Gustav Leutelt
Der Glaswald
Gustav Leutelt

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8.

Es ging in allen Schleifstuben um, an den Wegscheiden raunte es und drang durch verschlossene Türen, Zäune und Hecken von einem heranziehenden Unheil, das man nicht kannte, nur erahnte und nicht abzuwenden war. Manche glaubten, es werde von außen kommen wie Krieg und Pestilenz, andere wieder, es sei schon mitten im Dorfe und werde unvermutet ausbrechen wie 76 fressendes Feuer. Zuletzt wollte man einen Fingerzeig darin sehen, wie der Siebeneichler-Bauer mit dem alten Herrn so aneinandergeraten war, daß deren streitende Stimmen noch über das Dröhnen der Radstuben her geklungen waren. Und der alte Schürer hatte sich des starrköpfigen Bauers wegen so aufgeregt, daß er krank geworden war und das Bett hütete.

Dann brach der Morgen gerade so taufrisch und strahlend herein, als ob die Unheilswolke in Nichts zerronnen sei. Die Schwalben flitzten vor dem blauesten Himmel dahin und aus den Wiesen sog die Sonne würzigen Duft empor. Noch war etwas von der leisen Herbheit der Morgenfrühe da; aber die Schatten reckten sich nicht mehr lang aus, und noch immer kam der Bauer nicht aus der Scheune.

Vor einer Stunde war der Brief gekommen und der Bauer hatte ihn nach dem Lesen zerknüllt in den Hosensack geschoben. Dann war er nach der Scheune gegangen; aber man hörte kein Geräusch seiner Hantierung von dort. Als die Bäuerin endlich nach ihm sah, stand er stocksteif mitten auf der Tenne; nur einen Kälberstrick hatte er vom Nagel genommen und drehte ihn in seiner Linken her und hin. 77

Auf den Anruf der Frau warf er den Strick in eine Ecke und ging ohne ein Wort nach dem Holzschlage. Aber schon auf der vom Abfahren zerwühlten Brache davor litt es ihn nicht in dieser Richtung. Bloß einen scheuen Blick warf er gegen die braune, nadelübersäete Schlagfläche, auf der zwischen Strunkungetümen nur noch der argzerzauste und geknickte Kleinwald der Heidelbüsche dahinstand, dann wendete er sich der Schlagwand des Nachbarforstes zu und verschwand unter den Stämmen.

Wie banges Raunen war es ihm vom Waldsaum nachgehuscht. Er hatte jene helleuchtenden Wunden gewahrt, die den Randbäumen von stürzenden Genossen geschlagen waren, und dieser Anblick, den er sonst kaum beachtet hätte, vergiftete ihm auch die Zuflucht. Wehklagte es nicht hinter ihm drein, als ob er auch diesem Waldfrieden Vernichtung bringen könne?

Nur tiefer hinein, wo er die Axtschläge hinter sich nicht mehr zu hören braucht. Aber auch hier Lücke an Lücke in der bergenden Wälderdecke: vom Sturm gebrochen, vom Eise gerissen, von Menschenhand geschlagen. Rot leuchten sie herüber unter ihrer dörrenden Nadelstreu wie frische Wunden. 78

Und wie sein Schatten neben ihm aufsprang, hier am Stamm, dort an der Felsstirn und wieder ins Dunkel entglitt, so wollen all die schlimmen Gedanken ihn wieder umstellen, die jener Brief gebracht hatte.

Es war doch wahr geworden, was der alte Schürer im Zorn gerufen: »Will er ins Verderben rennen, so ist das seine Sache. Gewarnt ist er worden.«

Ja, der Mann hatte es redlich gemeint. Aber die verfluchte Hitze . . .! Und warum war er auch gleich so herrisch dahergekommen und hatte aufgetrumpft mit Worten wie »harter Bauernschädel« und Ähnlichem. Und letzten Endes ists doch seines Sohnes Rat, der das Unglück gebracht hat.

Wie ihn die Betrüger hingehalten haben mit schönen Reden und Vorspiegelungen, und jetzt, wo er der Löhne wegen sein Anwesen so schwer belastet hat, wird mit dürren Worten gesagt, man könne nicht zahlen. Konkurs – Ausgleich – was weiß er. Schon sieht er es kommen, wie er mit Weib und Kindern vom väterlichen Hof gehen muß. Und er wird das nicht überleben.

Vorhin, in der Scheune, hätte es geschehen sollen, so wäre jetzt alles für ihn vorüber. 79

Es wird ihm auch nichts anderes übrig bleiben.

Verstört eilte er weiter. Hatte er sich vorhin unter den Wipfeln bergen gewollt, so bedrückte ihn jetzt die Enge zwischen den Stämmen und er eilte jedem Riß entgegen, der eine freie Weite ahnen ließ.

Als er hinaustrat, schrak er fast zurück, so jäh stürzten die Felswände vor ihm ins Tal. Die Lüfte spannten darüber ihre abgründigen Weiten und oben über den Hochmooren der Rücken dichteten sich Dünste zu einer Wetterwand. Unter dieser floß der Wald wie ein dunkles Bahrtuch vom jenseitigen Hange nieder.

Wie wohl wäre ihm unter solcher Sargdecke! Da, hier – ein Sprung nur vom Rande – und von sausenden Lüften erschlagen sänke er in eine stille Felskluft.

Und was hält ihn immer wieder von der Tat ab?

Der Gedanke an Weib und Kind ists nicht allein. – Das Grab in der Selbstmörderecke vielleicht? Ah, pah!

Und doch kämpft immer etwas durch all' den Schlamm zu ihm empor, den das Leben über seine Seele gehäuft hat. Wie vom Grunde einer trüben Lache her blickt es nach ihm mit Augen; 80 Augen, die er schon oft in ernsten Stunden auf sich gerichtet fühlte: seines Vaters Augen.

Er erkennt sie und weiß auch plötzlich, wo er sie so gesehen hat. Genau erinnert er sich jener Morgenfrühe, als der Vater die Nachricht empfing, der Vetter Prediger habe sich erhängt. Er sieht noch das unwillige Aufblitzen jener Augen und hört den verächtlichen Ton der Vaterstimme, als sie anhob:

»Er war zu feige, um durchzuhalten.«

Feig? Nein, das ist er nicht. Es gehört doch auch Mut zu dem freiwilligen Sprung aus dem Leben. – Aber wahr mag es schon auch sein, daß ein noch größerer Mut zum Weiterleben gehört, wenn man ins Elend gehen soll durch eigene Schuld.

Und ist sonst keine Rettung?

Der alte Schürer würde helfen; aber der Mann ist herrisch und er müßte die Hilfe mit seinem ganzen Bauernstolz bezahlen. Demütigen wird er sich müssen.

– Zähne zusammenbeißen und gut! Er will es tun; jetzt, gleich . . .

Aber die Arbeiter sollen damit aufhören, seine letzten paar Stämme niederzuschlagen. Löhne auszahlen und fortschicken; dann gleich zum alten Herrn. 81

Und Gott ja, die schöne Großmutterbuche, sein Stolz von je – vielleicht sind die Leute gerade dabei, sie zu fällen. Oh, er wird laufen, über den Riegel, daß er noch zurecht kommt.

Heidelgestrüpp splittert, Farrenwedel knicken unter seinen Füßen, im Jungholz brechen die dürren Äste, wie er hastend an ihnen hinstreift.

So ein Baum! Ein Leib, wie aus riesigem Stahlrohr gehämmert, Astglieder, wie kräftige Stämme und ein Wipfel, der über die höchsten Fichten hinausreicht. Sein Laubfall färbt im Herbst den ganzen Hügel braun.

Er wird, er muß noch zurecht kommen, um ihn zu retten.

Da ist er schon an der Natterwand; jetzt nur noch wenige Minuten aushalten. Das Murren aus der grollenden Wand hinter ihm scheint ihn zu beflügeln. Jetzt fliegt auch schon der erste Schein um die Baumzacken.

Nun hört er die Säge gehen, nun die Axtschläge. Gottlob, da ist er! Sie steht noch, sie steht. – Er überspringt Reisighaufen und winkt und ruft in atemloser Hast. Aber auch von drüben hebt ein Rufen und Winken an und ein Geschrei. Dann ist es, als komme ihm der 82 große Baum entgegen. Vor seinen Augen flammt es auf wie Blitzeslohe und mit dem Krachen des Donners versinkt alles um ihn.

* * *

Die Kinder rannten bergan; aber sie liefen nicht um die Wette. Bereits näßten einzelne große Tropfen die Wegsteine und in den Ahornblättern mehrte sich das Ticken. Unter der blauschwarzen Gewitterwand droben aber begann es gelb und grau hervorzusteigen und der fliegende Dunst schluckte nacheinander die Waldhänge ein, deren Wipfel sich zusammenzudrängen schienen.

Als die Tropfen schon häufiger kamen und den Kindern ins Gesicht klatschten, fing der kleinste Junge zu weinen an; aber die Rennenden achteten kaum auf ihn. Nur das Mädel des Siebeneichler-Bauers blieb unter dem Schutzdach der Bildesche stehen und erwartete den Betrübten.

Mit wenigen Worten stillte es das Geschrei des Barhäuptigen, hängte ihm schnell sein Schürzchen über den Kopf und riß ihn mit sich fort. Wohl hatte sich zum Regen auch der Wind gesellt, doch jetzt fühlte sich der Kleine unter dem Schutz des Mädchens sicher und selbst als ihm 83 der nächste Stoß beißenden Rauch in die Augen trieb, jubelte er laut; denn der kam vom Herdfeuer seiner Mutter. Er war daheim und stand mit dem Mädchen bald in der offenen Haustür.

Vor den Augen der Kinder versank das Tal in Regenschleiern, die als undurchdringliche Decke von den Wolken niedergingen. Immer mehr graute alles zu einer einzigen Wand zusammen, die näher zog und selbst den alten Ahorn vor der Tür undeutlich machte. Aber dann brach mit einemmal von hinten ein lichter Schein hervor und der Sprühvorhang draußen wurde durchsichtiger. Zwar träufte es noch immer durch das Zweigdach des Baumes und hinter jedem Windstoß tickten Tropfenschauer; doch die Flut schien bereits im Abziehen und das vorhin heranziehende Gewitter war nicht erst zum Ausbruch gekommen.

Die Kinder standen noch und schauten, als vom oberen Rain eine Frauengestalt herkam. Sie hastete gebückt vorwärts und die Zipfel ihres schwarzen Umhängtuches flatterten hinter ihr wie dunkle Schwingen. Kaum hatte das Mädchen die gegen den Wind Kämpfende erblickt, als es schon durch den Sprühregen zu ihr eilte.

»Muhme, geht ihr zu uns?« 84

Die Frau mußte sehr in Gedanken gewesen sein; denn sie schrak vor dem Anruf zusammen und stieß hervor:

»Wer? So, so, du . . .?« Und erst nach einer Weile setzte sie hinzu: »Ist zuhause nichts . . .«, brach aber wieder ab, als besänne sie sich, griff nach der freien Hand des Mädchens und zog dieses eilig fort.

Unter dem Tuch der Muhme hervor erzählte das Kind nun, wie der Vater heute einen Brief bekommen habe und darauf aus der Scheune in den Wald gelaufen sei.

»Friert euch denn?« fügte es hinzu, weil die Hand der Frau plötzlich zu zittern anhob; aber die Muhme war heute so sonderbar und gab keine Antwort. Sie eilte nur noch rascher dahin und das Kind hatte Mühe, an ihrer Seite zu bleiben.

Als sie dann oben waren, ging auch das Rieseln des Regens zu Ende; dafür wälzte sich schwerer Nebel von den Höhen herab. Wie blasse Traumschemen stiegen die Bäume aus dem Dunst, der sich im Genadel so recht festzusaugen schien. Erst als ihn der Wind durchblies, flatterte er zwischen den jenseitigen Stämmen hervor und zog in grauen Schwaden über die Fläche des 85 Holzschlages gegen den Bauernhof. Aber noch anderes kam mit dem Nebel daher: eine Gruppe von Männern, die etwas trugen. Und wie das Dunstgrau einen Augenblick seitab wehte, war ein Weib bei ihnen zu sehen, das seine Schürze gegen die Augen drückte.

»Mutter, Mutter!« rief das Kind sogleich und die alte Frau blieb mit einem Ruck stehen, wobei sie murmelte:

»Ich wußte es. Oh, ich wußte es!«

Der windgetragene Graudunst verhüllte die Träger wieder, aber dann kamen sie gleichzeitig mit den Beiden vor der Haustür an. Der Bauer lag aus Reisig gebettet und über seine Stirn zog sich ein furchtbarer, roter Streifen bis weit in die Haare hinein. Er hielt den Mund geöffnet, als wolle er noch rufen.

Die Bäuerin zitterte an allen Gliedern und konnte kein Wort sagen. Das Kind stand scheu neben der Leiche und streichelte deren herabhängende Hand. Erst als es ihre Todeskälte fühlte, brach es in Weinen aus.

Beate führte die Bäuerin in die Stube und wollte einen der Männer nach Morchenstern um den Arzt schicken. Ein alter Mann unter den Holzleuten aber sagte: 86

»Das können sie; der Doktor wird aber nur einen Toten besehen. Wenn ihn auch der Ast bloß gestreift hat, so kann doch kein Leben mehr in dem Herrn sein. So ein Schlag ist zu arg.«

Er gab dann unaufgefordert einen Bericht über das Unglück:

Sie hatten eben die letzten Keile eingetrieben und des Berstens im Holze wegen mußten sie überhören, daß der Bauer gerade in der Fallrichtung herkam. Ihr eigenes Rufen und Winken konnte dann nichts mehr helfen; denn er rannte wie toll weiter, gerade in den fallenden Baum hinein und wäre der Ast stärker gewesen, so müßte der ganze Kopf des armen Herrn hin sein. Er habe dann die Bäuerin geholt, was ein schwerer Gang gewesen sei und möchte jetzt wissen, ob sie ihn hineintragen sollen.

Die alte Frau hatte nun die Stelle des Toten auszufüllen. Sie richtete ein, was nötig schien, ließ den Bauer auf sein Lager betten und half und tröstete die Lebenden. Nur, als sie sich auch des hungernden Viehes erbarmte, blieb sie einen Augenblick in der Stalltür stehen und wiederholte:

»Ich wußte es. Das Glöckl läutete dreimal. Es war nicht umsonst.« 87

Draußen wogte noch immer der Nebel vorbei. Dunkel und Licht und Blauschimmer und eine Ahnung von Rot glitten vorüber, wie die Schwaden hinzogen. Und eine unheimliche Stille schien in dem Nebel zu kommen und den Bauernhof einzuspinnen. Man ertastete sie förmlich in der dicken Luft.

 


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