Gustav Leutelt
Der Glaswald
Gustav Leutelt

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1.

Das Weiß des Sturzbaches bindet alles aneinander: die Bäume und Steinblöcke und die Wiesen an den Hängen. Und dann scheint es, als ob ein Kind seine Spielschachtel in die Schlucht ausgeleert habe, so stehen die Häuschen kreuz und quer um den Bach. Ganz oben über dem letzten Wassersturz ist der freie Himmel; doch deuten Wipfelspitzen, die in sein Blau ragen, auf einen Höhenzug hin, der weiter zurückliegt.

Die Häuser sind zur Hälfte aus Holz gezimmert mit weißen Fugen zwischen den Balken, die Spalten der Brettergiebel bloß durch aufgenagelte Leisten in verschiedenen Mustern gedichtet. Jedes dieser Häuschen aber hat noch einen niedrigen Anbau, der immer nach der Bachseite zu liegt.

Unten in der Talbiegung steht auf halber Hanghöhe ein großes, villenähnliches Gebäude. Es ist ganz aus Holz und mit Schnitzereien geziert; die Fenster des Erdgeschosses werden vom Gesträuch des Vorgartens verdeckt. In seine Dachstirn ist eine Uhr eingefügt, deren goldene Ziffern eben in der Morgensonne erglänzen. 6

Auf den Blättern liegt noch ein feuchter Frühhauch; aber die warmdurchsonnte Luft lockt ihn in ihr Reich zurück, wohin bereits seine zartesten Schleier schweben. Die wirken Weichheit in die Kronen der Bäume und die Farben der Gewächse verschwistern sich unter ihrem Einfluß und wollen verschmelzen wie Liebende, die einander umarmen.

Von dem großen Haus kommt ein alter Mann mit einem Knaben her. Beide haben die weißleuchtenden Abstürze des Baches leis verschleiert vor sich; aber kein Rauschen dringt noch von dort herüber. Dafür ist ein Etwas da, ein Tönen, das aus dem Boden zu kommen scheint. Es murrt, poltert, stößt und stampft unter mitgehendem Scharren und Geplätscher. Dann wieder huscht es wie Getuschel über einen bohrenden Ton hin, während Schauer dem Brausen folgen. Erst wenn man von der Böschung des Fahrweges auf das nächste Häuschen hinabsehen kann, merkt man, daß jenes Vielerlei von Geräuschen aus dem kleinen Anbau dringt, der auch da nicht fehlt. Nur schmelzen in der Nähe alle diese Laute zu einem hohlen Dröhnen zusammen, das fast gleichmäßig schwillt und wieder absinkt.

Der alte Herr hält sich nicht auf und geht gegen das nächste Häuschen, von dem noch 7 kein Geräusch vernehmbar ist. Das dünkt ihm wunderlich; denn er späht nach der Fensterreihe über dem Anbau und just will er anheben, den Kopf zu schütteln, als zwei Männer von dem Hause gegen die Stirnmauer des oberen Teiches eilen. Der mit der blauen Leinenschürze tut einen Satz nach dem überragenden Hebel und reißt ihn zurück, so daß die befreiten Wasser im raschen Schusse dem Anbau zueilen. Einen einzigen harten Ruck gibt es drinnen, dann fängt sein Rad so energisch zu dröhnen an, daß ein Kätzchen es an der Zeit findet, sich durch kühne Sprünge vom Dach zu retten.

»Ach sieh doch, Großpapa!«

Der Knabe jubelt und ist bemüht, das Tier an sich zu locken; sein Begleiter aber hört ihn nicht.

Der in der Leinenschürze war wieder ins Haus geschlüpft; der andere aber ist inzwischen nach dem Wege gekommen und grüßt ehrerbietig.

»Guten Morgen, Erdmann!« gibt der alte Herr zurück. »Was gibt es da?«

»Der Alt hatte seinen Treibriemen noch nicht geflickt, Herr Schürer,« erhält er zur Antwort. »Sie wissen ja, das Wirtshaus . . .«

»So soll man ihm den Laufpaß geben.« 8

»Er ist aber ein sehr guter Arbeiter und schleift die ganz feinen Kristallvasen.«

»Einerlei; soll Ordnung halten. Sag' er ihm das – sonst fliegt er.«

Unter den letzten Worten haben die Männer den aufwärts führenden Weg eingeschlagen. Der Knabe, dem es endlich gelungen war, das Kätzchen an sich zu locken, hört mit dem Streicheln auf und eilt ihnen nach. Immer nach wenigen Schritten aber bleibt er stehen und blickt gegen das Tier zurück, das in Ermangelung der Liebkosungen durch die zarten Kinderhände sein Fell am Stamme eines Ahornbäumleins streicht.

Die Vorausgehenden setzen ihr Gespräch fort:

»Wie arbeitet die neue Turbine?«

Der alte Herr stellt die Frage und winkt gegen ein größeres Haus hin, das vor der steilsten Bachuferstelle ragt, als ob es an den Hang geklebt sei.

»Wir mußten eine Übersetzung ändern, weil die Steine noch zu rasch liefen. Jetzt aber ist alles in Ordnung.«

Der Herr nickt befriedigt; dann bleibt er vor dem Hause stehen, wo ein freier Ausblick möglich ist. Wie er die Blicke hinauf und hinab schweifen läßt, nehmen seine Züge den Ausdruck des Behagens an; dann meint er mehr für sich: 9

»Wie das so gegangen ist.«

Der andere, nach Aussehen und Haltung wohl ein Werkmeister des Mannes, weiß augenscheinlich genau, was gemeint ist; denn er spricht unter breitem Lächeln:

»Ja, ja. Es ist schon immer besser geworden.«

»Aber der Anfang war schwer,« kommt es zurück und die buschigen weißen Augenbrauen krausen sich.

»Ja, bei der Brandmühle,« pflichtet der andere bei. »Das waren auch schlechte Zeiten.«

Dann überlassen sich die Beiden eine Weile ihren Erinnerungen, bis der Herr wieder beginnt:

»Wie wir das so schön zusammengebracht haben. Die Richtermühle dann . . .«

»Und Wiesners Schleiferei und Schlosser-Stephans seine,« steuert wiederum der andere bei.

»Und Mühl-Michels und Hannel-Antons Baracken da drüben.«

»Staff'-Bernards auch.«

»Jusl-Bauers.«

»Und jetzt ist das alles in einer Hand bis auf . . .«

Der Werkmeister spricht es nicht aus, was zum vollen Gelingen noch fehlt; aber der alte Herr weiß es auch so.

»Ja, da ist leider nichts zu machen.« 10

Auch über das ehrliche Gesicht des alten Erdmann zieht ein Bedauern. Er zuckt die Achseln und meint dann wie tröstend:

»Der Herr Egon ist auch schon wieder hinauf.«

»Und das sagt er mir jetzt erst,« bricht da der alte Herr los. »Na, so wollen wir doch gleich . . .«

Damit eilt er hastig weiter und sein Begleiter folgt ihm.

Der Knabe war auch bei den Alten wieder mit seinen Gedanken allein gewesen. Noch bevor er jene erreichte, hatte er in der Enge der Talschlucht, über der die Wälder sich duckten, ein dumpfes Gefühl des Eingemauertseins gehabt. Aber das Lied des kleinen Vogels droben lieh ihm doch wieder Schwingen, dem zu entkommen. Dann war er abseits gestanden, während die Männer sprachen, und auch das schwankende Spiegelbild der Esche im Teich hielt seine Aufmerksamkeit nur so lange fest, bis er an der weißen Hauswand das Gewimmel der Reflexlichter sah, die von den blanken Wellchen zurückgeworfen wurden. Tausendfach auseinandergehend und zerfließend täuschten sie den Sinnen des Knaben wogende Nebelringe vor, die unaufhörlich zur Höhe zogen. Aus diesen Betrachtungen riß ihn erst der Name des Vaters, der im Gespräch der 11 beiden Alten fiel, und fast widerwillig eilte er den rüstig Ausschreitenden nach.

Hinter dem Wassersturze zog sich der Weg in eine Wiesenmulde, jenseits der dunkler Wald aufragte. Vor dessen Pforte stand ein gelbgestrichenes Holzhaus, hinter dem das graue Dach einer großen Scheuer zu sehen war. Von dort kamen zwei Männer. Der eine, hoch gewachsen und fein gekleidet, sprach mit beherrschter Stimme zu dem kleinen Breitschultrigen herab, der die Hände zwanglos in den Hosentaschen trug und mit lauter, polternder Stimme antwortete.

Wie der Knabe die Beiden erblickte, drängte er sich hastig an den alten Herrn und wagte es, dessen Hand zu ergreifen.

»Großpapa!«

Der Angerufene aber hatte die beiden Männer im Auge und antwortete zerstreut:

»Was denn? Ach so, du. – Such dir Blumen, Kind, oder spiele was. Ich muß jetzt mit denen dort reden.«

»Sei brav!« schloß er dann und strich über den Kopf des Knaben. »Dafür kannst Du nachmittags mit nach Reichenberg fahren.«

»Ach!« 12

In dem einzigen Rufe lag so viel an Enttäuschung und das schnelle Zurücktreten sprach so eindringlich von dem »Was soll ich dort zwischen den Häusern,« daß die Gedanken des Kindes offen dalagen; nur nicht für die Männer, deren Gruppen jetzt zusammentrafen.

»Aber wenn ich den Preis verdopple, werden Sie doch verkaufen,« hatte eben der Gutgekleidete gesagt.

Der andere schwenkte seine Mütze gegen die Ankommenden, wobei sich auch die andere Hand aus dem Hosensack fand und gab zurück:

»Auch nicht, Herr Schürer! Meine Sachen haben für mich einen Preis, den Sie nicht zahlen können. Hier bin ich von klein auf gewesen und will da bleiben und da sterben. Punktum.«

Die Männer traten zusammen und das Gespräch ging eifrig weiter. Der Knabe hatte sich abgewendet und blickte nach den entfernten Höhen hinüber, von denen die hellen Frühlingsgewänder der Buchen leuchteten. Nicht mit dem Goldiggrün der Nähe, aber doch in schleiermatten Tönen lösten sie sich aus dem Düster der Nadelhölzer los. Ihre Kronen rissen förmliche Lücken in die herbe, große Einförmigkeit drüben und taten dem Auge des Kindes ebenso wohl, wie 13 ihm unlängst die hellen Mädchengewänder im Alltagsgrau der vielen Stadtleute lieblich vorgekommen waren.

Und dort bei dem Hause hüpfte ja auch so ein helles Kittelchen herum. – Er blickte scheu nach den Männern hin, dann begann er zu laufen.

»Du da!«

Das kleine Mädchen lief ihm auf den Anruf entgegen.

»Ich hab Dich schon gesehen. Was wollt ihr denn bei uns?«

»Ich weiß nicht.«

»Ist der alte Mann Dein Vater?«

»Nein, der Große ist's; der andre ist bloß der Großpapa.«

»Wen hast Du denn lieber?«

Der Knabe stutzte einen Augenblick, dann meinte er wieder:

»Ach!« und nach einer Weile, während ihm das Mädl neugierig ins Gesicht schaute:

»Die Mama hab' ich sehr gern.«

»Das will ich nicht wissen.«

Ihr Gegenüber fühlte dunkel, daß eine Ablenkung not tue und fragte unvermittelt:

»Habt ihr auch eine Katze?« 14

»Ja, aber der Hansel ist viel braver.«

»Wer ist der Hansel?«

»Na, unser Eichkatzl.«

»Was für eine Katze ist das?«

»Nein, weiß der nicht, was ein Eichkatzl ist! Na warte.«

Damit sprang das Mädchen ins Haus und kam bald mit dem braunen Kobold zurück, der auf den Schultern des Kindes hockte und ihm den buschigen Schwanz um die Ohren schlug.

Das Mädchen lachte. »So, da ist der Hansel.«

»Darf ich ihn angreifen?«

»Erst mußt Du ihm was geben. Hast Du nichts? So, da.« Damit zog die Kleine eine Haselnuß hervor und bot sie dem Knaben. Kaum aber hielt der die Nuß in den Händen, als das Tierchen auf seine Schulter sprang. Im Nu hatte es die Nuß erfaßt und war nach der Hängstange gehüpft, wo es sich zum Schmause einrichtete. Der Knabe erschrak.

»Wird es – wird er nicht davonlaufen?«

»Ih wo. Der denkt nicht dran. Warte, bis er gefressen hat, dann zeig' ich Dir, wie er auf die Bäume klettert und gleich wieder kommt, wenn ich rufe. Wir haben ihn von ganz klein 15 auf und er macht so viel Spaß, daß wir alle lachen müssen.«

In dem Augenblicke kam von drüben der Ruf:

»Robert!«

Der begierig Lauschende zuckte zusammen. »Der Papa ruft; ich muß gehen.«

»Schade. Komm nur wieder her, dann zeige ich Dir alles. Willst Du?«

Das »Ja« kam schon im Laufen zurück und das Mädchen konnte nur nachrufen:

»Ich heiße Ida.«

Die Männer standen schon bereit und bald ließ der steil absteigende Weg sie tiefer und tiefer hinabsinken. Der Knabe blieb über dem Wassersturze stehen und schaute zurück; aber das helle Kleidchen war nicht mehr zu sehen. Das Waldgetön vor ihm und die Dorfgeräusche im Rücken klangen hier ineinander. Sie gingen seinem Ohr verloren.

Ein Wolkenschatten kam geflogen und dunkelte die Wipfel drüben noch mehr, so daß die Lücke der Wegspur und das Buchengrün im Düster fast untergingen. Aber wie die Sonne das Wölklein beiseite schob, war alles wie früher. Nur unterlag das Auge der Täuschung, als 16 steige die besonnte Mulde wieder empor, während sie vorhin hinabzusinken schien.

Dann glaubte er am Fenster des Hauses noch ein weißes Kittelchen zu sehen, aber auch das hatte ihn nur getäuscht und er wandte sich kurz zu dem engen Tal mit seinen Geräuschen und hüpfte dort hinab.

 


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