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Das neue Reich (1870)

Wer kann sich seinem Volke entziehen? Der Menschenfeind kann es. Schopenhauer, der inmitten der begeisterten Freiheitskämpfe gegen Bonaparte die Freiheitshelden verlacht als die »dezidiert dümmsten aller Menschen«. Der reife Weise kann es. Goethe, der Revolutionen und Kriege vorüberrauschen läßt und sich nicht dareinmischt, wie man vom Fenster aus zusieht, daß die Knaben sich prügeln auf der Straße, und nicht versucht ist, dabei mitzutun. Der junge Nietzsche war noch nicht weise, noch nicht Menschenfeind. Handelte es sich doch um das Schicksal seines Volkes, dem er soeben sich als Zukunftsherold zugeschworen, als dessen Prophet er zu fühlen begonnen hatte. Er zog also mit; wenn auch nicht als Soldat, der Wunden schlägt, so doch als freiwilliger Pfleger, der Wunden verbinden will. Damit kommt für sein strahlendes Leben die Wende. Von nun an treibt es Schritt um Schritt in Fraglichkeit und Gefährnis. Zunächst holte er sich bei Krankenbeförderungen her und hin über den Rhein die ersten Keime der späteren Krankheit. Sodann wurde unter der Feuertaufe der Knabe zum Wissenden, der Schwärmer zum Zweifler. Und wie nun siegreich das neue Reich erstand, wie alle schwelgten in Selbstgerechtigkeit und im Wahn, dass erlesene Führervolk Europas zu sein, da floh Nietzsches Herz zu den Unterlegenen, suchten seine Gedanken zeitfremde Ziele, bald aus individualistischen, bald aus übervölkischem Ethos. Immer weiter fühlte er sich zurückgestoßen von Zeit und Zeitgenossen, bis er schließlich statt Verkünder des neuen Deutschland der Feind des neuen Reiches war. Der »große Unzeitgemäße«, welcher Kampf ansagte nahezu allen führenden Personen und Kräften unserer Bildung, Philologie, Pädagogik, Geschichtschreibung, Theologie, Wirtschaftslehre, Technik, Staatskunst. Seine Jugendgenossen, seine Lehrer, seine Amtsgenossen wurden ihm fremd und fremder. Seine Nächsten, zumal Mutter, Schwester und Schwager, wurden ihm die Fernsten. Am längsten, bis 1876 etwa, hielt sein Glaube vor an Wagners Zukunftswerk. Aber seit 1871 begannen schon jene zeitkritischen Aufzeichnungen, mit denen er als erster die Morschheit des neuen Deutschlands betastete.

Jetzt kam die Zeit, wo Potsdam Weimar verdrängte. Sah man jemals solche Verameisung der deutschen Menschen? Nun wehte über allen deutschen Wäldern die Triumphflagge der neuen Zeit: der Rauch aus den Schloten der industriellen Gründer. Deutschland wurde Markt und Fabrik. In allen deutschen Städten riß man unfromm nieder die schönen Bauten der Vorfahren und ersetzte sie durch die lügenhaften Protzenburgen des Komforts und Amerikanismus: unecht, prahlerisch, dekorativ. Die zahllosen Kriegerdenkmäler auf unsern öffentlichen Plätzen, die abscheulichen Straßen aus Backstein mit vergoldetem Gips, die Stuckfassaden im falschen Renaissancestil, die riesigen, leeren Wandgemälde der Werner, Kaulbach, Makart, Piloty, die Büchermasse der Epigonen, der Wissenschaftsbetrieb im großen, Maschinenwelt und unwahre Romantik ineinander gemischt, Kasernenhöfe und Schulen und selbst der grauenhafte Prunk unserer Kirchhöfe, ach! alles, alles zeugt noch heute vom raschen Untergang jenes alten Deutschlands, darin Goethe, Schopenhauer, Mozart blühten. Nietzsche kehrte sich ab. Es war wie Genugtuung für das besiegte Frankreich, daß Deutschlands edelster Denker das französische Schrifttum dem nordischen vorzog. Auch gegen deutsche Musik wurde er mißtrauisch. Bellini, Rossini, Verdi lockten zurück. Taine und Stendhal wurden ihm Erlebnis. Die französischen Aphoristiker galten ihm als Vorbilder gepflegten Stils. Sein erstes selbständiges Buch widmete er Voltaire. Und wie zum Trotz gegen den nebulosen Teutonismus seiner Umgebung bevorzugte er (eigentlich als einziger) die damals noch elementbewegte jüdische Geistigkeit. Bizet, Offenbach, Heine. Ja, ein paar jüdische Literaten, heimatlos ohne Landschaft, Sigfried Lipiner und Paul Rée, wurden ihm an der Schwelle dieses Lebensabschnittes, den er oft halb ernst, halb spöttisch seinen Réealismus zu nennen liebte, wegeweisend und augenöffnend. Zunächst aber gerät er in siebenjährigen Krieg mit der Welt. Der dauerte von 1871 bis 1878.


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