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Letzter Mensch. Höherer Mensch

Kein Zug lag im Wesen Nietzsches, den er nicht vorsichtig und verschwiegen, halb mit Absicht, halb wie im Traume, in seinen Zarathustra hineingeheimnißt hätte. Bevor er aber die Reden Zarathustras niederschrieb, schickte er dem Werke voraus eine schamhaft verklauselte »Vorrede«, die nichts anderes ist als einerseits die Beichte seines bisherigen Lebensganges, andererseits die vorweggenommene Verteidigung wider alles, was sich gegen die neue Lebensreligion einwenden ließe. – Zarathustra, der einst »seine Aschen zu Berge trug«, ist nach langen Jahren der Einsamkeit bereit, sein Feuer in die Täler zu tragen. Er möchte loskommen von der Selbstgenügsamkeit seiner Herrenmoral. Er möchte ein sozial arbeitender Mensch werden, sich hingeben und sich aufgeben. Und nun schildert die Vorrede seinen Zusammenbruch. Dem vom Berge herabsteigenden, der ein Volkserzieher werden möchte, kommen warnend die zwei Lehrer seiner Jugend entgegen. Vor dem Zusammenbruch Schopenhauer (in der Gestalt des glückseligen Eremiten). Nach dem Zusammenbruch Dühring (in der Gestalt des galligen Eremiten). Beides sind Typen einer eigenbezüglich-massenfeindlichen Eigenbrödelei. (Mit Schopenhauer und Dühring hatte Nietzsche in jenem Zeitpunkt gebrochen und abgerechnet, wenn auch in verschiedenem Sinne.) Vor allem aber tritt dem zum Volke herabgestiegenen Zarathustra sein eigener Doppelgänger entgegen, jene Verwechslung, die jedem Genius droht, der nicht auf öffentliches Wirken verzichtet: der »Mann nach dem Herzen des Volkes«, der Schaumschläger, die Leithammelberühmtheit. Sie ist es, auf die das Volk eingestellt ist und auf die es wartet. Nur ein einziger ist noch stärker als der Tagesberühmte, nämlich der vollendet Rücksichtslose (eben der Doppelgänger des Zarathustraideals, der »Affe des Ideals«). Mit diesen beiden Gattungen möchte Nietzsche nicht verwechselt werden. Nicht mit dem Seiltänzer und nicht mit dem dreisten Übertrumpfer des Seiltänzers. Und doch hält das Volk den Zarathustra bei seinem ersten Auftreten sofort für einen bloßen Vorläufer und Ankünder der ihm allein verständlichen Art von »großen Männern«, für den Herold eines neuen Seiltänzers. Was aber Zarathustra lehrt und verkündet: »der Übermensch«, das wird sofort mit der Rauhbeinmoral des Ellenbogenstarken verwechselt ...

Schon in dieser »Vorrede« wird somit klar, daß Nietzsche vor nichts mehr Scheu hat als vor der Verwechslung seiner Übermenschenlehre mit dem Rohlingsideal einer muskelfesten Machtmoral. Lieber noch möchte er dienen einer »Autorität des Marktes« (dem »großen Mann«, welchem das Volk zujubelt, solange er vor ihm seiltanzt, den aber alles Volk sofort vergißt, sobald er durch einen noch frecheren gestürzt ist). Nur die »Totengräber vor den Pforten der Stadt zur bunten Kuh« (Nietzsche meint damit die Historiker und Philologen) weihen der gestürzten und somit auch vergessenen Größe ihre lieblosen, besserwissenden und hämisch auswertenden Nachrufe und Beurteilungen. Aber dem Zarathustra droht noch Schlimmeres, als daß ihn das Volk für den Ausrufer eines Seiltänzers hält, oder als daß es seinen »Übermenschen« mit einem nur Rücksichtslosen verwechselt. Das Ekelhafteste, was Nietzsche kennt: der letzte Mensch, diese Gipfelblüte der Bildungs- und Betriebsmenschheit unsres Abendlandes (ein schlechthin unsterbliches Symbol für alle Nützlichkeits-, Zivilisations- und Glückseligkeitsethik), wird vom Volke dem heroischen Zielbild des Übermenschen vorgezogen. So gewinnt Zarathustra die bittere Gewißheit, daß er niemals verständlich werden kann für »lange Ohren«. (In den Kapiteln von den »Zwei Königen« und im »Eselsfest« erscheint das Volk unter der Gestalt des lenksamen, immer Jasagenden und doch dumm störrischen Esels.) Zarathustra, von allen verschmäht, hält zuletzt nichts im Arm als – die Leiche des gestürzten Volksheros. Und nun zeigt sich, daß er der einzige ist, der dem Gestürzten gerecht werden kann, der einzige ehrfürchtige Bewahrer und Verehrer jener Größe, die das Volk vergißt, sobald ein erfolgreicherer Seiltänzer in Mode kommt. Diese Erfahrung treibt Zarathustra aufs neue in Einsamkeit. Und er nimmt von diesem ersten mißglückten Versuche zu Volks- und Lebensreform nur die eine Gewißheit mit, daß er nur wirken kann für wenige, nur für die »adeligsten Typen unter den Gegenwärtigen«, welche Nietzsche (halb ironisch) »die höheren Menschen« nennt. Die Zerrissenheit und Lebensgebrochenheit dieser höheren Menschen ist die große Mitleidsgefahr des Zarathustra ...

Ich begnüge mich hier mit diesen kurzen Andeutungen über den Inhalt der sehr gewundenen, verschnörkelten »Vorrede«, und tue es auch nur darum, weil diese Vorrede sehr schwer verständlich ist und bisher niemals völlig verstanden wurde. Ihr folgen die wundervollen Reden, welche Zarathustra an die »höheren Menschen« richtet. Das Vorbild dieser Reden sind einmal die Worte Christi an seine Jünger (wie denn auch Gleichnisse und Bilder aus dem neuen Testament, nicht ohne Hohnabsicht, nachgebildet werden). Sodann aber schweben als Vorbilder vor: die Reden Buddhas, welche durch die niemals genug zu rühmende Lebenstat Karl Eugen Neumanns zu jener Zeit meisterhaft eingedeutscht wurden. Für die Gestalten der »höheren Menschen«, welchen die Rolle der zwölf Apostel zugedacht ward, entlehnte Nietzsche das Antlitz von den hervorragendsten seiner Zeitgenossen. Auch dieser Zusammenhang ist von den bisherigen Erklärern nicht klar gesehen worden (obwohl er in »Schopenhauer-Wagner-Nietzsche« schon vor zwanzig Jahren ganz scharf geklärt ward). Nietzsche schuf sich mit dieser Art »Schlüsselroman« die Gelegenheit, alle bedeutenden Erscheinungen seiner Tage auszuwerten und ihre Hinter- und Untergründe ins helle Licht zu stellen. Da ist zunächst »der alte Wahrsager«, welcher immer seufzt und immer recht behält, aber zuletzt von Zarathustra bekehrt wird. Mit dieser Gestalt ist Schopenhauer gemeint. Dagegen erscheint Wagner in der Gestalt des »alten Zauberers«, eines Blenders, der die Seelen überwältigt, indem er das Genie spielt, für das er sich dennoch im Herzen des Herzens als unzulänglich empfindet. Der »Gewissenhafte des Geistes«, der sein Leben der Erforschung des Blutegelgehirns widmet, dieser selbstquälerische und sich künstlich verengende Sklave moderner »Wissenschaftlichkeit«, ist Darwin. Der »schäumende Narr«, welcher innerhalb der modernen Kultur wohnen bleibt, um über sie toben und belfern zu können, ist Dühring. Die übrigen »höheren Menschen«, welche Zarathustra sozusagen als »eugenisches Baumaterial« aufsammelt und zu Vätern und Müttern des künftigen Übermenschen bestimmt, tragen weniger persönliche und mehr schulmäßige Züge. So insbesondere »der letzte Papst«, der sich über Gottes Tod nicht trösten kann, weil er als Priester, (d. h. als Beschirmer alles »Dekadenten«), davon überzeugt ist, daß Gott als Arznei nötig sei, um »in Unschuld lügen« und mit heilsamer Narkose die Störungen des Lebens übertäuben zu können. Neben ihm erscheint der »häßlichste Mensch«, welcher Gott durch seinen Anblick gemordet hat, weil sein Stolz es nicht ertrug, daß ein Zeuge von so viel geheimgehaltener Menschenhäßlichkeit lebe (wohl die feinste Seelendeutung eines bestimmten Einsiedlertums wie eines bestimmten Atheismus). »Gott aber starb am Mitleid über diesen Menschen.« Da sind ferner die beiden Könige, welche nicht mehr Könige sein wollen, weil sie verlernt haben zu befehlen und im Zeitalter der Demokratie – zu viel »soziale Tugend« angenommen haben. Der »freiwillige Bettler«, der aus Ekel vor Europas übertünchter Höflichkeit sein Genügen bei den Kühen auf der Weide sucht, trägt zum Teil die Züge Rousseaus, zum anderen Teil schon diejenigen Tolstois.

Für besonders genial halte ich die gespenstige Gestalt des »Schattens«, dieses unzertrennlichen Begleiters und Nachdenkers des Zarathustra. Bei ihm möge man an die Typen moderner Publizistik denken, von denen Nietzsche besonders Stendhal und Taine vorschwebten, geniale Grenzenlose, die aus allen Töpfen naschen, hinter allen Öfen sich wärmen, alles wollen, alles können, aber immer nur als Spiegel, voller Sehnsucht nach einem Glauben, einem Wahne, der wie ein Gefängnis Abschluß und Sicherheit verleiht. Mit diesen wunderlichen Weggesellen feiert Zarathustra eine grausige Parodie auf das heilige Abendmahl und verkündet ihnen um Mitternacht in der schweigsamsten Stunde, wo die Tageswoge des Bewußtseins und das leidlose Traum- und Bildmeer jenseits des Bewußtseins ineinander überfließen, seine beiden großen Kerngedanken, den Tagesgedanken: die nahende Geburt des Übermenschen in der Stunde des »kürzesten Schattens« und den Nachtgedanken: die ewige Wiederkehr des Gleichen ... Wir werden im folgenden sehen, daß diese beiden in Nietzsches Geist miteinander ringenden Gedanken, der ethische und der kosmische, unvereinbar blieben und daß an ihrem Gegensatz und Widerspruch Nietzsches Denken zerbrach.


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