Gustav Leutelt
Der Glaswald
Gustav Leutelt

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9.

Im Predigerhaus gab es Veränderungen. Die alte Standuhr tickte nicht mehr an ihrem gewohnten Türplatz, sondern drüben im Ausgedingstübel, wohin sich Frau Beate mit ihrem Gerät zurückgezogen hatte. In der großen Stube aber wohnte die Siebeneichlerin; denn deren Hof lag seit vergangenem Herbst in Trümmern. Neben der Waldespforte war von ihm nur mehr ein wirrer Haufen zu sehen, aus dem hier und da eine gelbgestrichene Balkenseite der alten Wohnstätte hervorleuchtete. Die Witwe hatte verkaufen müssen und Schürer und Sohn waren eben dabei, die Talmulde des ehemaligen Anwesens für einen Stauweiher abzudämmen.

Frau Beate hatte eingegriffen. Mit dem alten Schürer ist ein Auskommen gewesen und 88 er zahlte so, daß die Witwe nach dem Verluste des Hofes vor Mangel geschützt war. Ihren Sohn ließ er die Stadtschulen besuchen und versprach, ihn später ins eigne Geschäft zu ziehen.

»Du kannst das schon annehmen,« hatte Frau Beate der Bäuerin geraten. »Der Alte ist ehrlich und hat er auch schon den Hof überzahlt, so fühlt er sich doch in eurer Schuld und will einiges von dem gutmachen, was der Herr Egon gesündigt.«

So war es gekommen und Leonhard besuchte seit zwei Jahren die Gewerbeschule in Reichenberg. Er war glücklich, seinem Hange zur Werktätigkeit nachgehen zu dürfen und kehrte immer ganz begeistert aus der Anstalt zurück. Heute war zum zweitenmal die Freizeit für ihn da und man erwartete sein Kommen.

Robert stand mit dem Mädchen im Türvorbau. Dort war das Geschlängel des Weges sichtbar, der wie ein helles Band ins Grün gelegt schien. Die langen Wiesenstreifen und die grauen Rainmauern zerschnitt er alle, aber nur selten geschah ihm ein gleiches durch vorgebaute Häuschen oder einen Baumwipfel.

Das Ausschauen blieb vergeblich, trotzdem die Beiden wetteten, wer den Ersehnten zuerst melden könne. Als sich die Schattenhände der 89 Tiefe bereits hoben, um nach dem Sonnengold der Höhen zu greifen, ereiferte sich das Mädchen:

»Er könnte längst da sein, auch wenn er nicht durch den Wald gegangen ist,« rief es endlich.

»Richtig,« gab Robert zu. »Wenn er nur nicht etwa drüben beim Dammbau herumsteht. Du weißt doch, wie eingenommen er dafür ist.«

»Zuzutrauen ist's ihm schon,« kam es zurück, »und du magst recht haben. Schön wär's freilich nicht, so auf sich warten zu lassen.«

»Und weißt du,« setzte das Mädchen nach einer Weile hinzu, »jetzt sehen wir, ob er wirklich dort ist und dann soll ihn die Mutter ausschelten.«

»Ja und wir gehen am Waldrande hin, daß er uns nicht zu früh sehen mag. Ist er dort, sind wir ihm dann wie der Wind auf dem Nacken.«

Sie gingen über die Brache gegen den Waldsaum empor. Das seidige Geraschel der wehenden Rispenhalme flog ihnen nach wie Libellengehusch und verbarg sich immer wieder schnell im Fluddern des Windes. Dafür holten die Wipfel oben weiter aus mit ihrem Gesause und führten die Sache so ausdauernd, daß einzig der Rauschebach ihnen zeitweilig über war und zwischen den Stämmen herausdröhnte, wie ein allzu eifriger Organiste in die letzten Worte des Predigers. 90

Die Kinder waren an dies Zusammenklingen so gewöhnt, daß es sich ihren Sinnen kaum bemerkbar machte. Weit eher schien der helle Drosselton bei ihnen obenauf oder sie liefen den weißen Wollflöckchen der Samen nach, die im Winde zogen. Alle nahmen sie die gleiche Richtung; nur der weiße Schmetterling taumelte ganz eigensinnig dem Windchen entgegen.

Das Mädchen war noch immer aufgebracht.

»Du bist auch so Einer,« rief sie und schlug mit dem Tüchlein nach dem Flatterling; der aber stieg in die Wipfel empor, gaukelte vor, tändelte zurück und schwebte endlich durch eine Lücke gegen das Abendhimmelblau, das sich über den Wald spannte.

Unwillkürlich blickten die Kinder ihm nach, bis er entschwand. Dann sahen sie einander an und lachten.

»Ja,« meinte der Knabe, »er ist auch nicht unterzukriegen, wie der Leonhard selbst,« und das Mädchen pflichtete bei:

»Den Kopf hat er vom Vater. Was er will, das bringt er auch durch.«

Und dann setzte sie hinzu: »Jetzt müssen wir aber aufpassen, daß er uns nicht da unten vorbeiläuft.« 91

Damit eilte das Pärchen weiter, immer vorsichtig zwischen den Stämmen verweilend, damit es vom Wege nicht so leicht gesehen werden konnte. Bei den sonnendurchleuchteten Mückenschwärmen, die scharf und klar gegen die Helle draußen standen, sowie den glitzernden Spinnenfäden hielt es sich nicht auf und auch die glühenden Sonnenlichtbänder zwischenher drückten umsonst ihre warmen Küsse auf Stirnen und Nacken. Zuletzt sah schon die braune Matte des Holzschlages herein und hinter ihr winkten die Stämme der jenseitigen Baumwand. Nur die vertrauten Hausdächer daneben fehlten und der Blick konnte hinausgehen über dunkle Wälderzüge und massige Felstürme der Weite.

Die Augen der Kinder sahen nicht dorthin; sie blieben an dem Gewimmel haften, das unten in der Mulde hin und wider wogte. Der braunen, tiefen Furche hinter dem Wassersturze entstiegen Scharen von Arbeitern, die gefüllte Schubkarren aufwärts schoben, während neben ihnen andere mit leerem Gerät niederstiegen. An den Enden der Furche aber häufte sich der Schutt bereits zu Hügeln und davor rollten auf Schienen gewaltige Steinwürfel aus dem Waldinnern heran. Es war sonderbar, von oben aus diese Emsigkeit 92 niederzusehen, ohne von den begleitenden Geräuschen mehr als ein unbestimmtes Murren zu vernehmen.

Die Beiden blickten nicht zum erstenmal auf dies Durcheinander hinab. Sie waren hier gestanden, als noch der Feldmesser dort unten sein Wesen trieb und hatten das Kommen der Arbeitsleute und Anfahren der Werkzeuge gesehen. Als man aber damit begann, durch die schöne, reinliche Wiesenmulde jenen häßlichen, braunen Graben zu ziehen und die Schuttberge zu häufen, war ihnen die Zerstörung leid geworden und sie blieben aus. Auch heute füllten sich die Augen des Mädchens mit Tränen und um ihren Mund zuckte verhaltenes Weinen, als sie die fortschreitende Verwüstung der lieben Stätten sah. Der Knabe gewahrte dies und schien froh, als er sagen konnte:

»Dort steht er.«

Die Antwort wollte mit einem Schluchzen hervorbrechen; doch das Kind bezwang sich und nur die quellenden Tränen mußten fortgewischt werden, bevor es ausschauen konnte, wohin der Arm des Gefährten wies.

Vor der Bauhütte stand der Bruder neben dem Aufseher und die Gebärden der beiden verrieten, daß sie in ein Gespräch über die künftige 93 Höhe des Staudammes geraten waren. Dem Manne gefiel die Wißbegierde des Jünglings augenscheinlich und dieser nahm dafür alle Erklärungen mit Lebhaftigkeit entgegen.

Das Mädchen stampfte mit dem Fuße.

»Der kommt noch lange nicht. – Ob er uns hören kann?«

Und es rief angestrengt durch die hohlen Hände hinunter.

»So hilf doch!« wendete es sich darauf an den Knaben, da nichts zeigte, daß man unten höre; aber auch dessen Stimme drang nicht hinab.

Abwechselnd erst und dann gemeinsam schrien die Kinder sodann mit ganzer Kraft; doch nur ein schwaches Echo kam vom jenseitigen Hang herüber.

»Holen wir ihn,« entschied die Kleine endlich, warf ihr Schürzchen über die Schulter zurück und setzte zum Sprunge durch die Heidelbüsche an; aber der Gefährte hielt sie auf.

»Na, was?«

Statt zu antworten, zeigte der Knabe nur wieder nach der Mulde hinunter. Von der Talseite her kamen zwei Männer, die da und dort stehen blieben und von denen der eine mit 94 erhobenem Arme Richtungen wies und manches zu erklären schien.

»Der Vater mit dem Ingenieur,« sagte der Hinabdeutende mißvergnügt. »Warten wir noch.«

»Das kann aber lange dauern,« gab das Mädchen zurück.

»Macht nichts. Sie gehen schon wieder, weil der Papa noch für morgen die Befehle auszugeben hat.«

»Er ist wohl sehr streng, dein Papa?«

»Ja, wir fürchten uns vor ihm.«

»Wer fürchtet sich?«

»Nun, die Mutter und ich. – Wir beide.«

»Dein Großvater auch?«

»Nein. Aber der hat ihn auch nicht gern. Er sieht ihn immer an, wie, wie . . .«

Der Knabe konnte nicht weiter kommen; aber es tat nicht not. Das Mädchen hatte auch so verstanden und es nahm die Hand des Gefährten und streichelte sie mitleidig.

Die Wipfel über den Kindern standen ruhig und ihr Rauschen schlief gebändigt in den Zweigen. Nur von der Hantierung unten kam bisweilen ein Ton zwischen den Stämmen herein und drängte sich in den Augenblick. Die Gedanken der Kinder spannen Fäden hinab zu den Männern; 95 doch nur mitunter lüftete einer die Decke seines Schweigens . . .

»Er sieht sie kommen.«

»Ja, dein Vater spricht jetzt mit ihm.«

»Das wird nicht lang dauern.«

»Warum?«

»Weil Papa keine Zeit dazu hat.«

―――

»Siehst du, sie gehen schon . . .«

»Es ist wie zu Hause. Fürs Geschäft hat er Zeit; für uns nicht. Kommt er einmal, so stecken seine Taschen voll Zeitungen und er liest, statt mit uns zu reden. Die Mama will es nur nicht gestehen, wie sehr sie das ärgert . . .«

»Jetzt kommt auch dein Großvater.«

»Ja, und da werden sie gleich streiten.«

Es war sonderbar. Als der große, schöne Mann vorhin zwischen die Arbeiter trat, hatten diese kaum den Kopf nach ihm gewendet. Jetzt flogen überall die Mützen herunter, die Leute hielten mit ihrer Arbeit ein, stützten sich auf die Schaufelstiele und schienen in Gespräche zu geraten, wenn der alte Herr zu einer Gruppe trat.

Das Mädchen bemerkte dies.

»Und der Großvater wird dabei genug mit den Leuten herumwettern,« war die Antwort. 96

»Aber die merken doch, daß er es trotz seines Brummens gut meint und sind anders gegen ihn . . .«

Auch hinter dem alten Herrn her wurde noch geredet und erst das Hinzutreten des Aufsehers zwang die Leute in die Arbeit zurück; aber sie hatten das Dasein des alten Mannes doch unverkennbar als eine Erfrischung in ihrem einförmigen Tagwerk begrüßt und das empfanden selbst die beiden Kinder unter den Bäumen oben.

»Er ist ganz anders,« sagte das Mädchen.

»Ja, aber der Vater will nicht, daß er so zu den Arbeitern steht.«

Während Robert noch redete, war der alte Schürer zum Sohne getreten. Leonhard hatte sich seitab gestellt und die Kinder oben schwiegen, als wollten sie vernehmen, was sie unten sprachen. Aber dann fing der Knabe plötzlich hell zu lachen an und rief:

»Gleich wird es losgehen.«

»Warum denn?«

»Siehst du nicht, wie der Großvater immer die Hand hinter dem Rücken schüttelt? Das ist das Zeichen, wenn er bös werden will. Paß nur auf!« 97

Unten wurde das Gespräch augenscheinlich lebhafter und merkwürdigerweise hatte der Ingenieur gerade jetzt besonders viel mit dem Aufseher abzumachen und ging beiseite. Die Herren redeten noch Einiges, aber dann schien der alte Mann mit einem Ausholen gegen die tiefe Dammgrube hin seinem Sohne plötzlich etwas Unsichtbares vor die Füße zu werfen, winkte noch einmal abweisend und lief kurzerhand davon.

»Da siehst du's,« hatte der Knabe noch gesagt, dann zog er das Mädchen fort. Unten war Leonhard eben nach dem Wege gelaufen und die Kinder beeilten sich, vor ihm dort anzukommen. Das Heidekraut am Waldsaum splitterte unter den eiligen Tritten, die Sohlen wollten auf der glatten Grasnarbe der Brachwiese gleiten und dann trennte beide Hastenden die Furche des Kartoffelackers, um den nicht anders herumzukommen war.

»Nach dem Kreuzstein!« hatte das Mädchen gerufen, dann ging es wie der Wind dorthin und die Kinder standen bald atemlos hinter seinem schützenden Rücken.

Die Überraschung mißlang aber doch; kaum hörten sie die Schritte des Kommenden, als auch schon dessen Ruf mit heranwehte. 98

»Verkriecht euch nicht; ich habe euch doch schon laufen gesehen.«

Das Türlein des eingelassenen Holzkästchens klappte vernehmlich an den Stein; aber das altersschwache Kruzifix in dessen Hut wurde erst durch das Ungestüm des Heranstürmenden zum Schwanken gebracht. Es half den Kindern auch nicht, als sie nach der anderen Seite rannten; denn ebenso schnell schwenkte der Kommende und sie liefen ihm nur in die Arme.

Das Mädchen wollte bös dreinsehen und schmälen; Leonhard aber ließ sie nicht zu Worte kommen.

»Weißt du schon,« wandte er sich an den Knaben, »daß ihr keinen Steindamm baut?« Und auf das verneinende Kopfschütteln des Befragten setzte er hinzu: »Einen gewalzten Erddamm wird es geben. Der neue Ingenieur hat berechnet, daß ein solcher viel billiger ist und das gibt den Ausschlag.«

»Was sagt der Großvater dazu?« schob Robert zwischen die sprudelnden Worte.

»Der alte Herr Schürer? Der wurde bös, sprach von einem Unglück und dann ist er fortgelaufen. Aber er wird es sich wohl noch überlegen, bevor er diesen großen Nutzen zurückweist«. 99

Die Kinder sahen einander bedeutsam an und blieben auch nachdenklich, als der Jüngling noch immer begeistert von dem neuen Vorhaben sprach, von Pfahlrosten, Schüttungsmaterial und Rohrstollen schwärmte und amerikanische Bauweise und Dampfwalzen durcheinander warf, von denen er vorhin gehört haben mochte.

Erst als das Mädchen im Weitergehen frug, ob es ihm so gar nicht leid sei, daß jetzt alles dort verwüstet werde, schwieg er eine Weile betroffen. Dann aber zuckte er die Achseln und sprach:

»Das ist einmal so. Fortschritt muß sein, wenn er auch manchmal weh tut. Und denkt doch an allen Nutzen, den das bringen soll.«

Über dem Abendhimmel lastete nun eine Grauwolke und die Strahlenbüschel der Sonne kämpften sich nur mühsam zwischen ihrem zerrissenen Saum hervor. Schatten breiteten sich über die Wälder und das Auge blickte sehnsüchtig den Lichtinseln nach, die über ferne Rücken zogen, Wiesen smaragdgrün leuchten und die Scheiben der Häuschen glänzend machte. Die Farbe der Schwermut senkte sich über das abendliche Tal. 100

 


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