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Umwertung aller Werte

Da angesichts eines zwecklosen Kreislaufs alles Seins die menschliche Weltgeschichte und ihre gradlinige Bewegung auf irgendein Endziel hin zusammenstürzt, so stürzt mithin auch Nietzsches ganze Umwertung aller Werte zusammen. Man kann sie freilich immer noch der Menschheit anbefehlen; aber man wird darauf verzichten müssen, diesen Befehl irgendwie logisch zu begründen. Indem Zarathustra zuguterletzt alles segnet, alles für notwendig hält und nur noch das »amor fati« predigt, die Karmaliebe, die in Bausch und Bogen alle Leiden, alle Seligkeit, alles Recht und alles Unrecht auf ewig in die Arme schließt, da bleibt ihm zur Begründung einer menschlichen Sitte und Ordnung überhaupt kein Leitgesetz mehr übrig als einzig ein gewalthaberisches: Ich will es, ich befehle es. In der ganzen Geschichte menschlichen Grübelns hat sich wohl nie so klar gezeigt, daß der Verzicht auf ein lebenüberwindendes Endziel eben auch Verzicht ist auf jegliches Lebensziel, oder anders gesagt, daß ein anderes als verneinendes Ziel der Menschengeschichte völlig unmöglich ist. Wer das Gegebene als notwendig hinnimmt, der hat damit aufgehört zu hoffen und zu streben. – Es versteht sich von selbst, daß die urteilende und wertende, die logische und ethische Weltbetrachtung keineswegs die einzige Art Weltschau ist. Sie ist nur diejenige, die dem Leben gegenübersteht, also nicht mehr Leben ist und sich in nichts Lebendiges einfühlt. Sie ist die Weltschau des Menschen, insofern dieser als geistiges Wesen aus der Bildertraumwelt heraustritt. Vom außermenschlichen, kosmischen, panischen Standpunkt (wofern dieser für uns möglich wäre) haben Weltbeurteilen und Weltverbessernwollen, haben Wahrheit und Gerechtigkeit überhaupt keinen Sinn. Wenn wir aber einmal dem Schöpferischen selbstschöpferisch gegenübertreten, wenn wir einmal geistigen Wesens sind oder sein wollen, dann können wir nicht anders als »die Ordnung Gottes« ausspielen wider das Reich der Natur. Wir sind dann Feinde. Denn am Bau des Gottesreiches stirbt Natur. Das Naturelement selber, das wir an Hand unsres Reiches der Werte zu Wirklichkeit umbauen, ist nicht logischer, ist nicht ethischer Art. Man mag dieses Ursein lieben als Seligkeit und Ewigkeit. Aber dann verzichte man auf Urteil und Wille. Was uns aber zu Menschen macht, ist Urteil und Wille. Durch sie hoben wir uns als geistige Welt aus der Welt der Gestalt. Das Leben (vom Geiste aus gesehen) ist Wahn und Schuld. Wir müssen, insofern wir Geist sind, lebensfeindlich sein ...

Ich weiß, daß nur wenige geneigt sind, über diese meine immer wiederholten Darlegungen nachzudenken. Man lehnt sie kurzerhand als pessimistisch, buddhistisch, christlich ab. Man verpönt sie mit irgendeinem Ekelwort und berauscht sich weiter an den blauen Dünsten: Kulturfortschritt, Menschheitsentwicklung, lebenbejahende Diesseitsreligion und all dergleichen Lügengeflitter. Aber sperrt euch, so lange ihr wollt, noch hundert Jahr oder tausend Jahr, zuletzt wird die älteste Wahrheit auch die letzte sein: Leben an sich hat keinerlei Ziele. Leben an sich kennt weder Lust noch Leid. Hat aber Leben Ziele (vom Geiste aus), sofort kehren sich diese Ziele gegen das Leben. Andere Ethik als lebenverneinende gibt es nicht. Andere Logik als lebenvernichtende ist nicht möglich. Logik und Ethik sind ein Umweg, um zurückzugelangen ins Sinnfreie und Maßlose. Man denke sich, ein Mensch wolle immer wach bleiben. Die Natur würde sich helfen und würde ihn in Irrsinn verfallen lassen, um auf diesem Umwege neuerdings einzumünden in den Schlaf- und Traumzustand, der dem Leben unerläßlich ist. Als einen solchen Umweg zum All und Nichts über den Irrsinn hat man die menschliche Logik und Ethik aufzufassen. Wir verdummen vermöge Wissenschaft; wir werden im selben Maße unlogisch, als Logik, unmoralisch, als Moral um sich greift ... Ich möchte zum Schluß an ein Gleichnis für das hier Dargelegte erinnern, an gewisse Untersuchungen bei Protisten und Infusorien. Die Behauptung Weismanns, daß das Protoplasma aus sich selber ewig sei, ist offenkundig unrichtig. Jedes »Quantum Leben« geht zugrunde (indem die Zellteilung immer flauer wird), wofern die Berührung fehlt mit artfremder Substanz. Alles lebt in der Natur davon, daß es das Andere frißt. Nur an der Leiche beginnt der Magen sofort sich selber zu verdauen. So ist denn auch die Behauptung, »das Leben ist sich Selbstzweck«, vollkommen leerlaufend. Mit der Beseitigung des Bruches zwischen Leben und Geist kommt das Leben zum Stillstand. Wollen wir zusammenfassend den Irrtum in Nietzsches Lehre noch einmal formulieren, so können wir ihn am klarsten kennzeichnen als die Unvereinbarkeit ethischer und kosmischer Weltschau, d. h. als die Unausgeglichenheit und Unausgleichbarkeit eines menschlichen und eines über- und außermenschlichen Gesichtspunkts. Es handelt sich um jenen berühmten Gegensatz, der in Indien Hinduismus und Buddhismus, im Europa Heidentum und Christentum auf immer voneinander trennt. Hindutum und Heidentum ist kosmisches, und mithin wertfreies Hinnehmen und Lieben alles Karma. Buddhismus und Christentum dagegen ist Ethik und mithin nicht Lebens-, sondern Erlösungslehre. Wenn Nietzsches Zarathustra selig in sich gefeit wäre gegen den Notschrei der Kreatur, gegen das Leiden der Welt, gegen den Ruf nach Gerechtigkeit, gegen den Wahn, helfen zu können und etwas ändern zu wollen, wenn er mit Schlange und Adler lebte zwischen Bergen und Meeren, Blume mit Blumen, Tier mit Tieren, nun wohl, so hätte sein großes Ja- und Amenlied die Wahrheit alles Lebens. Nun aber tritt er unter Menschen, um ein Heiland zu werden und schon beginnt er zu lügen, denn er beginnt zu sprechen, und das heißt zu sondern und zu wählen, und damit scheitert seine kosmische Äugigkeit am Leiden der Welt und an der Forderung: Mindere das Leid! ...

Nietzsche wünschte die Umwertung aller Werte. Ach Gott, wer die Höllen der Jahre 1914 bis 1918 durchwandert hat, der weiß ohnehin, daß, sobald ein neuer Umsturz neue Fahnen und neue Gesinnungen bringt, und sobald die Notwendigkeit »Umwertung aller Werte« fordert, kein Ideal, kein Glaube, keine Überzeugung feststeht, sondern daß Vaterland, Staat, Freiheit des Selbst, Menschlichkeit, Weiblichkeit, feine Bildung, kurz alles, alles, was immer der Mensch mit Blut zu umfassen und zu besiegeln wähnt, sich wieder und immer wieder als Einbildung und Außenschmuck erweisen wird. Dauer hat immer nur die große Notforderung. Sicher hat jeder nur – sein Leid. Dennoch ist die Forderung der Werte so allgemeingültig und so unbedingt wie Axiome der Mathematik. Denn Idealgesetze sind normative Gesetze, an Hand deren und dank deren wir unsre menschliche Bewußtseinswirklichkeit und ihre sogenannte Weltgeschichte erst zurechtrücken, rangieren, zusammenklittern und sinnvoll aufbauen. Es sind Gesetze, mittels deren wir urteilen und werten. Wie aber sollte denn innerhalb der Wirklichkeit auffindbar sein die Summe der Bestimmungen, dank deren eine Wirklichkeit doch erst gemacht und gedacht wird? Diese Verwechslung (die Verwechslung rationaler Gesetze mit Wirklichkeitstatsachen) scheint mir Nietzsches oberster Irrtum zu sein. Der zweite Irrtum aber war, daß er die Akte des Werthaltens, also psychologische, reinmenschliche Tatsachen, verwechselte mit geschichtlich bedingten Wertinhalten, so daß also eine doppelte Vertauschung unterlief: die des Seelischen mit Tatsächlichem, die des Tatsächlichen mit dem Wahren. Die Neugier, wie die sachliche Welt im Menschenbewußtsein zustande kommt und in welchen Bedürfnissen, Ängsten, Schwächen, Nöten sie wurzelt, diese Neugier hat das Wasser abgegraben dem unbefangenen, nur der Sache zugewandten Forschen und Schauen. Ja, die Überwucherung des Begriffs- und Seelenanalytischen verrät einen machtwilligen Wunsch, zu verkleinern, zu verachten. Hier handelt es sich vielleicht nur um die höchste Verfeinerung, die letzte Gipfelung einer geselligen »médisance«. Denn unsre naturlos selbstgerechte Gemeinschaft, die nicht mehr im Element gebunden ist, sondern die, wie eingemauert in Form und Kunst, blind vorüberlebt an der Gestaltenfülle der Lebensgebilde, an Pflanze, Tier, Wolke und Wind, immer wieder blickt sie, die wehmütige Meduse, in ihr eignes leiderstarrtes Antlitz.


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