Leo Leipziger
Der Rettungsball
Leo Leipziger

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XV.

Es war Mitte November geworden, bis Tante Idas Genesung so weit fortgeschritten war, daß Sie an zwei Krücken ihre ersten Gehversuche unternehmen konnte.

Nun ruhte sie im Wohnzimmer auf ihrem Krankenstuhl und fühlte sich ganz behaglich.

Lenchen deckte den Kaffeetisch für zwei Personen, denn Moritz hatte sich gleich nach der Börse zum Besuch angemeldet.

»In wichtigen geschäftlichen Angelegenheiten,« so lautete seine telephonische Benachrichtigung.

»Hast du eine Ahnung, Lenchen, worum es sich handeln kann?« fragte Tante Ida, deren neu erwachende Lebenskraft in ihrem regen Interesse für alles, was im Hause und im Bureau vorging, deutlich zum Ausdruck kam.

Lenchen zuckte die Achseln.

»Keine Ahnung« wiederholte sie, »aber da ist er schon selber.«

193 Unten von der Straße klang die Hupe eines Autos herauf, und Lenchen sah vom Fenster aus, daß der Berg-Hirsch dem Benzinkasten entstieg.

Sie eilte zur Entreetür, um selber zu öffnen. Dann geleitete sie den willkommenen Gast ins Wohnzimmer und ließ die beiden allein.

Moritz überreichte dem alten Fräulein einen prachtvollen Strauß von roten Nelken. Er hatte immer eine kleine Aufmerksamkeit für die Kranke. Nie kam er mit leeren Händen. Gestern war es eine Flasche uralten Portweins von F. W. Borchardt gewesen, da der Arzt der Patientin zu ihrer Stärkung einen guten Tropfen verordnet hatte, und heute waren es die duftigen Blüten.

»Sie verwöhnen mich wirklich zu sehr, Herr Hirsch,« dankte Fräulein Susemaus herzlich. »Wenn ich wieder ganz gesund bin, werde ich mich nach den Tagen meiner Krankheit zurücksehnen, in denen ich so viel Beweise echter Freundschaft und warmen Mitgefühls erhalten habe . . .«

»Na, den Vogel hat aber doch Fräulein Lenchen abgeschossen,« erwiderte Moritz, indem er sich eine Tasse Kaffee einschenkte.

194 »Das ist allerdings wahr,« pflichtete Tante Ida bei. »Ich habe sie aber auch ins Herz geschlossen, wie mein eigenes Kind . . . Soviel Güte, soviel Geduld, soviel mädchenhafter Liebreiz . . . und dabei immer bescheiden . . . immer guter Laune . . . ein goldenes Herz . . . Max kann wirklich von Glück sagen . . .«

Moritz verschluckte sich. Er hustete und hielt das Taschentuch vor den Mund.

Tante Ida sah ihn besorgt an.

»Ich glaube der ›Max‹ ist mir in die unrechte Kehle gekommen,« entschuldigte er sich.

»Wie meinen Sie das? fragte Tante Ida etwas verdutzt.

»Max,« erklärte der Berg-Hirsch, »hängt nämlich innig mit der ›geschäftlichen Angelegenheit‹ zusammen, die ich Ihnen zu unterbreiten habe.«

Er holte einen Brief aus seinem Portefeuille hervor.

»Die Deutsche Bank teilt Ihnen mit, daß Herr Max Susemaus Ihnen 200 000 Mark überwiesen hat, die Ihrem Konto gutgebracht worden sind . . .«

»Wie ist das möglich?« fragte Tante Ida erregt.

195 »Sehr einfach,« erwiderte Moritz. »Er hat sein Engagement in Kanada zum Kurse von 245 gelöst. Er hat nicht nur seinen Verlust wieder eingeholt, sondern eine schöne Summe Geldes dazu verdient, und betrachtet es naturgemäß als seine erste Pflicht, seine Schulden zu tilgen . . .«

Tante Ida sah ganz niedergeschlagen aus.

Moritz wußte recht gut, warum, aber er tat so, als ob er nichts merkte.

»Ich dachte,« meinte er leichthin, »ich würde Ihnen mit dieser Nachricht eine große Freude bereiten . . . Nicht alle Schuldner regulieren so prompt . . .«

Täglich sinkt die Sonne nieder,
Täglich weicht die Nacht dem Licht,
Alles sieht man immer wieder,
Nur Verpumptes – meistens nicht

Tante Ida ging aber heute auf den scherzhaften Ton nicht ein. Sie ging ihren Gedanken nach und sagte nach einer Weile zögernd:

»Diese Rückzahlung bedeutet wohl auch: Ich erkläre meine Verlobung mit Fräulein Malthus hiermit für aufgehoben?«

Moritz nickte.

Er hielt es für richtiger, gleich die Wahrheit zu gestehen und keine langen Umwege zu machen.

»Und er kehrt wohl zu Fräulein Meta 196 zurück,« fragte Tante Ida weiter, »die ihn mit offenen Armen wieder aufnimmt? . . .«

»Da sollten Sie doch Fräulein Andrée besser kennen,« gab Moritz zur Antwort . . . »schon von dem Brief her, den sie Ihnen seinerzeit schrieb . . . . Das Gegenteil Ihrer Vermutung ist der Fall, und ich appelliere sogar an Ihre Güte, um Fräulein Meta gefügig zu machen.«

»Ich soll mich bemüh'n, damit mein Neffe sein Verhältnis zu Fräulein Pietschke fortsetzt? Das meinen Sie doch wohl nicht im Ernst, verehrter Herr?« . . . stieß Fräulein Susemaus heftig hervor.

Aber Moritz ließ sich nicht beirren.

»Es handelt sich gar nicht mehr um ein Verhältnis, gnädiges Fräulein, sondern um etwas weit Seriöseres – um eine Ehe . . . . Fräulein Meta hat ihre Kapitulationsbedingungen dahin präzisiert, daß Max bei ihrem Vater um ihre Hand anzuhalten hat, und Max hat diesen Schritt, der ihm ungemein schwer fiel, auch getan . . . Aber Herr Pietschke senior hat ihn abgewiesen und verlangt, daß Sie als Tante des reuigen Sünders Ihre Bereitwilligkeit erklären, nach der Rückkehr vom Standesamt Frau Meta Susemaus, geborene Pietschke, als 197 gleichberechtigtes Familienmitglied in Ihr Haus aufzunehmen . . . Herr Pietschke wird sich erlauben, Ihnen morgen vormittag zu diesem Zweck seine Aufwartung zu machen . . .«

»Und er wird nicht empfangen werden!« . . . unterbrach Tante Ida Herrn Hirsch.

Sie war außer sich.

Eine Röte des Zornes stieg in ihre Wangen, und auch dem armen Moritz wurde in diesem Augenblick recht unbehaglich zumute.

Beide schwiegen, und nur das Ticken der alten Wanduhr war vernehmbar.

»Darf ich Ihnen eine kleine Geschichte erzählen?« fragte Moritz endlich.

»Wohl wieder alt-persisch,« bemerkte Tante Ida anzüglich.

»Ganz richtig geraten . . . Alt-persisch,« wiederholte Moritz. »Die Geschichte von Emir von Beludschistan:

»Der Emir von Beludschistan
War hochberühmt als weiser Mann,
Er lehrte: Niemals bringt Gewinn
Dem Menschenvolk – der Eigensinn! . . .
Weh' jedem Kind und jedem Greis,
Der ihn nicht zu bezähmen weiß –
Dagegen gleicht, wer dieses kann,
Dem Emir von Beludschistan

198 »Das ist alles?« . . . . bemerkte Tante Ida spitz.

»Noch nicht ganz,« fuhr Moritz fort. »Der Herr Emir war nämlich nicht immer so weise gewesen . . . . Erst, nachdem er einmal aus Eigensinn in tiefer Nacht die dunkle Kellertreppe einer Moschee hinabgestiegen war und dabei einen erheblichen Unfall erlitten hatte – erst seit jener Stunde rang er sich zu der Erkenntnis durch, die ihn in Persien und den umliegenden Ortschaften berühmt gemacht hat.« . . .

Tante Ida dachte nach. . . . Ihre Hände zitterten unruhig. . . . Sie schien mit sich zu kämpfen . . .

Aber Moritz erhielt keine bündige Antwort auf seine Frage. Das alte Fräulein wünschte anscheinend nicht, in diesem Augenblick auf das heikle Thema zurückzukommen und kramte in den Geschäftspapieren, die in einer blauen Mappe vor ihr lagen.

»Ich danke Ihnen übrigens, sagte sie nach einer Pause wieder ruhig und gefaßt, »für die ausgezeichnete Wahl, die Sie in der Person des Herrn Sally Freudenstein getroffen haben. . . . Er hat sich glänzend bewährt und einige neue Geschäftsverbindungen angeknüpft, um die ich mich selber seit Jahren vergeblich bemüht 199 habe. . . . Ich bin ordentlich stolz, daß ich jetzt sogar die alte berühmte Konservenfabrik von Merke & Co. in Hamburg zu unseren Kunden zählen darf. . . . Ich freue mich darauf, dem jungen Mann persönlich meine Zufriedenheit aussprechen zu dürfen, und, da Sie gerade anwesend sind, will ich es in Ihrer Gegenwart tun.« . . .

Jetzt fuhr dem bedauernswerten Moritz ein Schrecken durch alle Glieder.

Auch das noch . . . das war doch etwas viel für die Rekonvaleszentin.

Er sah nach der Uhr.

»Ich habe es heute sehr eilig,« gnädiges Fräulein,« meinte er ausweichend, »wir könnten das doch auf einen anderen Tag verschieben?« . . .

Aber Tante Ida hatte schon auf den Knopf der elektrischen Tischglocke gedrückt.

Lenchen trat ein.

»Liebes Kind,« bat Fräulein Susemaus freundlich, »geh' doch mal hinunter ins Büro . . . Ich lasse Herrn Sally Freudenstein bitten.« . . .

Lenchen sah aus, als wenn sie eben der Blitz getroffen hätte, und ihre Blicke wanderten flehend zu Moritz, als ob sie bei ihm Rettung suchen wollte. . . . Aber der Berg-Hirsch hatte die Augen niedergeschlagen und zählte 200 anscheinend emsig die bunten Arabesken, die in den Teppich eingewebt waren. . . .

»Sofort . . . Tantchen,« flüsterte sie endlich.

Die paar Minuten, die nun vergingen, dünkten Moritz eine Ewigkeit.

Tante Ida hatte sich in ihre Papiere vertieft, und dem bedauernswerten Berg-Hirsch war zumute wie dem Delinquenten, an den der Gefängniswärter kurz vor der Hinrichtung die freundliche Aufforderung richtet: »Ziehen Sie sich an, es ist Zeit.« . . .

Ein schüchternes Klopfen ließ sich an der Tür vernehmen.

»Herein!« . . . sagte Tante Ida.

Eine schlanke Männergestalt wurde sichtbar. Die Gesichtszüge waren im Schatten des Zimmers nicht deutlich erkennbar.

»Treten Sie nur näher, Herr Freudenstein,« klang es warmherzig aus dem Munde des alten Fräuleins . . . »ich will meinem neuen Mitarbeiter die Hand schütteln für seine treue und ersprießliche Pflichterfüllung.« . . .

Moritz saß da wie gelähmt.

Er glaubte bereits den kalten Stahl des Henkers an seinem Halse zu fühlen und wackelte mit dem Kopf wie eine chinesische Pagode. . . .

201 Jetzt fiel das volle Licht der Lampe auf den Enkel der Kreuzritter.

Tante Ida verfärbte sich. . . .

Langsam zog sie die Hand zurück, die sie schon zum Willkommengruß ausgestreckt hatte. . . .

Moritz suchte die Situation durch einen Witz zu retten. Er sprang auf und deklamierte:

»Betrachten Sie mich nicht als Schurken,
Ich tat's für Lenchen und – die Gurken

Aber diesmal verfing sein Humor nicht.

Mit kühler Vornehmheit sagte Fräulein Susemaus zu dem falschen Freudenstein:

»Sie haben sich unter falschem Namen in mein Haus eingeschlichen, Herr Baron. . . . . Ich weiß nicht, wie Sie dieses Vorgehen mit den Ehrbegriffen vereinen, auf die man in Ihren Kreisen besonderes Gewicht zu legen pflegt. . . . Betrachten Sie sich als entlassen, . . . weiter haben wir beide uns wohl nichts mehr zu sagen.« . . .

Sieghard klappte militärisch die Hacken zusammen und machte eine so tiefe Verbeugung, als ob er nicht vor Fräulein Ida Susemaus in der Fischerstraße, sondern vor S. M. bei der Defiliercour im Weißen Saale stände.

»Zu Befehl, gnädiges Fräulein,« das war 202 das Einzige, was er herausbrachte, und schon war er draußen.

Nun wollte sich Moritz gerade anschicken, eine glänzende Verteidigungsrede zu halten. . . . Aber er kam nicht zu Wort. . . .

Dem alten Fräulein war die innere Erregung kaum anzumerken, als sie mit ruhiger Stimme, die nur etwas schärfer und schneidender klang als sonst, zu Herrn Hirsch sagte:

»Ich danke Ihnen, Herr Hirsch, für die große Geschicklichkeit, die Sie als mein Generalbevollmächtigter an den Tag gelegt haben . . . Ich fühle mich aber jetzt wieder kräftig genug, um meine Angelegenheiten allein in die Hand zu nehmen. . . . Somit entziehe ich Ihnen die Generalvollmacht. . . . Eine entsprechende schriftliche Benachrichtigung wird Ihnen durch meinen Notar zugehen.« . . .

Das war eine Verabschiedung in optima forma.

Moritz machte nun seinerseits eine tiefe Verbeugung, die freilich nicht so elegant ausfiel wie die seines Vorgängers. Er versuchte auch noch schüchtern, seiner bisherigen Machtgeberin die Hand zum Abschied zu reichen . . . . aber Fräulein Susemaus sah geflissentlich weg. . . .

203 »Moritz, alter Junge,« murmelte er vor sich hin, als er die Treppenstufen hinabstieg, »so einen schlechten Abgang hast du noch nie gehabt.« . . .

Tante Ida war allein.

Sie hielt ihr Antlitz mit den Händen bedeckt und ließ im Geiste nochmals alles das an sich vorüberziehen, was innerhalb weniger Stunden auf sie eingestürmt war. . . .

Noch vermochte sie es nicht, sich zu innerer Klarheit, zu einem festen Entschluß durchzuringen. . . . Nur das Eine fühlte sie, daß ihr Kartenhaus zusammenfiel . . . daß das Leben da draußen in dem neuen Berlin ganz anders flutete und wogte, als in dem stillen und verträumten Winkel der alten Fischerstraße. . . . .

Sie erwachte erst aus ihrem tiefen Hinbrüten, als eine zarte Mädchenhand sich schmeichelnd auf die ihre legte.

Lenchen stand vor ihr. . . . . in Hut und Mantel.

»Ich wollte dir Adieu sagen,« klang es traurig und resigniert aus Lenchens Mund. . . .

»Richtig,« erwiderte Tante Ida, »ich hatte ja ganz vergessen, daß heute deine Krankenpflege zu Ende ist. . . . Du gehst wieder zurück zu deinem Vater, und die alte Tante Ida bleibt 204 allein – mit Fränze und ihren zwei Krücken. . . . Aber Kind, wie siehst du denn aus? . . . Du hast ja ganz verschwollene Augen?« . . .

Ein heißes Schluchzen, das aus tiefster Seele kam, bildete die Antwort.

»Hör' mal, Lenchen,« meinte das alte Fräulein zärtlich, »du hast dich für mich so aufgeopfert, daß ich dir großen, großen Dank schulde. . . . Und den will ich abtragen. . . . Also sag' mir mal etwas, was sich dein kleines Herzchen so recht innig und sehnsüchtig wünscht.« . . .

Sie sah ihr liebevoll in die verweinten Augen.

Die kniete Lenchen vor Tante Ida nieder, beugte sich auf die durchsichtigen abgezehrten Hände der Greisin und flüsterte:

»Sieghard!« . . . .

Fräulein Susemaus aber drückte ihr einen Mutterkuß auf die weiße Stirn, streichelte das blonde Köpfchen und sagte schlicht:

»Was ich für dein Lebensglück zu tun vermag, mein liebes Kind, das soll gescheh'n. . . . Und nun geh' zu deinem Vater.« . . .

Nachdem Lenchen fort war, versuchte Fränze schüchtern, das alte Fräulein darauf aufmerksam zu machen, daß sie schon längst hätte im Bett 205 sein müssen. . . . . Aber Tante Ida schüttelte den Kopf.

»In einer halben Stunde kannst du wiederkommen,« erklärte sie mit einer Bestimmtheit, die keinen Widerspruch zuließ.

Tante Ida drehte die Lampe aus. . . . Sie liebte es, im Dunkeln zu träumen, alten Erinnerungen nachzuhängen. . . . Nur die Straßenlaterne warf einen matten, flackernden Schein ins Zimmer, der gespenstisch und unruhig um die alten Gegenstände huschte. . . .

Tante Ida dachte an ihre eigene Jugendzeit. . . . Sie war auch einmal ein schmuckes, hübsches Ding gewesen – vor einem halben Jahrhundert . . . voll froher Hoffnungen, voller Sehnsucht nach Glück und Liebe. . . .

Sie schüttelte den Kopf. . . .

Seltsam, daß ihr gerade jetzt der Moritz Hirsch einfallen mußte. . . . Wenn ihr damals so einer begegnet wäre wie der . . . genau so wie der . . . sie hätte wohl nicht Nein gesagt . . . Aber kein Moritz Hirsch war gekommen und ein anderer auch nicht. . . .

Eine Träne trat in die guten alten Augen, bahnte sich mühsam einen Weg durch die Runzeln und Falten und sickerte langsam auf die 206 wachsbleiche Hand hernieder . . . Dann aber seufzte sie erleichtert auf . . . Wie ein milder Frühlingshauch huschte ein freundliches, fast schelmisches Lächeln um die welken Lippen . . .

»Warten Sie nur, Herr Hirsch,« sagte das alte Fräulein leise vor sich hin, »Sie sollen mit mir zufrieden sein . . . . und der Emir von Beludschistan auch« . . . 207

 


 


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