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Die Jugend

Wo gibt es mißbrauchteres, ausgeödeteres Land als die Felder Sachsens? In dichtbevölkerten, vom Kohlenrauch verhüllten Ebenen liegen Dörfer, die nicht mehr Landschaft und noch nicht Stadt geworden sind. Rübenfelder, Kartoffelfelder, Nutzwiesen. Zwischen Schloten steht spärlicher Nadelwald. Aber an den städteverbindenden Landstraßen wächst Deutschlands schönster Baum: die Birke. Blond wie das Flachshaar der norddeutschen Kinder. Zart wie die kleinen Konfirmanden, die in den Dörfern zur Kirche gehen. Sie, die das lieblichste Laub trägt und die verletzlichste Rinde hat, aber doch noch Wurzeln schlägt in jeden Steinhaufen, in jede Gefängnismauer ... In einem der kleinsten Dörfer in der Umgebung Leipzigs, in Röcken bei Lützen, wurde Friedrich Wilhelm Nietzsche geboren. Am 15. Oktober 1844. Sein Vater war Pfarrer. Auch dessen Vater war Pfarrer gewesen und mit einer Pfarrerstochter verheiratet. Die Mutter Nietzsches, eine geborene Oehler, stammte ebenfalls aus freigesinntem Pfarrhaus. Sie war vierundzwanzig Jahre alt, als ihr Mann starb. Mit ihren beiden kleinen Kindern, Fritz und Elisabeth, übersiedelte sie in das reizende Naumburg, wo ihre Schwiegermutter lebte und deren Schwestern. Unter der Obhut all dieser Frauen erwuchs der zarte Knabe zum musterhaft sittsamen Jüngling. Bei Regenwetter einmal kommt er manierlich langsam von der Schule. Großmutter tadelt, daß er sich naßregnen lasse, aber der künftige Weltumwerter erwidert: »Paragraph drei des Schulreglements schreibt vor: ›Die Kinder haben auf dem Weg nach Hause eines gesitteten Ganges sich zu befleißigen‹.« – Welch' Knabe nach dem Herzen der Lehrer! Der Leiter der benachbarten Erziehungsanstalt Schulpforta bietet der Witwe eine Freistelle an. Und so wird Friedrich Nietzsche Schüler seiner geliebten Pforta; von 1858 bis 1864. Seine Entwicklung auf der berühmten Musterschule verläuft im edelsten Sinn regelrecht. Er blüht heran ohne Kampf und Reibung. Das poetische, musikalische, philosophische Talent erwachen früh. Verständnisvolle und tüchtige Lehrer sehen es. Sie bereiten dem Knaben kein Hindernis. Auch die Mitschüler lieben den feinen, sinnigen Kameraden. Als er zwanzig Jahre alt ist, bezieht er die Universität Bonn. Schon damals besitzt er die ausgedehnteste philologisch-literarische Bildung. Er war ein blumenhaft reiner, junger Mensch, wie aus der Welt Adalbert Stifters. In ihm lebte nichts Aufrührerisches, nichts Zersetzendes. Er schließt sich vertrauend und froh empfangend an die berühmten akademischen Lehrer jener Zeit. Zugleich wird er Mitglied der Burschenschaft Frankonia. So scheint es festzustehen: dieser reine und reinliche Jüngling wird lernen, lesen, arbeiten, wird die »akademische Karriere« einschlagen und »grundlegende, wissenschaftliche Bücher« schreiben. Nebenher wird er heiraten und ein angesehenes, musterhaftes Haus gründen. Ihn trug die selbstgerechteste Gesellschaft Europas: das liberale Bürgervolk, das Korpsstudententum, die Gelehrtenrepublik, die akademische Bildung. Sie sahen alle in dem prachtvollen Jüngling ihre bestgeratene Bestätigung. Und der alte Philologe Ritschl, dem der junge Nietzsche als Lieblingsschüler von Bonn nach Leipzig folgte, hatte recht einen Narren gefressen an dem edelbescheidenen Jünger, der eine schwere philologische Preisaufgabe mit tiefer Gelehrsamkeit löste, und seitdem als die geheime Hoffnung der niedergehenden klassischen Wissenschaft galt. 1867 bis 1868 genügte der Student seiner Dienstpflicht als Soldat in Naumburg. Auch das geschah gern, und ohne Widerspruch zu der wohlgefügten, geordneten Welt, in der er groß wuchs. Zwischendurch begann er sich vorzubereiten zur Doktorprüfung, dachte wohl auch schon an die Habilitierung als klassischer Philolog. Aber noch ehe seine Arbeiten beendet waren, überraschte den erst Vierundzwanzigjährigen die Nachricht, daß er zum ordentlichen Professor in Basel ernannt worden sei. Der alte Ritschl hatte bei der Wiederbesetzung einer freigewordenen Stelle den Lieblingsschüler so warm empfohlen, daß der Senat der Stadt großzügig beschloß, ihn zu berufen, noch ehe die Doktorprüfung gemacht war. Wahrlich ein leichter Aufstieg! Im Sturmschritt flog er auf jene Höhe der Fachgeltung, welche die Gefährten seiner Jugend, die Genossen der Studienjahre, die Kollegen der Amtsjahre nur langsam erklommen, Schritt um Schritt: Paul Deussen, der Indologe; Erwin Rohde, der Gräzist; Jakob Burckhardt, einer der besten Kultur- und Kunsthistoriker; Franz Overbeck, einer der klügsten Theologen. In deren geistig hochgestimmtem Umkreis wuchs Nietzsche groß. Er wäre weitergewachsen zum allgemein anerkannten Stern ersten Ranges, der in den Nachschlagebüchern der Zeit verewigt steht und ein, zwei Geschlechter lang als gültig angesprochen wird, wenn nicht, ja, wenn nicht schweres Schicksal ihn getroffen hätte: Krankheit, Verzweiflung, Einsamkeit, die große Pflugschar, die den jungfräulichen Boden aufriß. Und in die Furchen schossen Keime der Befreiung.


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