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Leben

»Leben« ... so nannte er den Oberwert, den Schwellenwert. »Alles, was das Leben fördert, das soll künftig gut heißen, alles, was das Leben schädigt, das soll künftig schlecht heißen.« Eine der furchtbarsten Wirrungen und Irrungen der Mode, nachzitternd bis in die fernsten Tage, brach aus dieser Götzenanbetung des »Lebens«. Das Unbewußte, das Irrationale, élan vital, évolution créatrice, das wurden seither neue Gottesgleichnisse. Man orakelte von Lebensreligion, Lebensethik, Lebensmetaphysik; von einer »Heiligkeit« des Lebens. – – Ja! Welches Leben ist denn gemeint? Das der Bakterien, Ungeziefer, Würmer, Schlangen? Wer Leben (das heißt die Tatsache des Starkseins, Erfolghabens, Machtgewinnens und Überlebenbleibens) zum Maßstab eines Werthaltens macht, der begibt sich der Möglichkeit des Wertens überhaupt.

Wohl niemals sind sinnlosere Buchtitel sinnloser nachgeplappert worden als im Zeitalter des Fortschrittsglaubens die Buchtitel Darwins. »Entstehung der Arten.« Eine sinnlose Formel! Denn Arten kann man wohl sehen. Aber sie entstehen nicht; sie treten hervor. »Auslese der Besten« (selection of the fittest)! Welche Wirrung! Das Rätsel für den urteilenden Geist ist ja doch grade dieses: Welches Leben ist das beste? Welches Leben ist wert, gelebt zu werden. Nicht das Leben kraft der Kraft, sondern das Leben kraft des Wertes, nicht das viehische Dasein des in irgendeinem Sinne Mächtigen, sondern »das Gute« soll bestimmt, soll ausgelesen werden. Und so drehte sich auch Nietzsches Denken im Kreise. Kraft ist ihm Wert, und Wert ist ihm Kraft. Indem er wertet, wähnt er nur festzustellen. Indem er feststellt, fühlt er nicht, daß auch bei ihm Wertüberlegungen hinter vermeintlichem Wissen lauern. So quirlen durcheinander die Zweifelsucht des Erkennenwollers und die Helfersucht des Erlösenwollers. Der Wahn des zwanzigsten Jahrhunderts: Logik und Ethik seien Lebenstatsachen, dieser Wahn hält auch Nietzsche gepackt. So kommt auch er in die Zwickmühle: Hie Leben – Hie Geist ...

Das Verhältnis von Chaos und Kosmos, Leben und Sinn (Nietzsche verwendet dafür gern das Gleichnis des Meeres und der Berglandschaft und läßt Zarathustra auf der Scheide zwischen wogendem Meer und festem Gipfel philosophieren), dies Verhältnis ist überhaupt nicht kausaler oder funktionaler Natur. Weder kann je Geist aus Leben werden, noch Leben aus Geist. Es wäre freilich abgeschmackt, von etwas Lebendigem zu sagen, es sei »sinnlos«, da es ja im Lebendig- und Sosein eben seinen Sinn erfüllt und in sich selber hat. Lebendigsein heißt ja mit allem kosmischen Sein zusammenbestehbar und in diesem Sinn »sinnvoll« sein. Aber was hat dieser »Sinn« mit Wert, mit Gültigsein, mit Recht oder Logik zu schaffen? Es ist durchaus nicht einzusehen, warum außerhalb der Wertwelt, welche der Mensch in das Lebenselement hineinbaut, eine Wasserlilie oder ein Erdfloh minder wertvoll sein soll als Buddha oder Mohammed. Außerhalb des Geistes wird alles »gleichgültig«, alles Einerlei und Alleins. Nietzsche hat den tiefsten Gedanken der Erkenntniskritik so wenig gekannt wie Schopenhauer, nämlich den, daß die Norm, an Hand welcher wir das Leben regeln und regieren, nicht mit eintreten kann in die Gründe und Beweggründe unsres oder irgendeines Lebens, sondern einer rein ideologischen Ebene des Urteils zugehört. Die Bewußtseinswirklichkeit freilich zeigt beides untermengt und ungetrennt: Lebendiges und Geistiges; da wir lebend denken und denkend lebendig sind. Jenseits des Bewußtseinspunktes aber fällt die Sphäre, darin wir Leben sind und jene andere, dank deren wir Leben denken, scharf auseinander. Auch Nietzsche ließ sich narren durch die schiefe Frage nach dem »Primat«, sei es des Geistes oder sei es des Lebens. Es läßt sich eben immer nur aufweisen, daß unser »Bewußtseinsprisma« diese beiden Grenzen und Pole hat. Wir haben an Nietzsches Lebensphilosophie und Wertlehre das klassische Beispiel für die Schranke aller genetischen, biologistischen, kausalen, historisierenden, kurz welterklärenden Methodik. Sie führte ihn in eine Sackgasse. Und zwar von dem Augenblick an, wo er seine Lehr- und Wanderjahre beendete und als Erzieher, Prediger, Führer neu unter Menschen treten wollte; als er aus der langen Einsamkeit der Berge hinabstieg in die »Stadt zur bunten Kuh«. Das geschah in der schützenden Maske Zarathustras. Damit begann die Tragödie.


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