Jonas Lie
Der Dreimaster »Zukunft«
Jonas Lie

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Zehntes Kapitel.

Fortsetzung.

Mortens ungewöhnliche Gaben und sein einfaches Wesen erwarben ihm allmählich Vertrauen, und es kam vor, daß er nach den ersten paar Jahren auch in Dingen, die außerhalb seiner Sphäre lagen, um Rat gefragt wurde, wenn es auch von Stuwitzens Seite immer in einem ironischen Tone geschah; – denn er hatte die Hauptschwäche des jungen Mannes, seine gar große Eitelkeit, sowie sein Vertrauen auf seine Talente erkannt.

Überhaupt herrschte im Hause ein sonderbares Verhältnis zu Stuwitz. Es war, als ob der plumpe Mann mit dem fast brutalen Gesichte unter den Augen Heggelunds und seiner Frau ganz klein würde, während in ebenso wunderbarer Weise unten im Laden seine Gewalt wieder zunahm. Er befand sich sichtlich unwohl, beklommen und kraftlos, als ob er das Gefühl davon hätte, daß er sich hier oben in der Familie, mit Ausnahme der Frau, nicht unter freundlichen Mächten sähe. Denn nicht nur aus Jungfer Dyring, sondern auch aus dem verschlossenen Wesen des Onkels Tobias blitzte es auf mancherlei Weise hervor. Wenn dieser mit Stuwitz redete, geschah es meistenteils auf eine gewisse überlegene, niederbeugende Weise, deren er sich sonst nicht bediente. So konnte auch Heggelund vom Sofa aus Stuwitz durch einen nachlässigen Wink mit der Pfeife zu sich rufen, und dieser stand dann fast in der Stellung des Gesindes vor ihm. Oder er klopfte Stuwitz mit einer gesuchten Vornehmheit auf die Schulter mit den Worten: »Mein lieber Stuwitz, wollten Sie mir wohl den Gefallen thun?« – und wandte sich ab, als ob die Antwort selbstverständlich wäre. Der alte Stuwitz verneigte sich dann seinerseits sehr ehrerbietig; aber unten im Laden konnte er danach stundenlang, die Hände tief in die Seitentaschen gesteckt, auf und abgehen und brummen oder pfeifen, während das graue Auge Blitze nach dem Hauptgebäude hinaufsandte und das blinde vor Erregung zitterte. Hin und wieder stampfte er auch wie auf etwas Unsichtbares, das er mit dem Fuße zertreten wollte.

Als Morten erst im Hause bekannt geworden war, merkte er, daß zwischen Heggelund und seiner Frau über die Art, wie Stuwitz behandelt werden sollte, eine Uneinigkeit herrschen müßte; denn – gegen ihre sonstige Natur – suchte sie oft das Betragen ihres Mannes durch irgend eine Freundlichkeit wieder gut zu machen. Es war das ein wunder Punkt, in dem sie mit ihrem Manne nicht übereinstimmte.

Dem alten Stuwitz fehlte es übrigens nicht auch an guten Seiten, und wenn ihm jemand nur recht unter die Augen zu treten verstand, so konnte Stuwitz ihm außerordentlich nützlich sein. Man mußte dann nur durchblicken lassen, daß man »auf der Ladenseite stände«.

Indessen besaß er, sobald er wollte, ein wahres Talent, Untergebene zu peinigen, und gegen Morten war er in diesen Stücken unermüdlich. Es war eine eigentümliche, überlegte Manier, gegen die man sich schwer zu wehren vermochte, durch welche aber jeder kleine Fehler zu einem stillen Beweise dafür erweitert wurde, wie wenig zuverlässig er im Grunde wäre. Wenn Stuwitz beleidigt wurde – und bei seiner menschenfeindlichen, bitteren Natur geschah es oft aus sonst unbegreiflichen Gründen – so verbiß er es zwar für den Augenblick, aber man konnte getrost darauf rechnen, daß aufgeschoben nicht aufgehoben war.

Als die Jachten in einem Herbste zum zweitenmale von Bergen zurückgekehrt waren, an welchen Fahrten Morten bisher jedesmal teilgenommen hatte, wurden von Stuwitz bei Tische die Fischpreise in diesem Jahre besprochen. Es hieß, sie wären kläglich niedrig gewesen, worauf Morten in aller Unschuld mehrere nannte, die, wie er wüßte, höhere Preise erzielt hätten, als die von der Bergener Kaufmannschaft nach Gewohnheit offiziell angegebenen, auf welche sich Stuwitz bezogen hatte. Heggelund wurde dabei sehr blaß, sagte jedoch nichts. Aber seit jener Zeit gab sich Stuwitz jedesmal Mühe, Morten bei den Fahrten nach Bergen von den dortigen Verhältnissen fern zu halten.

Als Morten im nächsten Jahr die Fahrt nach Bergen mitmachen sollte, sprach er vor Heggelund den Gedanken aus, er könnte von den vierzehn Mann, die zum Aufziehen des ungeheuer großen Raasegels nötig sind, fast die Hälfte durch Aufstellung einer Winde sparen. Heggelund gefiel diese Idee außerordentlich, und es schmeichelte seiner Eitelkeit, daß er die neue Reform auf den Jachten zuerst im Nordland einführen sollte. Aber hier scheiterte er an Stuwitz, der die Sache sehr ernst nahm, namentlich im Hinblick auf Morten, und erklärte, er hätte Alter und Erfahrung genug, um die Sache besser als ein großmäuliger, aufgeblasener junger Laffe zu verstehen, dessen vielerlei Projekte nichts als eitel Wind wären. Leute wären genug nötig, meinte er, sowohl zum Bugsieren bei Windstille, zum Umpacken der Fische, wenn man bei der gefährlichen Fahrt über das Stattmeer oben auf dem Bord die falsche Seite gewählt hätte, als auch sonst bei dem Fischhandel in Bergen. »Die Neuerungssüchtigen,« sagte er, indem er auf die Tonne schlug, daß es krachte, und auf Morten blickte, sollten jedenfalls nicht in das Geschäft kommen, so lange er es leitete.

Stuwitz stand unten im Laden – seinem eigentlichen Grund und Boden, – als er so redete, und dabei blieb es auch, trotzdem die Reform seitdem in Nordland eingeführt ist. Aber Heggelund hegte seit dem Tage noch bessere Gedanken über Morten und blieb fest entschlossen, ihm eine tüchtige kaufmännische Bildung zu teil werden zu lassen. – Er erblickte in ihm möglicherweise ein Paroli gegen den Menschen, welchen er am meisten auf Erden haßte, nämlich gegen – Thor Stuwitz.

Früher hatte Morten des Sonntags von dem Sohne des Pfarrers, der in Christiania gewesen war und ein glänzendes Examen gemacht hatte, Unterricht erhalten; jetzt aber wollte Heggelund, daß dies zweimal wöchentlich geschähe. – »Er könnte doch keinen völlig unwissenden Bauernburschen in einem größeren Handelshause unterbringen,« sagte er, und hiermit stimmte seine Frau vollständig überein.

Edel war ein sonderbares Mädchen, aus dem klug zu werden Morten schwer fiel. Er wußte nicht, ob sie ihn gern oder ob sie etwas gegen ihn hätte, nahm aber fast das letztere an. Ihr Gesicht war weder regelmäßig noch von einer mädchenhaften Schönheit, dazu waren die Züge zu charakteristisch; sie erinnerten, wenn auch ganz anders weiblich, ein wenig an die Mutter, und ihre Haarfarbe war außerdem dunkelbraun. Es bestand ein Widerspruch zwischen der noch etwas dürren, hochaufgeschossenen Gestalt, die sie größer erscheinen ließ, als sie wirklich war – und dem auffallend üppigen, dunklen Haar, das auf eine reiche und kräftige Natur deutete.

Sie war des Vaters Liebling und saß von ihrer Kindheit an täglich lange auf seinem Comptoir, wo sie spielte oder nähte. Durch das, was sie aus seinem Gesicht erriet, wurde sie nach und nach seine ahnungsvolle Vertraute auch in Dingen, die ihr noch nicht ganz klar waren, weil sie ihrem kindlichen Sinne zu schwer fielen. Er konnte sie nicht entbehren. Aufgewachsen zwischen dem Drucke des starken Willens ihrer Mutter und der im geheimen oft düsteren Laune ihres Vaters, hatte sie in ihrem Wesen etwas Zurückhaltendes bekommen, das einem jungen Mädchen sonst nicht natürlich ist, und oft den Eindruck großer Kälte machte, wodurch Morten sich zurückgestoßen fühlte. Ihre ältere, blonde Schwester Rosine war dagegen freundlich und zugänglich.

Dem allgemeinen Gerede nach sollte Edel, wenn sie bei ihrer älteren Freundin, Julie Schultz, zum Besuch war, ebenfalls lustig und munter sein; aber zu Hause merkte er nichts mehr davon, und was er sah, sprach ihn weniger an, weil er leider kein Verständnis dafür hatte.

Mit seinem guten Gedächtnis hatte er sich aus den Gesprächen mit andren ein ganzes Lager von fremden Wörtern gesammelt, die in seinen Ohren einen ganz besonders ansprechenden Klang hatten, und diese brachte er oft in seiner Rede vor. Edel war dahinter gekommen. Nun plauderte sie öfter mit ihm und spickte dabei ihre Rede mit allen fremden Worten, deren sie sich entsinnen konnte. Eine Zeit lang nahm er es ganz arglos auf; aber als er merkte, was dahinter steckte, fühlte er sich tief gekränkt. Seit dem Tage brauchte er kein fremdes Wort mehr.

Fand sich Morten auch in der ersten Zeit vielfach zurückgestoßen, so wurde er dafür doch an zwei Stellen desto fester angezogen: in seiner persönlichen Zuneigung zu Heggelund und in seiner Freundschaft zu dessen Neffen Andreas.

Heggelunds Schwester hatte es als ein großes Glück betrachtet, daß sich der Onkel ihres Sohnes annahm, der die Lateinschule in Drontheim und auch einen Versuch in einem dortigen Handelshause mit wenig Glück durchgemacht hatte. Heggelund bezahlte seine Schulden und nahm ihn nach dem Nordland, um den dortigen Handel zu lernen.

Hier gereichte Andreas dem ganzen Hause zu großer Freude; er haßte Stuwitz und bekam deshalb vom Onkel Taschengeld. Er konnte an einem arbeitsvollen Tage Wunder der Thätigkeit im Laden verrichten, ruhte dann aber auf seinen Lorbeeren sicherlich acht Tage lang aus, in denen er kaum einmal hinunter guckte. Er rettete Leute aus Lebensgefahr, war bei den Reisen nach Bergen flink an Bord der Jacht und so in vielem. Aber Warenpreise konnte er nicht behalten, und weitere Auskunft war bei ihm im Geschäfte nicht zu erlangen. In der letzten Zeit pflegte er oft zu erwidern, sie möchten Morten fragen; aber mitunter lag ein gewisser Mißmut im Tone. Er sah, wie dieser trotz der Mängel seiner Erziehung, und obgleich er so zu sagen die Bauerjacke noch nicht abgelegt hatte, mit sicherem Schritte so gut wie alles erobert hatte, womit er selbst, bei seinen leichten Gaben, seit mehreren Jahren nur sein Spiel getrieben hatte.

Was Morten andererseits so sehr für Andreas einnahm, waren dessen praktischer Blick und sein gutes Herz. Für einen armen Menschen hätte er in Ermangelung von etwas anderem – und er hatte unaufhörlich Mangel, obgleich er vom Onkel fortwährend Geld bekam – sich gern die Kleider vom Leibe gezogen. In seinem Benehmen trat eine gewisse muntere Leichtigkeit hervor, die Morten nicht genug bewundern konnte. Es schien überhaupt, als ob es für ihn keine Schwierigkeiten gäbe. Nur wenn er etwas Größeres vorhatte, ging es ihm immer so sehr unglücklich. In geringeren, alltäglichen Sachen, die mit einer einfachen Anstrengung, einer glänzenden Eingebung, oder einem energischen Sprung erreicht werden konnten, schlug es ihm dagegen nie fehl. Außerdem war er stets sauber gekleidet, von großer und schlanker Figur, und der feine Schnurrbart stand seinem hübschen, etwas sanften Gesichte sehr gut, – lauter Eigenschaften, die in der Jugendfreundschaft fast eine ebenso große Rolle wie in der Liebe spielen. Was für ein guter Kopf er eigentlich war, wurde Morten aus den vielen Plänen klar, mit denen er sich trug, und die ihn anfangs überaus blendeten. Später, nachdem er ihren Wert besser zu beurteilen im stande war, erblickte er darin freilich einen der Hauptfehler, die Andreas für das praktische Leben weniger tauglich machten. Aber seine Freundschaft erlitt dadurch keine Störung; dieselbe nahm vielmehr mit all den Schwachheiten, welche er nach und nach in Andreas Charakter entdeckte, immer mehr zu.

Andreas Heggelunds Vertrauen auf die Zukunft war unbegrenzt gewesen; nur durch Unglück war er ja aufgehalten worden. Jetzt, als er nach mehrjährigem Zusammensein mit Morten allmählich ein klareres Auge für die Bedingungen, welche zum Kaufmannsstande erforderlich sind, erhalten hatte, war sein Selbstvertrauen in diesem Stücke ernstlich erschüttert. Er befand sich in schlechter Laune und überlegte, ob er nicht zu etwas anderem als zum Handel tauglich sein sollte; es kam ja nur darauf an, das rechte Feld zu finden. Hätte er erkannt, daß ihm eigentlich die Grundbedingung zu jedem Arbeitsfelde fehlte, so hätte er sich zwar anfangs der Verzweiflung überlassen, sie aber dann vielleicht um so eher überwunden. Jetzt verfiel er nur darauf, seiner unbeständigen Natur eine andere Richtung zu geben und seinen sanguinischen Horizont durch ein anderes gefärbtes Glas zu betrachten.

Eines Tages vertraute er dem Onkel an, seine Natur wäre gar nicht für den Handel geeignet; er möchte ein Abiturientenexamen machen und studieren, wozu er schon lange Lust gehabt hätte. Auf der Lateinschule in Drontheim hätte er ja schon damals viel von dem dazu Nötigen gelernt, so daß er jetzt nur noch mit dem Sohn des Pfarrers zu repetieren brauchte.

In den ersten Wochen studierte Andreas außerordentlich fleißig und nahm Pensa durch, die sogar seinen Lehrer überraschten. Aber nach und nach ging es matter. Er machte eine Pause nach der andern und zuletzt sah es aus, als ob die Sache ganz einschlafen würde. Schon betrachtete man im Hause die Sache bei seiner alten Unbeständigkeit als aufgegeben, als Morten seinem Freunde zu Hilfe kam. Er erbot sich drei Abende wöchentlich nach der Ladenzeit aufzubleiben und ihm laut vorzulesen, und Andreas, der recht wohl fühlte, daß dies die Langeweile vermindern und ein Regulator des Studiums sein würde, nahm das Anerbieten an. – Es müßte so angenehm sein, sagte er, dazusitzen und zu rauchen, während der andere vorläse.

So ging es einige Wochen mit gutem Erfolg; aber nun begann Andreas wieder zurückzubleiben. Er ersann mancherlei; – bald war es zu früh, um schon die anderen zu verlassen, bald benutzte er die paar Stunden oben auf dem Zimmer mit der Pfeife in der Hand zu einem Geplauder über die Aussichten als Jurist, bald erklärte er wieder rund heraus, an dem Abend hätte er keine Lust zu studieren.

Eines Abends ließ Morten in aller Unschuld ein Wort fallen, das Andreas von neuem kopfüber in das Studium trieb; ärgerlich sagte er etwas hoffnungslos:

»Dann werden die andern nur wieder sagen, daß Sie nicht können.«

Morten sah ein, daß es verletzte Eitelkeit war, erkannte aber nicht, daß darin zugleich sein eigenes Urteil lag, das Andreas unwillkürlich aus seinen Augen las. – Andreas war Morten gegenüber, von dem er im geheimen geleitet wurde, empfindlicher, als er sich selbst gestehen wollte.

Einige Tage lang hatte er einen Anfall einer sehr düstren Gemütsstimmung. Bleich und krank lag er auf seinem Bette. Endlich rückte Andreas seinem bekümmerten Freunde gegenüber mit dem Geständnis heraus, er hätte schriftlich um Julie, die Tochter des Amtsrichters, die öfter und zuletzt zu Weihnachten im Hause auf Besuch gewesen, angehalten; er hätte sie schon seit der Zeit geliebt, da er zum Onkel gekommen und sie kennen gelernt. »Und jetzt,« – sagte er tragisch, indem er sich vom Bette erhob – »ist die Geschichte aus! – Der Bevollmächtigte beim Amtsgericht hat eine Stelle, ich habe keine, und sie hat deshalb geantwortet, wie ihr Vater wollte.« Er sähe nicht ein, weshalb er jetzt noch studieren und arbeiten sollte, es wäre ja doch alles dasselbe. – Als Andreas dies sagte, war sein Gesicht trübe und finster.

Morten that sein Freund außerordentlich leid; aber bei den letzten Worten spitzte er die Ohren – dahin durfte es nicht kommen. Und deshalb versetzte er ihm blindlings den alten Spornstich:

»Die Tochter des Amtsrichters glaubte wohl wie die andern, daß Sie nichts werden könnten!«

»So!« – versetzte Andreas langsam und tief gekränkt. Nachdem er einen Augenblick in bittre Gedanken versunken dagestanden, fügte er hinzu:

»Aber sie müßte doch jedenfalls eine andere Ansicht gehabt haben.«

Morten schwieg tapfer, trotzdem der Redner augenscheinlich ein billigendes Wort erwartete.

Da richtete sich Andreas plötzlich auf und sagte entschlossen:

»Heute Abend studieren wir, Morten.«

Die bleiche Julie Schultz kam wie früher zum Besuch. Die ersten Male herrschte freilich etwas Verlegenheit auf beiden Seiten; Andreas trug eine unglückliche Feierlichkeit zur Schau, was natürlich nur von ihr verstanden wurde, und sie wurde öfters rot, aber er wußte bald über diese Langweile hinwegzukommen und Scherz und Kurzweil fand wie früher statt. Daß sie die Sache offenbar ihrer Freundin, der mehrere Jahre jüngeren Edel anvertraut hatte, kam Morten unerhört treulos vor und konnte auch Edel in seiner Gunst nicht eben steigern. Wenn alles zu allem käme, – meinte er entrüstet – so hätten diese feinen Damen im Grunde doch wenig Herz – in diesem Stücke wöge Andreas allein sie sämtlich auf; sie wären seiner gar nicht wert.

Eines Tages sollte Edel zu den Nachbarn jenseits des Sundes, einem Paar wohlhabenden Schiffsleuten, die sie und ihre Schwester öfter besuchten, hinüber gerudert werden, und da kein anderer gerade da war, erbot sich Morten, sie zu rudern. Auf dem Rückwege schlug sie vor zu fischen, da zufälligerweise Angelschnüre und Haken im Boote lagen. Es geschah so und Morten zog die Ruder ein, während sie angelte.

Sie saßen ziemlich schweigend da. Wiederholt war Edel der Köder vom Angelhaken abgebissen und Morten hatte stets neuen daran befestigt. Da begann sie mit einemmale eifrig zu ziehen; sie hatte einen Dorsch daran. Als er hinauf kam, und Morten ihn vom Haken losgemacht hatte, nahm sie ihn aus seiner Hand und sagte plötzlich ausgelassen munter:

»Wem ist er ähnlich?«

Morten konnte es nicht sagen.

»Können Sie es nicht sehen – nicht erraten? – Ihm, der das Abiturientenexamen gemacht hat, dem Sohne des Pfarrers! – Es ist leibhaftig sein breiter Mund und die gelehrten Augen, die aussehen, als ob sie keine Lider hätten!«

Morten mußte lachen, denn es fand wirklich einige Ähnlichkeit statt. Aber es war, als ob sich Edel sofort wieder zusammennahm, und es ungesagt gewünscht hätte.

Einige Zeit darauf sagte sie, um doch etwas zu sagen:

»So haben Sie ja auch manchen Tag auf demselben Meere gesessen!«

»Ach ja – viele Male, aber mein Vater oder ein anderer war gewöhnlich dabei, eine Zeit lang kam auch meine Mutter mit; aber da war ich noch klein.«

Es lag etwas Sympathisches in dieser Antwort Mortens und deshalb sagte sie:

»Ja, Sie haben ja viel Trauriges in Ihren jungen Jahren durchgemacht.«

»Nicht wir Kinder, – aber Vater und Mutter haben viel Trauriges erlebt – sie richteten es immer so ein, daß das meiste Ungemach uns nicht berührte; – aber später errieten wir vieles.«

Weshalb diese Worte gerade sie so berührten, begriff sie nicht; aber sie versank offenbar in Gedanken und sah darauf auffallend schwermütig und fast niedergedrückt aus. Endlich sagte sie, als ob es zu dem, was sie dachte, mit gehörte:

»Ihre Mutter ist ja eine so prächtige Frau!«

Obgleich Edels Antlitz, wie gesagt, nicht eines von denen war, die Morten für die schönsten hielt, so sah er doch jetzt, daß es in einzelnen Augenblicken außerordentlich einnehmend sein konnte. Die Augen waren unter den dunklen Augenbrauen völlig schwarz geworden, während sie vorhin, als sie über den Fisch lachte, hellbraun geschimmert hatten; – und die Art, wie sie mit der Angel in den vom Salzwasser roten Händen da saß, war auch so wunderbar anmutig.

Als er sie nach der Landungsbrücke ruderte, starrte sie in Gedanken nach ihm hin; und es war ihm ein etwas kränkendes Gefühl, daß er für sie nur wie eine Rudermaschine, die Morten Jonsen hieß, da saß.


Die Nachricht, daß Norwegen vom König Oskar eine eigene Handelsflagge, statt der früheren gelben erhalten hatte,Es geschah 1844. lief buchstäblich wie Feuer in dürrem Grase über das ganze Land. Das Dampfschiff »Prinz Gustav« brachte die Bootschaft salutierend nach den nordländischen und finmarkischen Halteplätzen und erregte überall Sensation. Die nordländischen Jachten sollten nicht länger unter der gelben Flagge, sondern mit der eigenen Farbe des Landes am Hintersteven nach Bergen fahren; und derselbe Wechsel geschah an allen Flaggenstangen.

Aus dieser Veranlassung sollte ein Fest in Heggelunds Hause stattfinden, und die Reden sollten vom Rasen aus unter der Flaggenstange gehalten werden, unter Begleitung von Salutschüssen. Nach manchen Verhandlungen hin und her zwischen den Großmächten der Gegend wurde unter anderem die Reihenfolge der Redner bestimmt. Sie war das Ergebnis übertriebener Bescheidenheit und gegenseitiger Schmeicheleien, aber alle Teile fühlten doch, daß darin genug Zündstoff zu Beleidigungen lag.

Das Fest war auf Anfang Juli angesetzt, wenn die Jachten von ihrer Fahrt nach Bergen zurückgekehrt waren; und als der Tag heranrückte, war Andreas Heggelund die Thätigkeit selbst. Als er von der Tante erfuhr, daß der Bevollmächtigte, sein Nebenbuhler bei Julie Schultz, auch bei dem Feste reden sollte, geriet er in weniger gute Laune, und Morten merkte, daß etwas Besonderes vor sich ging, denn Andreas schritt am Abend eifrig im Zimmer auf und ab. Er gab zu verstehen, daß auch er an einer Rede studierte, nur wäre es wahrhaftig zum verzweifeln, daß er nicht recht wüßte, worüber es sein sollte. Bald fiele ihm das eine, bald das andere ein; wüßte er nur, worüber der Bevollmächtigte reden wollte! – »Und dann gehört Mut dazu, Morten!«

Der Tag erschien; mit Gästen gefüllte Boote fuhren in dichten Reihen über den Sund; die Jachten und Boote draußen in der Bucht flaggten, und im Garten schoß Andreas mit seinen Genossen die Kanonen zum zerspringen heiß. Andreas war den ganzen Tag über blaß und unruhig gewesen. Morten war ganz feierlich zu Mute; – nie hatte er ein solches Fest erlebt.

Der Garten war voller Leute, und um die Rednerbühne standen die jungen Damen mit flaggenfarbigen Bändern an den weißen Kleidern. Einige Hornisten bliesen das Königslied, und der Amtsrichter hielt die Rede auf den König. Dann kam das Lied »Norwegens Söhne« und darauf die Rede auf den Festtag, sowie auf die Männer, die für das Recht des Vaterlandes gekämpft hatten.

Die schönen Worte ergriffen Morten tief; als die Kanonen donnerten, war es ihm, als ob er die Erde nicht mehr unter seinen Füßen fühlte.

Nun brachte Heggelund den Toast »auf Nordlands Zukunft unter der neuen Flagge« aus, und ungeachtet die Rede nur kurz war, wurden diese letzten Worte mit endlosen Hurrarufen aufgenommen, wobei man die Gläser hoch in die Luft warf.

Zum erstenmale that Morten einen Blick in das Land der Poesie, das ihm in Morten vorgemalt wurde; er spielte nicht mit ihnen, sondern nahm die Worte für Wahrheit. Luft mußte er haben – und deshalb bat er Andreas Heggelund, ihm die Bedienung der Kanonen zu überlassen. Von dem Augenblick an wurden sie so pünktlich und ruhig bedient, daß man ihren Kommandanten hätte für einen phlegmatischen Holländer halten können.

Der Bevollmächtigte trat auf und hielt eine längere Rede auf die Frauen, – auf die Frauen als Mutter – hier grüßte er verbindlich Frau Heggelund – als Tochter und Braut, und gewann hierdurch besonders bei den jungen Damen großen Beifall.

Dies konnte Andreas nicht ertragen und, ehe er selbst sich dessen bewußt war, befand er sich zu Frau Heggelunds nicht geringer Überraschung auf der Rednerbühne. Ängstlich beklommen stand Morten neben seinen Kanonen.

In der Aufregung hatte Andreas mit einem halben Einwand gegen das Thema des vorigen Redners über die Frauen begonnen. Da er ursprünglich denselben Gedankengang gehabt hatte, mußte er mit etwas kommen, das wie eine würdige Fortsetzung aussah. Aber in einer solchen Lage war Andreas gerade an seinem Platze. Er geriet auf den glücklichen Einfall, nicht von der Frau im allgemeinen, sondern von der nordländischen Frau zu reden, – sowohl von der armen, die schwer arbeitet und den Mann mit dem Fischerboote zurückerwartet, als auch von der wohlhabenden, die den ihrigen mit der Jacht von der Fahrt nach Bergen zurück ersehnt. Er beschrieb eine gastfreie nordländische Hausmutter und malte deutlich genug seine Tante – und darauf eine blauäugige Jungfrau, blond und »rein wie Schnee« – das war natürlich Julie Schultz.

Glücklich schloß er zur rechten Zeit, und diese Rede auf die Heimat erntete endlosen Beifall.

Erhitzt vor Erregung stieg Andreas herab. Die Damen sammelten sich eifrig um ihn. Der Bevollmächtigte war völlig geschlagen und Julie Schultz konnte nur mit Mühe die Thränen in ihren Augen verbergen.

Der nächste, der ihm darauf die Hand reichte, war Morten – er sagte nur »Dank« und ging wieder zu den Kanonen. – Andreas schien in der Rede auch seine eigene Mutter auf der Insel Skorpen gezeichnet zu haben.

Unter vieler Lust und Freude wurde das Fest fortgesetzt; dann folgten noch einige Tage lang die Nachklänge des gesellschaftlichen Lebens innerhalb der Wände des Hauses.

Heggelund und Frau waren nicht wenig stolz darauf, daß die vielleicht beste Rede des Tages von ihrem Neffen gehalten worden war; – selbst der Amtsrichter hatte seine Überraschung über die Begabung des jungen Mannes ausgesprochen.


Andreas Heggelunds ungewohnte Energie hatte ihm allmählich Achtung bei Onkel und Tante verschafft, welche letztere großes Gewicht darauf legte, daß Student Sem eines Tages geäußert hatte, im Grunde wäre er ein merkwürdig guter Kopf, nur schade, daß er so viel Jahre vergeudet hätte. Sie meinten jetzt, daß Andreas ebensogut zum Studium wie zu allem andern paßte, und seine Aktien waren im Hause um hundert Prozent gestiegen. Als halb angenommener Sohn des Hauses wurde er auf die damals noch immer etwas vornehme Weise mit dem Dampfschiff nach Christiania geschickt, obgleich die Jacht gleichzeitig nach Bergen abgehen sollte.

Mit Hilfe eines Einpaukers bestand Andreas sein Abiturientenexamen »genügend«. Daß er das Genie der Familie war, galt jetzt als ausgemacht. Die Entfernung trug auch das Ihrige dazu bei, den Glanz zu erhöhen. Frau Heggelund sah ihn im Geiste schon als Amtmann in Nordland, und Heggelund begann den Neffen nach und nach mit denselben Augen anzusehen.



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