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Komödie des Ruhms

Was wissen wir von den Bedingungen geschichtlichen Ruhms? Sicher nur eines: daß die Bilder der Geschichte auch nicht das mindeste zu tun haben mit den ursprünglichen, in Geschichte wie in eine zweite Welt hineingeborenen Menschen. Denn die Phantasie und die Sehnsucht vieler bauen erst die Altäre und krönen dann zu Göttern oft Zulängliche, oft Unzulängliche. (Aber der einmal Gekrönte wächst im Bewußtsein der Nachwelt ins Zulängliche.) Man wird stets bemerken, daß nur solche Gestalten ins Pantheon der Geschichte kommen, die das freie Dichten der mythen- und legendenbildenden Massenphantasie zu erregen vermögen. Zuweilen nur infolge zufälliger Erfolge oder infolge der Massenhaftigkeit und Aufdringlichkeit ihrer Spuren, die nicht mehr zuläßt, daß man sie vergißt; zuweilen auch infolge des Enthusiasmus und der Fanatik eines wachsenden Anhangs. (Und ein halb verrückter Anhang ist besser als ein nüchterner, ein ganz verrückter besser als der nur halb verrückte.) Es ist auch gleichgültig, ob rasende Liebe oder rasender Neid, ob rasende Schmähsucht oder rasende Gerechtigkeit dich zur Geschichtsstatue meißelt. Lüge ist Geschichte immer. Und wie die Erde alle Stufen ihrer Bildung, alle Jahreszeiten, alle Weltalter immer gleichzeitig und immer allgegenwärtig lebt (die zeitliche Reihenfolge ist eine falsche Optik), so zeugt sie alles wieder, was je verging, und aus hundert Bonapartes, die nicht historisch wurden, aus hundert Goethes, die nicht zur Erfüllung kamen, oder von denen wir nichts wissen, wird immer nur ein einziger, oft zufälliger, in die Erinnerung des Menschengeschlechts aufgenommen, gleichsam Repräsentant für alle Ungekannten und eine feste Säule, an die nun der Mythos sich ranken, Sage und Märe, aus Leben und Wahrheit gemischt, eine »Wirklichkeit« erdichten mag. Denn die Tragödie der großen Menschen auf Erden ist durchaus nicht die Tragödie eines Menschen. Sogar das ist fraglich, ob Geschichte die wirklich Größten, Besten, Seltensten nennt und nennen kann; ob nicht, um ins Bewußtsein und Gedächtnis vieler zu geraten, immer grade ein Zuwenig notwendige Vorbedingung ist. Wie dem aber auch sei, in wenigen Fällen wohl lassen sich die Gefühle, Irrtümer, Sinn-Umstellungen, dank deren allmählich die geschichtliche Auferhöhung verklärend einsetzt, so klar verfolgen wie im Falle Nietzsches. Zunächst wurde die Kunde von seinem tragischen Schicksal der erste Stoß, der weitere Kreise auf Nietzsches Schriften drängte; ähnlich wie der Pistolenschuß, mit dem Heinrich Kleist, Friedrich List, Otto Weininger ihr Leben beendeten, zum erstenmal für ihr Werk das Echo weckte. Sodann: Nietzsches Schriften, teils unverständlich, teils unverstanden, im Inhalt immer umstürzender, in der Form immer übersteigerter, mußten, sobald sie in die Hände weiter Leserkreise kamen, zu Spruch und Widerspruch aufregen. War das Genie? War das Wahnsinn? Es gab niemanden, den diese Schriften nicht zunächst verletzten, durchwühlten, beunruhigten. Alle diese Beweggründe aber waren noch nicht entscheidend, um aus Nietzsches Werk allmählich einen neuen Sturmherd aufwirbeln zu lassen. Der eigentliche Entbinder des Sturms war der bei jedem großen Erfolg einsetzende Fach- und Schriftgelehrtenneid. Man mag heute im »Nietzschearchiv« in Weimar diese Behauptungen nachprüfen. Die ganze Literatur der ersten fünf Jahre nach Nietzsches Zusammenbruch war noch durchaus auf den Abwehrton gestimmt. Damals kam die Mode auf, mit halb warnendem, halb wehmütigem Gestus von »dem unglücklichen Philosophen« zu sprechen, wobei man sich natürlich beeilte, hinzuzusetzen, daß »er eigentlich doch wohl mehr ein Dichter als ein wissenschaftlicher Denker« gewesen sei. Man warnte wohlwollend die Jugend vor den Gefahren eines »schamlosen Immoralismus«. Man sprach mit dem Achselzucken des Bedauerns von »dem merkwürdigen Utopisten, der die Welt umändern wollte, aber leider im Wahnsinn enden mußte«. Ich entsinne mich sehr genau an zahllose Äußerungen aus dem Munde der »führenden Geister« jener Tage, aus dem Munde von Eduard v. Hartmann, Wilhelm Wundt, Theodor Lipps, Rudolf Eucken, Ernst Haeckel. Das war immer dieselbe selbstgerechte, ahnungslose Warnung gegen die Zeitmode, gegen den Modeunfug, gegen die Vergiftung der Jugend; genau so wie einige Jahre zuvor wider den Langbehnrummel, einige Jahre später wider den Spenglerspuk geredet und geschrieben wurde; ein Phänomen beleidigter Mißgunst, dank dessen die allmähliche Aufsaugung ins Geschichtliche grade erst beschleunigt wird. Denn die Verunglimpfung, die ein bedeutenderer Mensch erfährt, unterstreicht ja nun auch für das Bewußtsein seine Werte und macht den Widerspruch rege, zumal den der minder Kritischen und leichter Zugänglichen. Das ist zumal die Jugend, und sodann die Großmacht der immer zum Neuen und Aufregenden hingeneigten Tagesschreiber. Diese haben, genau wie im Falle Schopenhauers, den von der Fachphilosophie völlig Übergangenen der Wissenschaft allmählich aufgedrängt. Ich entsinne mich wie des ersten, so auch genau des zweiten Stadiums, in welchem die Abwehr allmählich überging in Würdigung. Genau dieselben »führenden Geister« begannen, sobald der Kaspar Hauser einmal ins Freie gelangt war, ähnlich wie bei allen zur vollbrachten Tat gewordenen Umstürzen und Machtwechselzufällen, sich mit der Tatsache abzufinden und an das Neue anzupassen. Man nennt dergleichen in Deutschland »Stellung nehmen« und »wohlwollend gegenüberstehn«. Man begann sogar an den Universitäten »Nietzsche ernst zu nehmen«. Man begann, da die Jugend dazu drängte, feiertäglich und gleichsam nebenher (man hat ja auch »allgemein bildende Interessen«) ein »Kolleg über Zarathustra« zu lesen mit vorsichtigem Einerseits und Andrerseits, ja man begann (denn man will doch nicht hinter der »Kultur seines Zeitalters« zurückbleiben), schon eine bescheidene Begeisterung zu verspüren; nicht als ob man damit die breite und leidenschaftliche Bekämpfung der ersten Jahre nach Nietzsches Erlöschen widerrufen hätte; o bewahre! Pflegt man denn, wenn ein Krieg ausbricht, noch die Vorkriegsliteratur zu kennen, und weiß man denn, wenn der Krieg zu Ende ist, etwa noch, was alles man während des Krieges orakelt hat? Man hat sich dann eben wieder einmal »fortentwickelt«. Das heißt: man weiß nicht mehr, daß man gestern noch andrer Ansicht war oder zu sein glaubte.

Hatte man gestern Nietzsches Lebensdeutung aus Entartung, Wahnsinn, ja womöglich aus moralischer Verkommenheit erklärt, so fand man sie heute reizvoll, beachtenswert und eigenartig, und morgen schon altbacken, erledigt, an den Schuhsohlen abgelaufen. Dann kam das dritte Stadium, welches die »Historisierung« zu vollenden pflegt; ich möchte es das des Entschreckens, Anbürgerlichens und Verharmlosens nennen. Es kommen jedoch inmitten aller Anbiederei plötzliche kleine Entlarvungen vor, welche schrecklich offenbaren, daß das Ungewohnte immer doch nur das langsam Erzwungene ist. Ein solches entlarvendes Blitzlicht ist die Tatsache, daß Robert Mayer, den heute jedes Kind als den Entdecker des Gesetzes der Energieerhaltung schon auf der Schulbank ehren lernt, zunächst in eine Irrenanstalt gesperrt und in die Zwangsjacke gesteckt worden ist, während der ihn behandelnde Obermedizinalrat ihn verhöhnte und aufforderte, daß er seine Erkrankung an Größenwahn zugeben und seine »vermeintliche Entdeckung eines Naturgesetzes« als Hirngespinst anerkennen solle. Ein solches Blitzlicht ist auch die Tatsache, daß Friedrich Nietzsche – (alle Zuckerliebesgüsse, mit welchen späterhin die Schwester und die Freunde die Werke des Berühmtgewordenen übergossen haben, wischen nicht aus diesen Geschmack von Grauen und von Scham) – daß Friedrich Nietzsche zu Jena in einer Irrenklinik den Studenten als Demonstrationsfall vorgeführt wurde, wie seinerzeit in Hardens »Zukunft« dargetan wurde.

Es ist überhaupt eine merkwürdige Wahrnehmung, daß die Stimmung bei Nietzsches Freunden (eigentlich nur mit Ausnahme von Peter Gast, der Nietzsches ihn hochtragende Verehrung mit voller Lebenshingabe dankte) zunächst nach dem Eintritt der Katastrophe und im ersten Aufdämmern seines Weltruhms minder wohlwollend und fast ein wenig gereizt wurde. So vermögen wir deutlich zu verfolgen, daß eigentlich alle diese Freunde (soweit sie selber literarisch schufen), daß z. B. Rée, Overbeck, Rohde, Deußen sich zunächst, ganz wie die erwähnten, die Jugend verwarnenden »führenden Geister«, ein wenig von Seiten der Weltgeschichte zurückgesetzt fühlten und sich darum bemühten, klarzulegen, daß sie doch auch »bedeutend«, daß sie »ebenso bedeutend«, ja daß sie eigentlich »noch bedeutender« seien; bis denn schließlich die Sonne des Nachruhms, alle Nebel verscheuchend, den ganzen Himmel übergoldet hatte. Da gab es keine Wenn und Aber mehr, da erblühten die vielen »Meine Erinnerungen an Friedrich Nietzsche«, herausgeboren aus dem Wunsch, doch auch ein bißchen Anteil zu haben an dem Aufstieg ins Ewige und womöglich mit hineingebettet zu werden in den Ehrentotenschrein der Weltgeschichte. Dann aber kam das Allerwunderbarste: die allmähliche Aufnahme der Problemwelt Friedrich Nietzsches in das tragende Zeitbewußtsein, auf dem Wege eines großen Verbilligens und, wenn ich ein grelles Wort brauchen darf: Zerniedlichens. Wenn ich sage, daß diese Zerniedlichung und Vergemütlichung der Märtyrertragik das eigentliche Werk der Schwester Nietzsches gewesen ist, so will ich damit wahrlich nichts Absprechendes sagen; denn ich weiß, daß ohne dieses Begütigungs- und Angleichungswerk Nietzsches große geschichtliche Wirkung überhaupt nicht möglich gewesen wäre. In die Geschichte gelangt man nur dank liebenswürdiger Irrtümer. Dies aber muß gesagt sein (denn es ist die Absicht dieser Schrift, Nietzsches Aufgaben und Fragen neu zu durchbluten in ihrem ungeheuren Ernst und in ihrer ganzen verantwortlichen Schwere): das Bild, das dank Nietzschearchiv und Nietzscheliteratur allmählich zum geschichtlich herrschenden geworden ist, entwand dem Jupiter seinen toddrohenden Blitz. Er wurde familienmöglich, akademiefähig, universitätsreif. Seine schmerzlichsten Stunden, daran kaum das Wort rühren mag, sind heute schon »Diskussionsstoffe«, seine erbarmungsloseste Wahrheit wurde schmackhaft für ein Lesepublikum, das im Geiste schließlich ja auch Mammute verdaut, wofern man nur nicht von ihm verlangt, daß es sich verändere. Alle Werke Nietzsches wurden in sehr wohlgemeinte Erläuterungen eingepackt, welche schließlich darauf hinauskommen, daß Fritz doch ein guter Mensch gewesen ist und ein so wohlmeinender, zartfühlender Sohn, Enkel, Neffe und Bruder; auch, obwohl er so ungeheure Gedanken schleudert, es doch gar nicht böse meint mit dem guten Menschengeschlecht, so daß das feinste Publikum ihn ruhig lesen kann am Teetisch, da es ja zuletzt doch nur Gedrucktes ist und in Wahrheit gar nicht so schlimm, und er mit diesen Gedanken wohl auch Geheimrat hätte werden können ... Lieber Himmel! – Wie viele Gönner, Freunde, Jünger, Verehrer hatte er doch auf einmal, der Einsamste, nachdem er »Deutschlands größter Philosoph« geworden war; derselbe verlorene Mann, dem ein vornehm fühlender Fremder ein heimliches Geldgeschenk zustecken ließ, derselbe Mann, der seine Bücher auf schlechtestem Papier auf eigene Kosten drucken lassen mußte, weil sich zuletzt kein Verleger dafür mehr fand, derselbe, in herzzerreißenden Tönen um den Glauben neuer Freunde werbende Mann, um dessen tieferes Verstehen weder Lou Salomé noch Malvida Meysenbug, noch Elisabeth Förster, noch Erwin Rohde, noch Jakob Burckhardt, noch Franz Overbeck sich je ernsthaft bemüht hatten, bevor er zum europäischen Ereignis geworden war! Da freilich, als er machtlos, wehrlos zum Schoße der Vergangenheit zurücksank, da begann die Zeit für »Meine Erinnerungen«, und er war für alle, alle »das große Ereignis meines Lebens«.

Nun tranken die vielen vom Geiste Lebenden das Leben eines, der am Geiste starb. Jetzt freilich brauchte er nicht mehr auf armem Holzpapier Sehnsuchtsschreie nach neuen Freunden ins Wüste zu stoßen. Nietzsche in Saffian. Nietzsche auf Bütten. Nietzsche in Pergament. Nietzsche in Großoktav. Sein Werk und Nachlaß gehörte ihnen allen, den Geschmäcklern wie den Tüftlern, den Gourmets des Blutertums und den Industriellen des Gefühls, den Kommentatoren und den Großaktionären seines Geistes. Ganze Scharen von Schönlingen und Klüglingen machten sich an ihm wichtig. Ganze Scharen von Findigen und Pfiffigen bestritten mit ihm ihr Seelengeschäft. Die Goldadern der noch nie betretenen, noch kaum erforschten Schachte wurden klug und gemächlich ausgemünzt zu den gängigsten Verkehrs- und Erwerbsmünzen unsrer Tage, und das Herzblut, das er blindwütig verspritzte, seine Brust aufreißend, ganze Scharen Doktoren, Literaten, Professoren füllten das nun ab auf Flaschen des Begriffs und bestritten damit so manchen Kulturausschank und so manches Symposion freier Geister. Er war auf seine kälteste Höhe entflogen. Sie aber sprangen ihm nach, sie krochen ihm nach. Denn immer stellt sich neben den Eroberer, der Blut seiner Wunden aussät, ein Tüchtigerer, der das nutzend erlistet, was jener erflog. Eine ganze Generation hat von ihm gelebt, schamlos genug, den Zeitlosen für die Zeit zu nutzen. Heute Luxusausgaben, morgen Liebhaberausgaben, übermorgen Volksausgaben und biblia pauperum. Man gab ihn heraus für Kriegsgebrauch und für Schulgebrauch, für Sozialisten und für Anarchisten, für Religiöse und für Irreligiöse. Und wo immer Macht, Name, Finanz, Titel waren, das »Nietzschearchiv« hatte für alle ein kluges und gewinnendes Wort, nur für die wenigen, die aus seinem Geiste lebten, für sie hatte es nie ein Wort ... Am 15. Oktober 1924 ist Friedrich Nietzsche achtzig Jahre alt geworden. Ich stelle mir vor, er käme wieder, noch geistesmächtiger, schöner, edler, stärker als er vor uns verblich; ich bin überzeugt: keine unsrer deutschen Universitäten duldete ihn auch nur als letzten ihrer »Privatdozenten für Philosophie«, und keine von allen Leuchten deutschen Geistes, die den Historischgewordenen feiern als Deutschlands größten Denker und stolzen Sprachmeister, hätte für den Lebenden besseren Dank und Gruß als man für ihn hatte, da er sich noch wehren konnte. Wehren, auch gegen entwertende Liebe, auch gegen den wertlosen Ruhm. Denn würde er heute sehen, wovon er nicht das mindeste ahnen konnte: die ungeheure Macht seines Worts und dessen Aufsaugung durch europäischen Zeitgeist, ich meine: er würde entweder reif und liebend lächeln in »fröhlicher Bosheit« wie zu einem Possenspiel der Welt, das ihn nichts angeht, oder er müßte sich schütteln, verzweifelt und in Ekel vor einer Welt, deren Ruhm ihn heute so wenig erhöhen kann, als ihn ehemals ihre Mißachtung erniedrigte ...

Am 28. August, an Goethes Geburtstag, wurde Friedrich Nietzsche, sechsundfünfzig Jahre alt, von der bescheidenen Schar seiner frühesten Jünger zu Grabe getragen. In dem kleinen Dorfe nahe bei Leipzig, in seinem Geburtsorte Röcken, legten sie ihn zwischen die Efeuhügel seiner Eltern, und bevor das Grab geschlossen wurde, trat aus dem stillen Gefolge ein fremder Student und brachte den Dank und die Grüße der neuen Jugend. Der »endgültige Zertrümmerer zweier christlicher Jahrtausende«, der sich am liebsten »Antichrist« nannte, wurde an die weiße Mauer des Dorfkirchleins gebettet, darin einst sein Vater das Evangelium Pauli gepredigt hatte. Das Hirn, welches nach »Woher« und »Wofür« des ganzen Menschengeschlechtes grübelnd gesucht hatte, das Ohr, welches so gerne auf »die Musik des Südens« lauschte, das Auge, das am liebsten »an der Scheide zwischen Morgen- und Abendland auf den bleichen Schnee ferner Gletscher starrte« – nun gingen sie ein in die ausgeödete, lehmige, allermißbrauchteste Erde unsrer schweren, undankbaren Heimat. »Europas flachestes Flachland« nahm sein Kind zurück. – Auf dieser trostlosen Ebene Sachsens aber sind die großen Schlachten abendländischer Geschichte geschlagen, die Kämpfe der Reformation, des Dreißigjährigen, des Siebenjährigen und des Befreiungskrieges gegen Napoleon. Kohlenschwaden, Rauchwolken aus hundert und aber hundert Fabrikschloten – diese Triumphfahnen des erd- und seelübermächtigenden Menschheitsgeistes –, sie wandern über Nietzsches nordisches Grab. Denn in dieser am dichtesten bevölkerten Ebene, die nicht mehr Natur und noch nicht völlig ein einziger großer Ameisenhaufe ist, wachsen heran in Fronburgen, unter dem Gerassel der Maschinen, der Zukunft proletarische Kampfgeschlechter, die, weit fernwohnend von Nietzsches der breiten Arbeitsmenschheit und ihrem ungeheuren Klassenkampf abgekehrter Traumwelt, einst die ganze humane Bildung wie die ganze christliche Überlieferung zu Trümmer schlagen werden. So schläft Zarathustra, der Wiederkehr harrend, nicht inmitten der waldumgürteten Alpen von Sils Maria, sondern umdroht von Ziegeln und Industrien, am Rande des rußüberzogenen Himmels von Leipzig. Das ist die Stadt, die aus Tausenden Buchdruckmaschinen die Aschenlaven der bald zu Frevel werdenden abendländischen Geistigkeit über die menschenferne, weite Erde rollt. Dort ragt das Mausoleum unsrer Vergangenheit, das Massengrab der deutschen Bücherei. Auch diese Büchergewölbe sind Kohlenschachte, künstliche Wärme, künstliche Helle gebend; Reste, Niederschläge verlohter Sonne, verrauschte Sommer der Seele. Das alles ist Erde, die schon Mensch ward, die schon hineinstarb in Geist. »Dumm aus Logik, irrgeworden dank menschlicher Sittennorm, unwissend vermöge Wissenschaft.« – Wo blieb Heimat, wo lebendiges Element, wo Hoffnung, daß unser naturverwurzeltes, ins Kosmische einverschlungenes Leben nicht ganz verschüttet werden kann von dieser mit Kohle und bedrucktem Papier gefütterten Wachwelt des Bewußtseins? Hoffnung, daß das vorbewußt gestaltenzeugende Element nicht abstirbt an fortschreitender Verwirklichung, Verdinglichung, Vermenschlichung, an der großen Verameisung, Verköterung, Verschmeißung der Erde? ... Rübenfelder, Kartoffeläcker, Nutzgärten – sie geben stumme Antwort. Aber in der Mondlandschaft dieser Schlackenhalden aus Stein und Zement friert hie und da noch ein Streifchen Novemberwald. Kiefern, nichts als Kiefern. Der proletarische Baum, der mit seinen breit ausgestemmten Ellenbogen das Licht fortnimmt den edleren, aber anfälligeren Eichen, den guten, mütterlichen Buchen und den bacchischen Linden, die wie Fackeln brannten in Sommernächten voll Duft, Musik und Rausch. Und wenn hier ein Vogel baut, dann sind es die frechen, schilpernden Spatzen, oder die schäkernden, feisten Amseln in den Ziergärten allunterjochenden Reichtums. Und dennoch – an den Handelsstraßen und Dorfwegen um Nietzsches Grab wacht Deutschlands seelenvollster Baum, wacht die Birke. Das ist zwar nicht jene »schöne Seele des Südens«, die er geliebt hat, nicht die Zypresse, »der Baum im vollen Licht«, der seine Zweige immer streckt nach Süden, wo er auch wächst, immer nach Süden, und dessen Blätter dennoch sich abkehren vom Licht, erdezu, das schöne Symbol einer so lebewilligen wie sterbewilligen Sehnsucht. Schön und ewig ist auch Deutschlands Seele, die holde Birke, blond wie das Flachshaar unserer norddeutschen Kinder, zart und zäh wie die kleinen Konfirmanden, die in das Dorfkirchlein kommen, ahnungslos am Grabe Zarathustras vorbeispielend; die Birke, die das allerlieblichste Laub hat und die allerverletzlichste, schon an einer kleinen Wunde verblutende Rinde, und dennoch, nichts begehrend als eine Handvoll Heimaterde, Wurzeln schlägt in jedem armen Schotterhaufen und neu emporbricht selbst aus deutscher Gefängnismauer.


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