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Die Geburt der Tragödie

Kommenden Geschlechtern bleibt es vorbehalten, dem merkwürdigen Zusammenhang zwischen deutscher Geschichtswirklichkeit und klassischem Ideal nachzuspüren. Denn wie überall das Ideal, an das geglaubt wird, sich zuletzt an denen, die es glauben, auch verleiblichen muß, so hat der Umstand, daß die hellenische Geschichte Mittelpunkt unserer gesamten Geistesbildung war, schließlich dahin führen müssen, daß die deutsche Kulturwirklichkeit fast die Wiederholung der altgriechischen wurde. Auf der Höhe der griechischen Bildung erscheint Sokrates, der Begriffsmeister. Er endet die mythische Zeit. So erscheint bei uns, das Ende der christlichen Jahrhunderte kündend, der »alles zermalmende« Kant. Wie aber an Sokrates die drei sokratischen Schulen, die drei Wertschulen anknüpften, die logische, ethische, ästhetische (Euklid, Anthistenes, Aristipp), eine die andere bekämpfend, so bei uns an Kant: die Hegelsche Dialektik, die Fichtesche Moralistik und Schellings Romantische Naturphilosophie. Nur ein einziger Jünger des Sokrates ging abseits, Feind allen drei Schulen, und die Historie vom Sokrates zum neuen Mythos umdichtend: Plato. Ihm entspricht bei uns Schopenhauer. Was aber späterhin Plotin für Plato getan hat, das hat Nietzsches Schriftstellerei für das Weltbild seines Meisters Schopenhauer geleistet.

Das Verfahren des jungen Nietzsche war einfach. Aus Schopenhauers Lehre war der Zwiespalt: Wille und Vorstellung, allgeläufig geworden. Das Gegenspiel unbewußter Traum- und Triebwelt und wach bewußter raumzeitlicher Bewußtseinswirklichkeit. Aus den Vorlesungen und Gesprächen des neuen Baseler Kollegen Jakob Burckhardt trat Nietzsche der weitere Gedanke entgegen, daß man griechische Kulturgeschichte wohl auffassen könne als Wettstreit von Asien und Europa, indem aus dem Morgenlande immer wieder neue naturmythische, orgiastische, religiöse Kulte eingeströmt waren (wie die Eleusinischen Mysterien und die Feste des Dionysos, von der orphischen Urzeit an bis zu unausrottbaren phallischen Freuden der Spätzeit). Dem entgegen arbeitete Europa, arbeitete des Abendlandes klarer Geist, versinnlicht in der hellen Luft Homers und in der klugen Streitkunst (Eristik) und Begriffstüftelei (Sophistik) sokratischen Menschentums. Einmal aber verschwand dieser Streit und Widerstreit. Einmal gelang das Vollkommene. Die Harmonie von Tag und Traum. Die Versöhnung »ungenaturter« und »genaturter« Natur. Das war im perikleischen Zeitalter. Auf der Höhe der Plastik und der Tragödie. Damals ward Wirklichkeit der Kanon der großen Dreiheit, der tragischen: Äschylos, Sophokles, Euripides; der bildnerischen: Phidias, Praxiteles, Lysipp. – Dies war Nietzsches Grundriß. Er wurde mit zahllosen Lichtern ausgefüllt. Er fußte auf der Tatsache, daß die griechische Geschichte erfüllt ist vom Doppelkulte des Apollo und des Dionysos. Bald nacheinander, bald auch nebeneinander. Zwanglos ergab sich die Gleichläufigkeit. Zeigt denn nicht auch deutsche Geschichte überall den Widerstreit der zwei Urgewalten? Kehrt nicht in jeder deutschen Seele ihr Gegensatz wieder? Hie Musik – Hie Grübelei. Hie Romanismus – Hie Gotik. Was willst du wählen? Natürliches oder Sittliches? Geschlecht oder Geist? Weib oder Mann? Traum oder Tag? Romantik oder Klassik? ... Ach, auf wie viele uns allen vertraute Formeln ließ sich dieser höchst einfache, metaphysisch bedingte Urgegensatz bringen. Und wie in Griechenland zuletzt die Versöhnung gelang im großen Zeitalter der Tragiker und Plastiker, damals, als das verstandesgeformte und gestaltenschöne Wortdrama herausgeboren wurde aus dem ursprünglichen, naturhaften, vorbewußten Rhythmenstrom des Tanzrausches, damals, als die Dichtung der Musik entstieg, und der Geist sich entband aus dem Melos; warum sollte so nicht auch in Deutschland das hohe Wunder gelingen? Warum sollte nicht deutsche Musik von Bach bis Beethoven schließlich dem Wort, dem Geist, dem Wissen sich versöhnen? Wie das geschehen mußte? Es lag auf der Hand. Richard Wagner war erschienen. Sein ungeheures Kunstwerk der Zukunft, den altgermanischen Mythos erneuernd, sein Theater im Herzen Deutschlands, im Frankenlande, dieses Weihespiel germanischer Volksseele und Gemeinschaftsseele, diese Verschmelzung von Rhythmik und Harmonie, von Tanz, Musik, Plastik, Malerei, Dichtung, Philosophie, diese endliche Erlösung der unendlichen Seele, war dieser Zukunftstraum nicht schon auf dem Wege zur Verwirklichung?! Wohl! Auch Schopenhauer hatte gelehrt, die Musik sei die unmittelbare Sprache des Metaphysischen. Aber die Szenen und Worte des Schauspiels, die aus dem Strome der Musik emporsteigen, wie Vorstellungen aus dem Abgrund dunklen Gefühls, diese Gesichte sind das metaphysische Ich noch einmal, versinnlicht für das Bewußtsein ... Wagners Werk und Ziel hatte durch den jungen Nietzsche somit Formeln gefunden. Sie verwoben Wagners Lebenszeitpunkt mit den Müttern der Welt. Wagner war von da ab die Tat von Nietzsches Gedanken. Nietzsche nichts anderes als ein Künder der mit Wagner beginnenden deutschen Erneuerung. Beide schienen eng und auf immer aneinander geknüpft. Denn nie ist ein Kunstwerk schöner in Geist und Wissen verfestig worden. Die verfeinertste Wissenschaft; klassische Philologie, deutsche Philosophie und deutsche Musik, sie waren nun verschmolzen. Und dieses junge Wahrsagerwerk war aus einer strahlenden, glücklichen Lenzzeit hervorgebrochen, so organisch und gleichmäßig, wie damals aus Wagners Seele im großen, rollenden Strom der Tristan brach. Hier verkündete sich wirklich eine neue Blüte deutscher Seele. Da stürzte das Traumgebäude jäh zusammen. Fachgenossen verspotteten den Schwärmer. Die Zeit aber rief nach anderer Tat. Der Deutsch-Französische Krieg brach los. Der Bruderkrieg auf Leben und Tod.


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