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Wille zur Macht
Rückschlagsgefühle (Ressentiment)

Indem Nietzsche begann, alle Erscheinungen der Kultur (Religionen, Künste, Wissenschaften, Philosopheme) auf ihr Gewordensein, d. h. auf ihre Gründe hin zu betrachten, leitete ihn ein einfacher Kerngedanke. Alles Leben ist Wachstum. Jedes Gebilde muß und will sich bewahren. Es wäre somit unmöglich, daß Einzelne, oder Gruppen solche Ideen und Ideale ergreifen, welche ihrem Wachstums- und Selbstbewahrungswillen entgegenwirken und für ihre Eigenart und deren Behagen zerstörend sind. Oder umgekehrt gesagt: die Ideen und Ideale des Geistes lassen immer Rückschlüsse zu auf die dahinter brennenden Lebensantriebe. Ideen sind Wunscherfüllungen. Sie sind Narkotika, umnaturte (pervertierte) Energien, Ersatzmittel des Rauschs oder, wie man mit einem Modeworte sagt: Kompensationen. Das Pferd philosophiert anders über die Peitsche als der Fuhrmann. Der Satte wertet die Speise anders als der Verhungernde. Der Gesunde hegt andere Träume als der Kranke. Dieses Verfahren nun (hinter den Normen und Wahrheiten, die Natur ihres tragenden Lebens zu erspähen) nennt Nietzsche: biologisch. Und als ein in christlichen, sozialethischen, humanen Gesinnungen großgewordener Europäer wird ihm ein Gebiet der menschlichen Betätigung vor allen anderen Gebieten zur Fraglichkeit: das Gebiet der sittlichen Schätzung, für welches er die heute bereits zum allgemeinen Gebrauch gewordenen Kunstausdrücke einführt: Wert, Werthaltung, Wertnorm. Wo immer aber er von »Werten« spricht, da meint er nur Moralisches. Und seine besondere Berufung, in deren Dienst er scharfsichtig, hellsichtig, übersichtig wurde, ist nun dies: Hinter allen Werten der christlichen Jahrtausende, mithin hinter der ganzen sozialen Sittenlehre Europas ist aufzuspüren das verknitterte Lebensgefühl Schlechtweggekommener, die große Bedürftigkeit der Menschenmassen und Massenmenschen. Es handelt sich um den Sieg des gehemmten Machtwillens, um den Machtwillen zahlloser Gehemmter. Dieser Spürarbeit Nietzsches dient nun sein zweiter (heute ebenfalls längst zu allgemeinem Mißbrauch entkernter) Hauptbegriff, der Begriff: Rückschlagsgefühl (Ressentiment). Als Rückschlagsregungen gelten ihm alle Lebenserregungen, die nicht unmittelbar aus freier Natur und eigentätig, sondern vielmehr aus einer in sich selbst zurückgedrängten Ohnmacht hervorgehen, aus einer Ohnmacht, die, um sich ausheilen, erretten, rechtfertigen oder rächen zu können, mittelbar und von hinten herum leben, ausleben, darleben muß. Wenn z. B. die Menschen, diese durch zu viel Gehirn größenwahnsinnig gewordenen »Raubtieraffen«, das ungeheure Zeitalter der Rieseneidechsen überdauerten, während alle jene Kolosse: Plesiosaurus, Ichthyosaurus, Dinosaurus ausgestorben sind, so konnte das nur dadurch geschehen, daß sie ihre geschicktere List und Hinterlist der körperlichen Überlegenheit jener massigen Ungeheuer gleichsam »von hinten herum« entgegensetzten. Wenn heute die Huftiere inmitten der Raubtiere bestehen bleiben, so ist das nur möglich, weil sie sich zu Herden zusammenrotten und die Gruppengefühle gesellig weidender Tiere entwickeln. Nietzsche nun glaubte zu entdecken, daß von jeher eine doppelte Moral: Herren- und Sklavenmoral, auf der Erde bestanden habe, indem die Herrschenden sich selber als die Guten befanden, dagegen alles schwächere, ohnmächtige und wehrlose Leben »schlecht« nannten; unter der Optik der Sklaven betrachtet, hieß dagegen umgekehrt der überwältigende Herrenmensch »böse«; »gut« aber alles, was hilfreich, mitleidig und sozial, das Los der Vielen und Vielzuvielen erleichterte und gegen die Übergriffe der Mächtigeren beschützte. Mit dem Untergang von Hellas und Rom, mit dem Aufkommen des Christentums soll nun (nach Nietzsches Auffassung) die ungeheure Massenvermehrung des Menschen begonnen haben. Sie aber brachte die Sozialmoral der Mühseligen und Beladenen zum Siege über das gesunde brutale Leben, so daß alles, was heute Ethik genannt wird, schon von vornherein Ausweis ist für eine Hemmung des Wachstums und für Notausgang einer Ohnmacht. So ist die Weltabkehr und Lebensfeindlichkeit im Buddhismus und Christentum ein Beweis für fortschreitende »Dekadence«. Der Erlösungsglaube ist der Ausdruck unsrer Bedürftigkeit nach Erlösung.


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