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Seinswert und Tatwert

Die zahllosen Zweiheiten, in die der Philosoph sich verstrickt fand (Nachtwelt und Tagwelt; Unendliches und Endliches; Ruhe und Bewegung; Sein und Werden; Es und Ich; Außermenschliches und Menschliches), sie alle schienen ihm einzumünden in einen ganz neuen und folgeschweren Gegensatz innerhalb des Menschlich-Wirklichen. Wozu leben wir? ... Um schön zu sein oder um schön zu handeln? Schiller schon hatte das oft wiederholte Epigramm geprägt: »Der edle Mensch zahlt mit dem, was er leistet; aber der vornehme Mensch zahlt mit dem, was er ist.« Dieser Gegensatz von Sein und Leistung begann Nietzsches Denken unablässig zu beschäftigen. Und es war in der Tat eine mächtige und folgenschwere Entdeckung, daß Nietzsche bemerkte, wie alle Leistungen der Menschen, ihre Werke, Werte und Worte, sehr häufig nur auf Kosten ihres Seins und Wesens zustande kommen, ja, daß sie wohl auch Rechtfertigungen, Ausheilungsversuche, ideale Selbstprojektionen und geheime Machtbestrebungen offenbaren können, so daß sich erkranktes Sein, durchlöchertes Wesen durch Werk und Leistung verpanzert, ausgleicht, belügt, ja unsichtbar macht. Es wäre daher verkehrt, aus der Natur der Werke ohne weiteres auf die Natur der das Werk tragenden Seelen zu schließen. Wer auf dem grauenhaften Jahrmarkt des menschlichen Gestrebes sich genügend umgesehen hat unter denen, die sich »Schaffende« nennen, und Kunst, Kultur, Wissenschaft, Erziehung, wenn nicht gar »Entwicklung des Menschengeschlechts« oder »Fortschritt der Menschheit« zu verwalten wähnen, der weiß, daß sich an die großen Ideen gerade die brüchigen Naturen hängen, und daß kaum je ein wahrerer Satz gesprochen wurde als der Satz Buddhas: »Unheilbar in der eigenen Haut wird's allgemeine Wohl erwählt« ... Das Zeitalter Nietzsches war nun aber das Zeitalter jener gräßlichen Stufen- und Periodizitätslehren der deutschen Geschichtsphilosophen, jener dürren, dürftigen Lehren, welche Geschichte der Staaten, Nationen und Kulturen vorstellen nach dem Muster eines natürlichen Organismus, als ein Aufkeimen, Blühen und schließliches Absterben. Es war für diese Art Geschichtsphilosophie kennzeichnend, daß sie sich einkleidete in die Maske des Schauens und Anschauens von Natur; während doch in Wahrheit hinter ihr stand der selbstgerechte und machtwillige Geist unsrer deutschen Begriffsmathematik. Die Verkündiger eines angeblichen »Entwicklungsprozesses« oder »Geschichtsprozesses« waren durchweg Männer von jenem lauten, willensstarken, überredenden Gepräge, der in der deutschen und englischen Erwerbswelt durchaus der herrschende geworden ist. Männer, denen nichts ferner lag als das sinnige Träumertum natureingewachsener Weltschau, ja die eigentlich zu Tun und Tat, nicht zu Betrachtung und Erkenntnis geboren schienen. Zuletzt tritt denn auch immer dieser Tatwille, in Form irgendwelcher nationaler oder klassenbedingter Forderungen und Aufforderungen aus der vermeintlich objektiven Weltschau hervor. Mit Fichte und Hegel begannen diese deutschen Menschheitsorakeleien. Bei Treitschke, Lagarde, Eucken, Troeltsch lebt genau dieselbe, im Grunde blinde, ja geradezu erbarmungslose Herrschsucht logisch-ethischen Geistes. Sie scheint zu gipfeln in Persönlichkeiten wie Hartmann, Chamberlain, Spengler, denjenigen deutschen Gestalten, denen wir jede Herrschgewalt und Allmacht des Wirkens wünschten, wenn sie nur das stille, demütige Reich der Kamenen nicht mit dem wilden Gebrüll all ihrer menschlichen Vorurteile erfüllten.

Unter alle diesen Entwicklungs- und Stufentheorien der Geschichte war nun zu Nietzsches Zeit die nahezu tolle »Dreistufenlehre« August Comtes am berühmtesten geworden. Nach der Comteschen Lehre soll der Mensch sowohl als Einzelner wie als Gruppe (sowohl »onto- wie phylogenetisch«) drei Stufen, die mythologische, metaphysische und positive zu durchlaufen haben, wobei die dritte, die sogenannte positive, d. h. die Stufe moderner europäischer Wissenschaft, die allerhöchste und sozusagen eine letzte Erfüllung des Naturablaufes ist. Diesen machtwilligen Gedankengang griff Nietzsche auf und verknüpfte ihn mit seiner Lehre vom Gegensatz der Leistungs- und Seinswerte. Halb spöttisch, halb im Ernst läßt er Zarathustra als erste Verkündigung an seine auserwählte Jüngerschar die neue »Dreistufenlehre« vortragen. Der Mensch ist zunächst Kamel. Das soll heißen: die Tugend des Anfangs ist eine opferwillige, tragbereite Tugend, ist Moral aus dem Geiste Kants, welche nur das Schwerfallende, nur das wider die natürliche Neigung und nur das »um der Pflicht willen« Geleistete gut nennt. Dann aber kommt eine zweite Stufe, auf welcher der Mensch zum Löwen wird. Das heißt zum Umstürzler und Anarchisten. Er zerreißt die Ketten, er bekämpft den Drachen »Du sollst«. Er zweifelt und bezweifelt. Er lehnt sich auf gegen Überlieferung und Obrigkeit. Aber auch dies ist nicht das Letzte. Das Letzte ist: das Kind. Das heißt: ein Zustand nicht mehr wollender, nicht mehr tuender, reiner Lebensschau. Die durch Denken und Wollen hindurchgegangene Schlichtheit der höchsten Reife; Natur in höherer Steigerung. Diesen Gedanken der Entwicklung zu neuer Kindschaft hin wiederholt Nietzsche ins Endlose. Der Held der Zukunft ist der unfeierliche Held. Wahre Größe ist wiedergewonnene Kindheit. Alles höchste Leben zeigt das Wesensbild der Pflanze: Ruhe, Beschlossenheit und Unschuld. Aus dieser seinsgeschlossenen Einstellung heraus wird fortan alles Laute, Absichtliche, Gespannte und Größenwillige für Nietzsche verdächtig. Daraus erklärt sich seine langsam wachsende Abneigung gegen »Pathetiker und Emphatiker«, gegen Naturen gleich Schiller, Herder, Kant, Wagner, aber auch gleich Dante, Pascal oder Carlyle. Und wie man immer am ungerechtesten über den Standpunkt urteilt, den man gestern noch selber verteidigte, und wie man am heftigsten solche Eigenschaften ablehnt, von denen man sich selber nicht ganz frei fühlt, so verpönt auch Nietzsche jenes Menschheitsbesserertum und jene schwellende Sittlichkeitsbegeisterung, aus denen ja gerade auch sein eigener, vierspännig dahersausender Stil so viel mächtige Sturmkraft empfängt.

Aus diesem Willen zum Gegenich steigt Nietzsches tiefe Liebe für Goethe; eine heimwehtiefe Zuneigung zu Adalbert Stifter und Gottfried Keller und die starke Vorliebe für Musik als der einzigen Kunst, der sittliches Wollen fehlt; auch für alle kindliche, naive Lyrik. So wird ihm denn das Ideal »Übermensch« zum Ausdruck alles höchsten, irdischen Seins, dem keinerlei Tätigkeits-, Nützlichkeits- und Leistungswert mehr anhaftet. Damit aber wird die »Ethik« (die ja zuletzt immer in Praktik mündet) völlig aufgegeben. Der gewöhnliche Sterbliche (so fordert Nietzsche) soll die Rechtfertigung seines Lebens darin finden, daß er dazu beitrug, daß so etwas Schönes wie der Übermensch auf Erden gedeihen kann. Ob dieser Übermensch für Menschen nützlich, bequem, beglückend ist, ob er menschliches Leiden mindert oder menschliche Lasten mehrt, das ist gleichgültig. Auch darauf kommt es nicht an, ob viele oder ob wenige, oder ob nur einer die höchste Übermenschenstufe erreicht. Nur daß das Höchste, daß die Vollendung erreicht werde, ist Ziel der Umwertung. In diesem Sinn ist auch der so viel mißdeutete Satz zu verstehen: »Strebe ich denn nach meinem Glücke, ich strebe nach meinem Werke.« Er bezieht sich keineswegs auf irgendeine Ethik des Tuns und Arbeitens. »Werk« des Übermenschen ist nur Ausdruck seines höchsten Seins und Soseins ... Ich glaube, daß diese ins Künstlerische, Ästhetische und Religiöse umschlagende Ethik den einzig möglichen Sinn alles Ethischen ganz und gar verkennt. Hier lebt im Grunde genau dieselbe Abneigung gegen Glück und Freude wie im Christentum, oder wie in der praktischen Philosophie des »deutschen Idealismus«. Jede Sittlichkeit, welche Leidensminderung und Glück (sei es das eigene, sei es das der anderen, sei es Gesamtheits-, sei es Einzelglück) als Lebensziel verwirft, mündet in das von Nietzsche bekämpfte, alles Leben hinnehmende Fatum. Die Forderung, nach dem »Werke« und nicht nach der Freude zu trachten, ist völlig sinnlos. Denn abgesehen davon, daß Glücklichsein und Wachstum eines vorgesehenen Werkes für die tätige Natur zusammenfällt, müßte man doch wohl erst erfragen, ob denn das Werk wirklich die Erfüllung des Ich ist und nicht auch unter Umständen die Selbstpreisgabe, ja das Opfer des Selbst erfordert.

Auch gegenüber dem Übermenschen kann diese verpönte moralistische Frage nicht verstummen. Woran eigentlich soll man erkennen, daß ein Wesen übermenschlicher Natur ist, wofern seine Göttlichkeit anderes Leben als Piedestal benötigt, ja sogar (wie Nietzsche will) auf Kosten der »Vielzuvielen« und auf den Trümmern ihres Kleinleuteglücks sich entfaltet? Und wie kann denn überhaupt das Lamm die Geburt des Raubtiers wünschen, wofern diese ihr nicht hilft, sondern nur ihr Schafsdasein vernichtet. Die Wahrheit ist: Nietzsche steht hier vor einem ungelösten, vielleicht nicht lösbaren Rätsel. Er sitzt in einer Begriffsfalle. Schuld daran aber ist der Umstand, daß auch er von den vielen Zweiheitsspielen modernen Begrifflertums sich narren läßt, von den philosophischen Scheingegensätzen wie Sozialismus-Individualismus, Altruismus-Egoismus, Kommunismus-Anarchismus und dergleichen Wortklopfereien mehr. Solche Gegensätze kennt wohl unser naturlos gewordenes Denken, nicht aber die lebende Natur. In der Natur pflegt das am schönsten und glücklichsten geratene Einzelexemplar immer auch am reinsten den Genius seiner Gattung zum Ausdruck zu bringen. In der Natur pflegt immer derjenige, der nur seinem eigensten, tiefsten Instinkte treu ist, damit auch das zu tun, was im Grunde (vielleicht ohne daß sie es im Augenblick wissen) alle wollen. Und so dürfte denn der abseitigste und besondersartige Einzelne immer zugleich auch der umfassendste und für die gesamte Gattung symbolische sein. Dazu kommt dieses: Verknüpfen und Teilen ist derselbe Akt. All das moderne Gerede über vermeintliche Gegensätze von Atomisierung und Synthese ist dialektischer Unfug. Ja, Nietzsches ganzer vermeintlicher Antikommunismus und Antisozialismus, all sein scheinbarer Personalismus und Individualismus fließen nur aus einem von ihm noch nicht durchschauten Begriffstruge. Daß aber der Philosoph in diese unlösbare Zwickmühle hineingeriet, in diese moderne Zwickmühle: Seinswert contra Leistungswert, Schönheit contra Arbeit, Ästhetisch-Religiöses contra Moralisch-Soziales, das dürfen wir ihm nicht zum Vorwurf machen, dürfen es nicht einmal als einen Mangel des Systems betrachten. Denn hier handelt es sich um letztes Erlebnis. Dieser Zwiespalt liegt eben im Element des Lebens selbst, inwofern dieses (wohlgemerkt) nicht mehr unbewußtes Element, sondern in Bewußtheit eingetretenes Leben ist. Wir könnten sehr leicht diese selbe unlösbare Zwieheit (die in der Logik zum Ausdruck kommt in der Beziehungsnatur von Substanz und Funktion, von Identität und Kausalität) auf den allerverschiedensten Gebieten aufweisen. Hier tritt uns wieder einmal vor Augen die große Spannung, dank deren eine bewußte Welt eben da ist; die große Spannung, deren Ausgleichung das Leben dieser Welt ausmacht. Die Spannung: Pflanze-Tier, Asien-Europa, Wille-Vorstellung, Mann-Weib, bis hinab in das tagtägliche Spiel aktueller Parteien und Antriebe, deren Spannung und Entspannung unsere Gegenwart unterheizt. Haben wir denn nicht Nietzsches Doppelmoral von Sein und Leisten überall vor Augen, wo eine Gruppe Menschen nach rechts oder nach links auseinandertritt? Immer zeigt die Rechte die schönere Gestalt, die bessere Haltung, das Haben, den Besitz und die Muße. Immer die Linke die bewegtere Seele, das höher gesteckte Ziel, die Leistung, die Opferkraft und die Arbeit.

Unser Zeitalter hat in Philosophie und Wissenschaft wunderliche Mißgebilde gezeugt, die klar uns vor Augen stellen die volle Unmöglichkeit, das Seiende ohne ein Strömendes, den Fluß ohne ein Ruhendes vorzustellen. Als klassische Beispiele nenne ich aus der deutschen Philosophie die physikalische Lehre von Ernst Mach, die psychologische von Wilhelm Wundt. Beide Denker lebten in jener Periode wissenschaftlichen Dünkels, die eine Art Haß erzeugte gegen alles, was man »Metaphysik« nannte. Exakt, wissenschaftlich, streng empirisch, das waren die höchsten Lobworte jenes Zeitalters. Und so kam man dazu, alles Substanziale aufdröseln zu wollen in reine Funktion oder Aktivität. Man scheute schließlich nicht mehr zurück vor den unmöglichsten Begriffsdichtungen, wie etwa vor dem Ungedanken eines reinen, energetischen Prozesses ohne eine zugrunde liegende ruhige Kraft. Man wähnte, es lasse sich eine reine Bewegung denken ohne ein Etwas, woran diese Bewegung vor sich gehe. Es lasse sich ein seelisches Leben denken ohne Seele, und ein Weltprozeß ohne Götter. Kurz, die ganze immer rechnende, immer zwecksinnige Tätigkeitssucht des Europageistes kam darin zum Ausdruck, daß auch unser Weltbild energetisch, dynamisch, aktivistisch, funktionalistisch wurde. »Bewegung ohne Bewegungsträger«, das ist, wie wenn jemand behaupten wollte: »Es gibt zwar Reiter, aber es gibt keine Pferde.« Nietzsches so folgeschwer gewordener Gegensatz von Seins- und Leistungswert ist nur ein Sonderfall des menschlichen Denkzwangs, ästhetisches Leben und moralisches Tun, kontemplatives Schauen von Gestalt und tätiges Erbauen von Form, Gelebtes und Gewußtes, in Eines erfahren zu müssen, da der Mensch die Welt in dieser doppelten Weise beständig hat. Nein! da der Mensch in dieser doppelten Weise beständig ist.


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