nimm mich mit nach Hause, Uli! Ich – ich bin nämlich ganz nüchtern – nur – mir ist auf einmal so hundeelend« – –

Er hängte sich mit Mühe den Mantel um und ging am Arme Ulrichs davon.


Der Regen hatte gänzlich aufgehört; aber es war für den guten Ulrich Schattenmann ein sehr bescheidenes Vergnügen, mit dem massigen Trunkenbold Arm in Arm durch die graue Nacht zu stapfen. Er war nicht von der heftigen Gemütsart der Schwester, die mehr dem Vater glich; außerdem hatte er den zähen Gedanken gefaßt und immer wieder festgehalten, jetzt einmal mit Gangolf abzurechnen, da dessen Stimmung so empfänglich war. Der starke Begleiter hing ihm schwer am Arm. Uli fügte sich der Sachlage und begann, als sie durch die kümmerlich beleuchtete Stadt wankten:

»Hör' einmal, Arthur, ich habe, wie gesagt, viel über dich nachgedacht. Du bist nicht, was du scheinst. Du scheinst forsch – und du bist feige.«

»Wa – was willst du damit sagen?«

»Feig vor deinem Gewissen! Das will ich vor allen Dingen sagen.«

Gangolf gelangte mit Ulrichs Hilfe bis zu einer Bank auf dem Marktplatz, wo er sich schwer hinsinken ließ, aber des Freundes Arm krampfhaft festhielt.

»Du meinst also – ich hätte kein Gewissen, was? Auf Ehre, Uli, mit deiner Schwester – das war nichts. Ich hab' ihr nichts getan. Da kommt keiner an sie 'ran. Wildes Weib! Im Gartenhaus' mal – na, sie hat mich ganz toll in die Ecke geworfen – und huppdi, raus aus der Tür! Aber Babette – na ja, da bin ich zu Babette gegangen.«– –

»Und hast das einfältige, aber grundgute Kind unglücklich gemacht! Sie ist nun zu ihrer braven Mutter auf das Dorf heimgekehrt, weint nächtelang und sieht einsam ihrem Kind entgegen, während du in der Welt herumsäufst! Und wie vielen Dutzenden und Hunderten hast du's schon so gemacht!«

»Ja, ja – aber – weißt du, Uli, ich bin von einer geradezu heidnischen Sinnlichkeit.«– –

»Verleumde nicht die Heiden! Nenne deinen elenden Zustand lieber ganz gemeine Lüsternheit! Denn auch die Heiden hatten in ihrer Lebensgemeinschaft Würde. Hast du deinen Tacitus gelesen? Wäre so ein Germane wie du bei ihnen herumgelaufen, sie hätten den Wüstling entmannt oder totgeschlagen als einen ganz gemeinen Schädling und Schweinehund. Ich erwarte von dir, daß du morgen deinen Austritt oder Rücktritt erklärst. Und solltest du dich ja noch einmal in unserem Hause zu Eisenach blicken lassen, so würde dich nicht mein Vater – denn er ist zu schwach dazu – wohl aber meine Schwester eigenhändig mit Maulschellen hinauswerfen!«

Dies war in Gangolfs Zustand die allerfühlbarste Beleidigung, die man ihm antun konnte. Das einzige weibliche Wesen, das er wirklich achtete, wollte ihn mit Peitsche und mit Maulschellen behandeln, verachtete ihn unsäglich. Er heulte fast auf, und ihn überkam jener erbärmliche körperliche Zustand, den die Studenten »das heulende Elend« zu nennen pflegen.

»Dorothea mich ohrfeigen – mich auspeitschen! – Hat aber Recht, hat tausendmal Recht! Ich bin ein Hundsfott!«

»Das bist du,« versetzte Uli unerschütterlich. »Ich sagte dir schon: du hast kein Gewissen, bist also weniger als ein Heide. Hat nicht auch ein Bauernmädchen eine Seele? Ist sie nur Körper für deine Wollust? Hast du überhaupt ein Gefühl dafür, daß es größeres gibt, als deine persönlichen Gelüste – etwa das Vaterland? Entzückt und erschüttert dich nicht, Mensch, der große Name Vaterland? Du hast nur in den letzten Teil des Krieges hineingerochen, um in allen Quartieren deiner Wollust zu fröhnen. Pfui! In mir kämpfen Ekel und Zorn. Laß jetzt meinen Arm los und schlafe deinen Rausch aus, damit ich dich morgen früh bei nüchternen Sinnen einen Schuft nenne, wie es schon meine Schwester tut.«

Immer wieder die Schwester! Ulrich spielte diesen Trumpf gut aus. Der Trunkene heulte jedesmal auf. »Bleib', Uli, bleib' du noch ein ganz klein wenig bei mir sitzen. Weißt du – es ist wahr – ich bin – was wollt' ich denn sagen – ich bin so voll Lüsten, daß ich nicht mehr drüber wegkomme – geht nicht – unheilbar. Zwang, Uli, ich muß! Keine Schürze ist vor mir sicher. In jeder Scheune, in jedem Stallwinkel – die gemeinste Magd – gerade die gemeinsten, üppigsten Weiber – oh, oh, oh! – – Weißt du – Weiber sich gewaltsam zu Diensten zwingen – und immer wieder andere – Mozarts Don Juan – unersättlich – – da hilft nur eins: mich totschießen! Und dann? Noch im Jenseits? Meinst du, daß dann meine Phantasie rein ist? Das weiß ich eben nicht, sonst hätt' ich mich längst totgeschossen. Denn – denn sie verachten mich alle, alle, besonders Dorothea!«

Er stöhnte laut und lag auf der Lehne der Bank. Dabei hielt er Ulrichs Arm immer noch fest. Eigentlich aber hielt Ulrich ihn fest, denn er gedachte ihn so rasch nicht aus dem Schraubstock zu entlassen.

»Wenn du zu einer wirklichen Reue fähig wärest« –

»Ach was, Reue! Eine Viertelstunde darauf pack' ich eine andere! Mit Zoten und Saufereien fängt's an, und die säuisch verdorbene Phantasie reizt mich zu säuischen Taten – und aus den Taten folgen nachwirkend neue Zoten – oh, du übst dein Ohr und Gedächtnis für unreines Denken genau ebenso, wie du dich praktisch in der Verführung von Mädchen übst! Oh, ich kenne das, ich kenne das!«

»Wenn du ein mittelalterlicher Katholik wärst, würde ich dir eine Romfahrt zum Papst raten« –

»Um als derselbe zurückzukommen? Keine Alpenbäche waschen mir die Seele rein!«

»Nun, so entschließe dich selber zu reinen Taten und besseren Werken und wasche drin dein züchtiges Leben wieder sauber! Zeuge Kinder, du Vater von Babettens Kind, und erziehe sie zu tüchtigen Menschen! Verwandle deine Wollust in schöpferische Werke und übernimm auch die Pflichten, die dazu gehören! Wirf dein Luderleben, das du mit dem Schein der Burschenfreiheit umkleidet hast, auf den Schutthaufen, denn es ist Schutt und nichts weiter! Was du für Kraft hältst, ist Verfall. Religion ist die Entschlußkraft zu höherem Ernst. Bist du überhaupt zur Inbrunst fähig – oder nur zur niederen Brunst? Was du jetzt von mir hörst, ist nicht nur meine eigene Meinung, es ist vielmehr der Widerhall der Gespräche, die ich zu Hause mit Eltern und Schwester geführt habe. Dich rettet nur eins: wenn du dich zu segnender und helfender Liebe aufraffen kannst!«

Und einmal warm geworden, schilderte Ulrich wortreich den Idealismus seines Vaterhauses. Sein Vater sei durchaus Idealist; Schiller sei sein Ideal. »Wie oft pflegt er zu sagen: königliche Menschen müssen wir werden! Nichts aber ist königlicher in uns unsterblichen Menschen als der Drang nach Vollendung. Der Verlagsbuchhändler Göschen, den Vater in seinen guten Tagen kannte, war ein Freund Schillers; der hat einmal meinem Vater erzählt, wie Schiller oft ihn und den Oberkonsistorialrat Körner, den Vater von Theodor, und andere mit hinreißender Beredsamkeit, ja mit Tränen in den Augen ermuntert habe, Menschen zu werden, die sich unauslöschlich in die Ehrentafel der Menschheit einzeichnen. Wenn mein Vater, der leider vergrämte, einmal so recht in Schwung kommt, dann wird er großartig. Meine Schwester stimmt in hellen Flammen bei. Und du, Arthur, was hast denn du getan, um dich in die Ehrentafel der Menschheit rühmlich einzuzeichnen?«

Als der Name der Schwester auch hier wieder auftauchte, richtete sich Gangolf halb auf und kam in eine Art von stumpfem Nachdenken, während Ulrich weitersprach; dann entschied er plötzlich: »Du – ich werde morgen nach Hause reisen. Du hast Recht. Ich werde nach Hause reisen. Studium ex! Sie soll mich nicht auf dem Marktplatz auspeitschen – – oh – Engel, Engel! Ja, ich bin ein Hund!«

Er sank wieder auf die Bank zurück, und das heulende Elend suchte ihn noch einmal zu packen. Aber es war schnell vorüber; er stand auf und gab Ulrich die Hand. »Freund Uli, wenn du plötzlich hörst, daß ich in Amerika gelandet sei – denk' gut an mich, Uli! Und sag' deiner Schwester Dorothea – sag' ihr – ich war nicht schlecht, aber die Teufel hatten mich in den Klauen und hatten mehr Macht über mich als die Engel. Du hast recht: schaffen, schaffen! Gottes Werk tun – und an Weiber gar nicht mehr denken! Sag' deiner Schwester – – ach Gott!«

Er stöhnte laut ans, drückte aber dem Freund fest beide Hände – und seine Gestalt verschwand gespensterhaft in der traurig stillen Nacht. Ulrich schaute seinem großen Schattenriß verwundert nach; denn es war in seinen Schritten keine Spur mehr von Trunkenheit.


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