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Das Kulturproblem

Es ist wohl leicht einzusehen, wohin diese »biologische« Philosophie führen mußte. Zu einer Anzweiflung des menschlichen Geistes schlechthin! Zu einer Skepsis gegen Kultur überhaupt; soweit Kultur eben die Tat des Geistes und nicht nur ein Lebensausdruck ist. Schritt um Schritt wurde somit der Psychologe, Aufklärer und Freidenker zum romantischen »Reaktionär«. Schritt um Schritt wurde Voltaire, dem »Menschliches – Allzumenschliches«, das erste Werk der Freidenkerzeit, gewidmet war, verdrängt durch Rousseau. Denn mit Rousseau begann der in Nietzsche gipfelnde europäische »Kulturpessimismus«.

Man vergegenwärtige sich dieses große Problem. Auf die Frage der Akademie von Dijon: »Welche Einflüsse hat die Entwicklung der Wissenschaften und Künste auf das Glück des Menschengeschlechtes?« erteilte Jean Jacques Rousseau zu aller Staunen die unwiderlegliche Antwort, daß die geistige Überschärfung und Erweckung das elementare Glück des vorbewußten Lebens zerbrochen habe und zu einem großen Sterben am Geiste hintreiben müsse. Die höchst bedenkliche Deutung, welche Rousseau der menschlichen Kultur gab, läßt sich am besten zusammenfassen in ein Gleichnis, das er in einem Briefe an Voltaire gebraucht: »In den Stamm eines gesunden Baumes ist ein Messer gedrungen. (Dieses Messer ist der wache Wille des Menschengeschlechtes.) Nun kann man das Messer nicht mehr aus dem Baume herausziehen, denn dann würde der Stamm verbluten. Aber wird darum jemand behaupten wollen, daß das Messer im Mark zur Gesundheit des Baumes gehöre?« So auch, meint Rousseau, sei die Kultur hinzunehmen: ein nicht mehr rückgängig zu machender Sündenfall! ... Alles was ist, das muß freilich bleiben wie es ist; denn sonst wäre es überhaupt nicht (sint ut sunt aut non sint).

Mit dieser Erkenntnis aber konnte sich Nietzsches Grübeln schwerlich beruhigen. Denn in Nietzsche, obwohl er sich zunächst als Nurerkennender fühlte, gärte doch stets der Reformator- und Helferwille. Er frug nicht nur nach dem was ist, sondern nach dem Seinsollenden. Genau wie sein Ebenbild Zarathustra schwankte er zwischen Einsamkeitsseligkeit und Weltverbessererplänen. Und nie vermochte er sein Selbstgenießerglück mit dem praktischen Erzieherwillen zu versöhnen. Das Mitleid mit den Menschen, zumal den »höheren Menschen«, war seine stete Gefahr. Der große Notschrei aller Besseren drang bis in seine selbstfrohe Einsamkeit. Ja, es überkamen ihn Stimmungen, wie wir sie auch schon bei Schopenhauer, auch schon bei Hartmann fanden, jesuitische Stimmungen: »Müssen wir nicht zweierlei Wahrheit brauchen, exoterische (für die Allgemeinheit) und esoterische (für Eingeweihte)? Die äußerste Erkenntnis würde die Menschen unglücklich machen. Sie ist nur für ganz wenige, die sie zu ertragen vermögen. Wir können mit Wahrheit töten. Darum muß sie dem Volke vorenthalten bleiben. Der Baum des Wissens ist kein Baum des Lebens.« Kann es uns also verwundern, daß Nietzsches Freunde, Schüler, seine Geschwister, Mutter auf diesem Wege nicht mehr mitzugehen vermochten? Dieser Weg führte zu vollständiger Verneinung aller Geisteswerte als eines Ausdrucks absinkenden Lebensrausches. Alle aber, die Nietzsche nahestanden, wurzelten noch in Christentum oder Buddhismus. Jedenfalls aber in einer gemeinnützigen Nächstenliebe und in der deutschen idealistischen Philosophie. Nietzsche forderte, daß sie sich selber anbohrten, wie ja auch er beständig gegen sich selbst philosophierte. Erst mußte ein neues Geschlecht von Denkern kommen, ehe man sich ohne Verletzlichkeit und Scheu auch nur an Nietzsches Fragestellung und ihre Anzweiflung aller Ideale gewöhnte. Man mußte überhaupt erst das Problem, das er erlitt, sehen lernen. Und doch: auch Nietzsches Zweifel war noch nicht tiefbohrend genug. Zweierlei blieb noch zu entdecken. Erstens, daß das christlich-buddhistische Problem das logisch-ethische Rätsel selber und mithin das Rätsel des Menschen als des Wertenden, Urteilenden, Messenden schlechthin sei. Zweitens, daß dieses Menschenrätsel eben das große Rätsel des Geistes ist. Des Geistes, der aus dem Lebenselement heraus und ihm gegenübertrat: die feindgewordene Flamme, an der die Erde untergeht.


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