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Kapitel XX.
Vom Irrtum.

§ 1. Philal. Nachdem wir genugsam von allen den Mitteln, welche uns die Wahrheit erkennen oder ahnen lassen, gesprochen haben, wollen wir noch etwas von unseren Irrtümern und unrichtigen Urteilen sagen. Die Menschen müssen sich, da es so viele Mißhelligkeiten unter ihnen gibt, wohl oft irren.

Die Ursachen davon können auf folgende vier zurückgeführt werden: 1) den Mangel an Beweisen, 2) die geringe Geschicklichkeit, sich ihrer zu bedienen, 3) den Mangel an gutem Willen, davon Gebrauch zu machen, 4) die falschen Wahrscheinlichkeitsregeln.

§ 2. Wenn ich von dem Mangel an Beweisen spreche, so verstehe ich darunter auch solche, die man finden könnte, wenn einem die Mittel und die Gelegenheit hierfür zur Verfügung ständen, aber gerade hieran fehlt es am häufigsten. Dies gilt vom Zustand der Menschen, deren Leben in der Sorge um ihren Unterhalt hingeht; sie sind von dem, was in der Welt vorgeht, so wenig unterrichtet, wie ein Lasttier, welches immer denselben Weg geht, auf der Landkarte bewandert werden kann. Sie würden der Sprachkenntnis, der Lektüre, der Unterhaltung, der Naturbeobachtung und methodischer Experimente bedürfen.

§ 3. Sollen wir nun aber, da dies alles nicht zu ihren Lebensverhältnissen stimmt, sagen, daß der große Haufe der Menschen zum Glück und zum Unglück nur durch einen blinden Zufall geführt wird? Müssen sie sich den herrschenden Meinungen und den in ihrem Lande anerkannten Führern auch hinsichtlich ihres ewigen Glücks oder Unglücks überlassen? Und wird man ewig unglücklich, weil man, statt in diesem, in einem anderen Lande geboren ist? Man muß indes zugestehen, daß niemand von der Sorge für seinen Unterhalt so sehr in Anspruch genommen ist, daß er keine Zeit übrig behielte, um an seine Seele zu denken und sich in den Fragen der Religion zu unterrichten, wenn er hierauf ebensoviel Mühe, wie auf minder wichtige Dinge verwenden wollte.

Theoph. Auch wenn wir annehmen, daß die Menschen nicht stets imstande sind, sich selbst zu unterrichten, und daß sie, da es unklug wäre, die Sorge für den Unterhalt ihrer Familie aufzugeben, um nach schwierigen Wahrheiten zu suchen, den in ihrer Heimat autorisierten Meinungen folgen müssen: so wird man doch immer urteilen müssen, daß bei denen, die die wahre Religion ohne deren Beweisgründe besitzen, die innere Gnade den Mangel der Motive der Glaubhaftigkeit ersetzt. Die Liebe führt uns ferner zu dem Urteil, daß Gott für die Menschen von gutem Willen, wenn sie auch in der dichten Finsternis der gefährlichsten Irrtümer groß geworden sind, alles tut, was seine Güte und Gerechtigkeit erheischen – obwohl vielleicht auf eine uns unbekannte Weise. Man hat in der römischen Kirche mit Beifall aufgenommene Erzählungen von Leuten, die ausdrücklich auferweckt worden sind, um der Heilsmittel nicht zu entbehren. Aber Gott kann den Seelen durch die innere Wirksamkeit des heiligen Geistes zu Hilfe kommen, ohne ein so großes Wunder zu bedürfen und das Beste und Tröstlichste für das Menschengeschlecht besteht darin, daß man, um sich in den Stand der Gnade Gottes zu setzen, nur des guten Willens bedarf, wenn dieser ernst und aufrichtig ist. Ich erkenne an, daß man selbst diesen guten Willen nicht ohne Gottes Gnade hat, um so mehr, als jedes natürliche wie übernatürliche Gut von ihm kommt: aber es reicht schon hin, daß man nichts als den Willen zu haben braucht, da Gott seinen Beistand unmöglich an eine leichtere und vernünftigere Bedingung knüpfen könnte.

§ 4. Philal. Es gibt Menschen, die gut genug gestellt sind, um zur Aufklärung ihrer Zweifel alle Bequemlichkeiten zur Hand zu haben, die aber hiervon durch allerlei künstliche Hindernisse abwendig gemacht werden, welche leicht genug zu bemerken sind, ohne daß es notwendig wäre, sich an dieser Stelle über sie zu verbreiten. Ich will lieber von denen reden, denen es an Geschicklichkeit fehlt, um die Beweise, welche sie sozusagen an der Hand haben, geltend zu machen, und die weder eine lange Reihe von Folgerungen behalten, noch alle Umstände abwägen können. Es gibt Leute eines einzigen Syllogismus und Leute von nur zwei Syllogismen. Es ist hier nicht der Ort, festzustellen, ob diese Unvollkommenheit von einer natürlichen Verschiedenheit der Seelen selbst oder der Organe herrührt, oder ob sie vom Mangel an Übung stammt, welche die natürlichen Fähigkeiten schärft. Es genügt uns hier, daß sie offenkundig ist, und daß man nur vom Palast oder von der Börse in die Hospitäler oder Irrenhäuser zu gehen braucht, um sie gewahr zu werden.

Theoph. Dieser Notstand trifft nicht allein die Armen, ja er trifft manche Reiche mehr als sie, weil diese zuviel verlangen und sich damit freiwillig in eine Art von Dürftigkeit versetzen, die ihnen die Muße für wichtige Betrachtungen entzieht. Das Beispiel tut dabei viel. Man bemüht sich, dem Beispiel von seinesgleichen zu folgen, wozu man verpflichtet scheint, wenn man sich nicht als Querkopf zeigen will; und dies bewirkt leicht, daß man ihnen ähnlich wird. Es ist gar schwer, zugleich der Vernunft und der Sitte zu genügen. Was diejenigen betrifft, denen es an Fassungskraft fehlt, so gibt es deren vielleicht weniger, als man denkt; und ich glaube, daß der gesunde Menschenverstand, im Verein mit Fleiß, für alles ausreichen kann, was nicht besondere Schnelligkeit des Denkens erfordert. Ich setze den gesunden Menschenverstand voraus, weil ich nicht glaube, daß Sie von den Bewohnern der Irrenhäuser die Untersuchung der Wahrheit verlangen wollen. Allerdings gibt es selbst unter ihnen nicht viele, die nicht wieder zu sich kommen könnten, wenn wir die Mittel dazu kennten; und welcher ursprüngliche Unterschied zwischen unseren Seelen auch stattfinden mag (wie ich in der Tat an einen solchen glaube), so könnte doch sicherlich die eine so weit kommen, wie die andere (wenn auch vielleicht nicht so schnell), wenn sie nur richtig geleitet würde.

§ 6. Philal. Es gibt eine andere Art von Menschen, denen es nur am guten Willen fehlt. Eine heftige Sucht zum Vergnügen, eine beständige Beschäftigung mit dem, was ihr Vermögen betrifft, eine allgemeine Trägheit oder Nachlässigkeit, eine besondere Abneigung gegen Studium und Nachdenken verhindern sie, ernstlich an die Wahrheit zu denken. Es gibt sogar solche, welche fürchten, daß eine von jeder Parteilichkeit freie Untersuchung den Meinungen, welche sich am besten mit ihren Vorurteilen und ihren Plänen vertragen, nicht günstig sein werde. Man kennt Personen, welche einen Brief, von dem sie vermuten, daß er schlechte Neuigkeiten bringe, nicht lesen wollen, und viele Leute vermeiden, ihre Rechnungsbilanz aufzustellen oder sich von dem Zustande ihres Vermögens zu unterrichten, aus Furcht, etwas zu erfahren, worüber sie lieber für immer in Unkenntnis bleiben möchten. Es gibt Leute, welche große Einkünfte haben und sie nur dazu verwenden, für ihren Körper zu sorgen, ohne an die Mittel zu denken, den Verstand zu vervollkommnen. Sie geben sich große Mühe, immer in einem schönen und glänzenden Aufzug zu erscheinen und dulden es unbekümmert, daß ihre Seele mit schlechten Lumpen des Vorurteils und des Irrtums bedeckt ist und daß ihre Blöße, d. h. die Unwissenheit, durchscheine. Ganz abgesehen von dem Interesse, das sie am zukünftigen Leben nehmen sollten, vernachlässigen sie auch diejenigen Kenntnisse, die für das Leben, das sie hier in dieser Welt zu führen haben, von Bedeutung sind. Und seltsamerweise leisten oft gerade diejenigen, welche die Macht und das Ansehen als ein Vorrecht betrachten, das ihrer Geburt oder ihrem Vermögen zukommt, hierauf unbekümmert Verzicht zugunsten von Leuten, die einem niedrigeren Stande als sie angehören, die sie aber an Wissen überragen; denn die Blinden müssen freilich durch die Sehenden geführt werden, sonst fallen sie in den Graben, und es gibt keine schlimmere Knechtschaft, als die des Verstandes.

Theoph. Es gibt keinen deutlicheren Beweis von der Nachlässigkeit der Menschen hinsichtlich ihrer wahren Interessen, als ihre geringe Sorge um die Erkenntnis und Ausübung dessen, was der Gesundheit, einem unserer größten Güter, zuträglich ist. Und obwohl die Großen die schlimmen Wirkungen dieser Versäumnis ebenso und noch mehr als die übrigen empfinden, so kommen sie doch nicht davon zurück. Was den Glauben betrifft, so betrachten manche das Denken, was sie zur Untersuchung hinführen könnte, wie eine Versuchung des Teufels, welche sie nicht besser überwinden zu können glauben, als indem sie ihren Geist auf irgend etwas anderes richten. Menschen, welche nur die Vergnügungen lieben oder sich an irgendeine Beschäftigung hängen, pflegen die übrigen Dinge zu vernachlässigen. Ein Spieler, ein Jäger, ein Trinker, ein Lüstling, ja selbst ein Liebhaber von Kleinigkeiten wird sein Vermögen und sein Gut einbüßen, weil er sich nicht die Mühe gibt, einen Prozeß anzustrengen oder mit sachverständigen Leuten Rücksprache zu nehmen. Es gibt Leute, wie den Kaiser Honorius, der, als man ihm die Nachricht brachte, daß Rom verloren sei, glaubte, es handle sich um eines seiner Hühner, das diesen Namen trug, was ihn mehr schmerzte, als die Wahrheit Diese Geschichte wird Leibniz aus Jo. Bapt. Egnatii »Romani Principes« (im zweiten Buche von Sylburgs Script. hist. Augustae, Heidelberg 1588) kennen, der sie am Schlusse des ersten Buches erzählt. (Sch.).. Es wäre zu wünschen, daß diejenigen, welche die Macht haben, in gleichem Verhältnisse auch Erkenntnis hätten, aber auch wenn sie die Einzelheiten in den Wissenschaften, den Künsten, der Geschichte und den Sprachen nicht beherrschten, würde doch ein solides und geübtes Urteil und eine Kenntnis der großen und allgemeinen Züge, mit einem Wort eine summa rerum genügen können. Und wie der Kaiser Augustus einen kurzen Abriß der Hilfsmittel und Bedürfnisse des Staates hatte, den er breviarium imperii nannte, so könnte man einen Abriß der Interessen des Menschen haben, der er verdiente, Enchiridion sapientiae genannt zu werden, wenn die Menschen für das, was für sie am wichtigsten ist, Sorge tragen wollten.

§ 7. Philal. Endlich kommen unsere meisten Irrtümer von dem falschen Maß der Wahrscheinlichkeit her, das man dadurch erhält, daß man entweder sein Urteil trotz offenbarer Bestimmungsgründe zurückhält oder es trotz entgegengesetzter Wahrscheinlichkeiten fällt. Dieses falsche Maß kann 1) in zweifelhaften, als Prinzipien angenommenen Sätzen, 2) in Hypothesen, die man annimmt, 3) in herrschenden Leidenschaften oder Neigungen, 4) in der Autorität bestehen. § 8. Wir beurteilen die Wahrheit eines Satzes gewöhnlich nach seiner Übereinstimmung mit dem, was wir als unzweifelhafte Prinzipien ansehen, und dies veranlaßt uns, das Zeugnis anderer, ja selbst das unserer Sinne zu verachten, wenn sie diesen Prinzipien entgegengesetzt sind oder scheinen; aber ehe man sich mit so viel Sicherheit darauf verläßt, sollte man diese Prinzipien mit der äußersten Strenge prüfen. § 9. Die Kinder nehmen Sätze in sich auf, die ihnen von Vater und Mutter, Wärterinnen, Lehrern und anderen Personen ihrer Umgebung eingeflößt werden, und wenn diese Sätze einmal Wurzel gefaßt haben, so gelten sie für heilig wie ein Urim und Thummim, das Gott selbst ihnen in die Seele gelegt hätte. § 10. Man kann das, was gegen diese inneren Orakelsprüche verstößt, kaum ertragen, während man die größten Abgeschmacktheiten, wenn sie mit ihnen übereinstimmen, verdaut. Dies zeigt sich an der außerordentlichen Hartnäckigkeit, mit der, wie man sieht, verschiedene Menschen schnurstracks entgegengesetzte Meinungen als Glaubensartikel eifrig festhalten, wenngleich beide sehr oft gleich widersinnig sind. Nehmen Sie einen Menschen von gesundem Verstande, der aber von dem Grundsatz durchdrungen ist, daß man glauben muß, was in seiner Kirchengemeinschaft, so wie man sie in Wittenberg oder in Schweden lehrt, geglaubt wird: wie geneigt wird er nicht sein, die Lehre von der Konsubstantialität ohne Mühe anzunehmen und zu glauben, daß ein und dasselbe Ding zugleich Fleisch und Brot ist?

Theoph. Sie scheinen von den Lehren der Evangelischen, welche die reale Gegenwart des Leibes unseres Herrn im Abendmahl annehmen, nicht gehörig unterrichtet zu sein. Tausendmal haben sie sich darüber erklärt, daß sie keine Konsubstantialität des Brotes und des Weines mit dem Fleisch und Blut Jesu Christi wollen, und noch weniger, daß eine und dieselbe Sache zugleich Fleisch und Brot sei. Sie lehren nur, daß man, indem man die sinnlichen Symbole empfängt, dadurch auf eine unsichtbare und übernatürliche Weise den Leib des Heilands empfange, ohne daß er in dem Brote eingeschlossen wäre. Sie verstehen also die Gegenwart Christi nicht im örtlichen oder sozusagen räumlichen Sinne, d. h. nicht als durch die Abmessungen des gegenwärtigen Körpers bestimmt, so daß alles, was die Sinne hiergegen einzuwenden haben können, sie nichts angeht. Und um zu zeigen, daß die Schwierigkeiten, die man aus der Vernunft ziehen könnte, sie ebenfalls nicht berühren, erklären sie, daß das, was sie unter der Substanz des Körpers verstehen, nicht in seiner Ausdehnung oder Abmessung besteht. So gestehen sie zwar ohne Bedenken zu, daß der verklärte Leib Christi eine gewisse örtliche Gegenwart im gewöhnlichen Sinne des Wertes besitze, die jedoch dem erhabenen Ort, an dem er sich befindet, angemessen ist, sehen aber diese als ganz verschieden von jener sakramentalen Gegenwart an, um die es sich hier handelt, oder auch als verschieden von jener wunderbaren Gegenwart, mit welcher er die Kirche regiert, und vermöge deren er nicht wie Gott überall, wohl aber dort, wo er sein will, ist. Dies ist die Ansicht der Gemäßigtsten, so daß man, um den Widersinn ihrer Lehre zu zeigen, erst zeigen müßte, daß die gesamte Wesenheit des Körpers einzig und allein in der Ausdehnung und in dem, was durch sie gemessen wird, bestehe, was meines Wissens noch niemand getan hat. Auch trifft diese ganze Schwierigkeit nicht weniger die Reformierten, die der gallikanischen und niederländischen Konfession folgen, als die Anhänger der Glaubenserklärung von Sendomir – die von Männern beider Konfessionen, der Helvetischen sowohl als der Augustanischen, gemäß dem sächsischen Bekenntnis verfaßt und für das Tridentiner Konzil bestimmt war –; ebensosehr das Glaubensbekenntnis der Reformierten, die sich in dem Kolloqium zu Thorn unter der Autorität des Königs Wladislas von Polen zusammenfanden, als die stehende Lehre des Calvin und Beda, welche auf das Bestimmteste und Stärkste erklärt haben, daß die Symbole das, was sie darstellen, tatsächlich gewähren, und daß wir der eigenen Substanz des Leibes und Blutes Jesu Christi teilhaftig werden. Calvin fügt, nachdem er diejenigen widerlegt hat, welche sich mit einer metaphorischen Teilnahme in Gedanken oder kraft der Glaubensvereinigung begnügen, noch hinzu, es gäbe keinen noch so starken Ausdruck für die Realität dieser Vereinigung, den er nicht zu unterschreiben bereit sei; wenn man nur alles vermeide, was auf die Gegenwart in einem bestimmt umgrenzten Orte oder auf die Verschmelzung der räumlichen Abmessungen abziele; woraus hervorgeht, daß seine Lehre im Grunde die Melanchthons, ja sogar die Luthers gewesen ist (wie Calvin es selbst in einem seiner Briefe behauptet); mit dem Unterschied, daß er außer der Wahrnehmung des Symbols, mit welcher Luther sich begnügt, noch den Glauben zur Bedingung macht, um die Teilnahme der Unwürdigen auszuschließen. Ich habe Calvin an hundert Stellen seiner Werke und selbst in seinen vertrauten Briefen, in denen er es nicht nötig hatte, über diese reale Gemeinschaft so bestimmt gefunden, daß ich keine Veranlassung sehe, ihn hier eines bloßen Kunstgriffs zu verdächtigen.

§ 11. Philal. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich von diesen Herren der gewöhnlichen Ansicht gemäß geredet habe. Auch erinnere ich mich jetzt, bemerkt zu haben, daß hervorragende Theologen der anglikanischen Kirche für diese reale Teilnahme gewesen sind.

Gehen wir nun aber von den feststehenden Prinzipien zu den Hypothesen über, die man annimmt. Selbst die, welche anerkennen, daß es nur Hypothesen sind, halten sie dennoch oft hitzig aufrecht, fast als ob es gesicherte Grundsätze wären, und schätzen die entgegengesetzten Wahrscheinlichkeiten gering. Für einen gelehrten Professor wäre es unerträglich, seine Autorität durch den ersten besten, der seine Hypothesen verwirft, im Augenblick umgestürzt zu sehen: eine Autorität, die seit 30 oder 40 Jahren geschätzt, durch viele Nachtwachen erworben, mit so viel Griechisch und Latein aufrechterhalten und durch die allgemeine Tradition und einen ehrwürdigen Bart bekräftigt ist. Alle Gründe, die man anwenden könnte, um ihn von der Falschheit seiner Hypothese zu überzeugen, werden auf seinen Geist ebensowenig wirken können, als die Anstrengungen des Boreas den Reisenden zwingen konnten, seinen Mantel fahren zu lassen, den er nur um so fester hielt, mit je mehr Heftigkeit der Wind blies.

Theoph. In der Tat haben die Kopernikaner an ihren Gegnern erfahren, daß auch Hypothesen, die als solche anerkannt werden, doch nichtsdestoweniger mit brennendem Eifer aufrechterhalten werden. Und die Kartesianer sind in ihren Behauptungen über die kanelierten Stoffteilchen und die kleinen Kugeln des zweiten Elementes nicht weniger entschieden, als wenn es Lehrsätze des Euklid wären. Dieser Eifer für unsere Hypothesen stammt, wie es scheint, nur aus der Leidenschaft, uns in Respekt zu setzen. Allerdings haben diejenigen, welche Galilei verurteilten, den Stillstand der Erde für mehr als eine Hypothese gehalten, denn sie hielten ihn für schrift- und vernunftgemäß. Später aber bemerkte man, daß diese Lehre zum mindesten in der Vernunft keine Stütze finde, und was die h. Schrift anbetrifft, so hat der P. Fabry, Pönitentiar von St. Peter, ein ausgezeichneter Theolog und Philosoph, sich nicht gescheut, in einer zu Rom selbst veröffentlichten Apologie der Beobachtungen des Eustachio Divini, eines berühmten Optikers, zu erklären, daß die wirkliche Bewegung der Sonne in dem heiligen Texte nur vorläufig zu verstehen sei, und daß, wenn die Ansicht des Kopernikus sich bewahrheiten sollte, man keine Schwierigkeit finden würde, diese Stelle so zu erklären wie jene Verse des Virgil:

terraeque urbesque recedunt, Vergil, Aeneis L. III., S. 72.

Indessen fährt man in Italien und Spanien und selbst in den kaiserlichen Erblanden unaufhörlich fort, die Lehre des Kopernikus zum großen Schaden jener Völker zu unterdrücken, deren Geist sich zu weit schöneren Entdeckungen erheben könnte, wenn sie eine vernünftige und philosophische Freiheit genössen.

§12. Philal. Die herrschenden Leidenschaften scheinen in der Tat, wie Sie sagen, die Quelle der Liebe zu den Hypothesen zu sein, aber sie erstrecken sich noch viel weiter. Die größtmögliche Wahrscheinlichkeit wird nicht imstande sein, einem Geizigen oder Ehrsüchtigen sein Unrecht begreiflich zu machen, und ein Liebender wird sich mit der größten Leichtigkeit von der Welt von seiner Geliebten anführen lassen: so wahr ist der Satz, daß wir leicht glauben, was wir wünschen, und nach der Bemerkung des Vergil:

qui amant, sibi somnia fingunt Vergil, Bucolica, Ekl. VIII, p. 108 (Sch.)..

Man bedient sich aus diesem Grunde zweier Mittel, um den augenscheinlichsten Wahrscheinlichkeiten, wenn sie unsere Leidenschaften und Vorurteile bekämpfen, auszuweichen. § 13. Das erste ist der Gedanke, daß in dem uns entgegengehaltenen Beweisgrunde irgendein Trugschluß verborgen sein könne. § 14. Das zweite besteht in der Voraussetzung, daß wir ebenso gute, ja sogar bessere Gründe auf die Bahn bringen könnten, um den Gegner zu schlagen, wenn wir nur genügend Gelegenheit oder Geschicklichkeit oder genug Beistand besäßen, um sie aufzufinden. § 15. Diese Mittel, sich gegen eine Überzeugung zu sträuben, sind mitunter gut, aber es können auch bloße Sophismen sein, wenn der Gegenstand zur Genüge geklärt ist und man alles in Rechnung gezogen hat; denn hiernach läßt sich im Ganzen erkennen, auf welcher Seite sich die Wahrscheinlichkeit findet. So leidet es z. B. keinen Zweifel, daß die organischen Wesen eher durch Bewegungen, die unter der Herrschaft einer vernünftigen tätigen Ursache stehen, als durch ein zufälliges Zusammentreffen von Atomen entstanden sind; so wie es niemand gibt, welcher im allergeringsten darüber ungewiß ist, ob die Druckbuchstaben, die eine verständige Rede bilden, durch einen aufmerksamen Menschen zusammengefügt oder durch eine verworrene Mischung entstanden sind. Ich möchte also glauben, daß es in einem solchen Falle nicht von uns abhängt, unsere Zustimmung zurückzuhalten; ist aber die Wahrscheinlichkeit weniger ersichtlich, so können wir dies tun, während wir uns andererseits mit den schwächsten Beweisen begnügen können, sofern sie sich mit unserer Neigung aufs beste vertragen.

§ 16. Es scheint mir nicht ausführbar, daß ein Mensch sich auf die Seite neigt, wo er die geringste Wahrscheinlichkeit erblickt; denn das Gewahrwerden, die Erkenntnis und die Zustimmung sind nicht willkürlich, da es nicht von mir abhängt, die Übereinstimmung zweier Ideen zu sehen oder nicht zu sehen, wenn mein Geist auf sie gerichtet ist. Gleichwohl können wir den Fortschritt unserer Untersuchungen freiwillig zum Stillstand bringen, sonst könnten Unwissenheit und Irrtum in keinem Fall eine Sünde sein. In dieser Hinsicht üben wir also unsere Freiheit aus. In den Fällen freilich, bei denen kein Interesse obwaltet, nehmen wir die allgemeine Meinung oder die Ansicht des ersten besten an; in den Punkten aber, wo unser Glück oder Unglück im Spiel ist, ist unser Geist ernstlicher bestrebt, die Wahrscheinlichkeiten zu wägen. Ich glaube, daß es in einem solchen Falle, d. h. wenn unsere Aufmerksamkeit geschärft ist, nicht in unserer Wahl steht, für welche Seite wir uns entscheiden wollen, wenn zwischen beiden Seiten offensichtliche Unterschiede vorhanden sind, und daß es alsdann vielmehr die größte Wahrscheinlichkeit sein wird, die unsere Zustimmung bestimmen wird.

Theoph. Ich bin im Grunde Ihrer Ansicht; auch haben wir uns in unseren früheren Unterredungen, als wir von der Freiheit sprachen, hinlänglich darüber erklärt. Damals habe ich gezeigt, daß wir niemals das glauben, was wir wollen, sondern vielmehr das, was wir als das Wahrscheinlichste erkennen; daß wir uns aber nichtsdestoweniger mittelbar dazu bringen können, etwas zu glauben, was wir glauben wollen, indem wir die Aufmerksamkeit von einem mißliebigen Gegenstande abwenden, um sie auf einen anderen zu richten, der uns gefällt. Auf diese Weise gelangen wir schließlich dazu, eine Lieblingsmeinung, indem wir die Gründe, die für sie sprechen, vorzugsweise betrachten, für die wahrscheinlichste zu halten. Was die Meinungen betrifft, an denen wir kein besonderes Interesse haben und die wir auf oberflächliche Gründe hin annehmen, so geschieht dies, weil wir fast nichts bemerken, was gegen sie spräche und infolgedessen finden, daß die Ansicht, die man uns im günstigen Licht darstellt, die entgegengesetzte Ansicht, welche in unserer Auffassung nichts für sich hat, ebensoviel und mehr übertrifft, als wenn für die eine und andere Seite viele Gründe vorhanden gewesen wären. Denn der Unterschied zwischen 0 und 1 oder zwischen 2 und 3 ist ebenso groß, wie der zwischen 9 und 10, und wir werden dieses Übergewicht gewahr, ohne an eine genauere Prüfung zu denken, die für das Urteil noch erforderlich wäre, zu der uns aber hier nichts einladet.

§ 17. Philal. Das letzte falsche Maß der Wahrscheinlichkeit, auf das ich noch hinweisen möchte, ist die falsch verstandene Autorität, die mehr Menschen in der Unwissenheit und im Irrtum erhält, als all die anderen in ihrer Gesamtheit es tun. Wieviel Leute sieht man, die für ihre Ansicht keinen anderen Grund haben, als die Meinungen, die unter ihren Freunden und unter ihren Standes- oder Parteigenossen angenommen sind oder die in ihrem Lande gelten. Diese oder jene Lehre ist durch die ehrwürdige Vorzeit gebilligt worden, sie kommt mir unter dem Freibrief der früheren Jahrhunderte zu; andere geben sich ihr hin, darum bin ich vor Irrtum geschützt, wenn ich sie annehme. Es wäre ebenso begründet, das Los zu werfen, für welche Meinung man sich entscheiden soll, als sie auf solche Regeln hin zu wählen. Denn abgesehen davon, daß alle Menschen dem Irrtum unterworfen sind, würden wir, glaube ich, wenn wir die geheimen Triebfedern sehen könnten, nach welchen die Gelehrten und Parteihäupter handeln, oft etwas ganz anderes als die reine Liebe zur Wahrheit finden. Zum mindesten gibt es sicherlich keine noch so abgeschmackte Meinung, die nicht auf diesen Grund hin angenommen werden könnte, da es kaum irgendeinen Irrtum gibt, der nicht seine Parteigänger hätte.

Theoph. Man muß indessen zugeben, daß man in vielen Fällen nicht umhin kann, sich der Autorität zu ergeben. St. Augustinus hat ein recht hübsches Buch de utilitate credendi geschrieben, das hierüber nachgelesen zu werden verdient Augustinus, De utilitate credendi ad Honoratum, vgl. Band I, S. 47.: und was die angenommenen Meinungen angeht, so haben sie etwas Ähnliches für sich, als das, was die Juristen Präsumption nennen. Denn wenngleich man nicht verpflichtet ist, ihnen stets ohne Beweis zu folgen, so ist man doch ebensowenig berechtigt, sie im Geiste eines anderen zu zerstören, ohne Beweise für ihr Gegenteil zu haben; denn es ist nicht erlaubt, etwas ohne Grund zu verändern. Man hat viel über das Argument gestritten, das von der großen Zahl der Bekenner einer Ansicht hergenommen ist, seitdem der verstorbene Nicole sein Buch über die Kirche veröffentlicht hat S. oben Anm. 86 (Buch IV)., aber alles, was man aus diesem Argument entnehmen kann, wenn es sich um die Bestätigung eines Beweisgrundes, nicht um die Beglaubigung einer Tatsache handelt, kommt nur auf das, was ich eben bemerkt habe, zurück. Und wie hundert Pferde nicht schneller laufen als ein Pferd, obwohl sie mehr ziehen können, so gilt dasselbe für hundert Menschen, verglichen mit einem; ihr Gang wird nicht richtiger, aber ihre Arbeit wirksamer sein, ihr Urteil wird nicht besser sein, aber sie werden imstande sein, mehr Stoff zu liefern, an dem das Urteil ausgeübt werden kann. Das ist der Sinn des Sprichworts: plus vident oculi quam oculus (vier Augen sehen mehr als zwei). Man bemerkt das in den Versammlungen, wo in Wahrheit viele Betrachtungen auf die Bahn gebracht werden, die einem oder zweien vielleicht entgangen wären; man läuft aber Gefahr, indem man auf alle diese Erwägungen hin seine Entscheidung fällt, oft nicht das beste Teil zu ergreifen, wenn nicht gescheite Leute dabei sind, die mit der Durcharbeitung und Abwägung der einzelnen Gründe betraut werden. Darum haben manche urteilsfähige Theologen des römischen Glaubens die Autorität der Kirche, d. h. die Autorität derer, die in ihr an Würde am höchsten stehen und die das größte Ansehen bei der Menge genießen, in der Einsicht, daß sie in Sachen der Vernunft ungewiß sein könne, auf die bloße Bezeugung von Tatsachen, unter dem Namen der Tradition eingeschränkt. Dies war die Meinung Heinrich Holdens, eines Engländers und Lehrers an der Sorbonne, des Verfassers einer » Analyse des Glaubens«, worin er gemäß den Prinzipien des Kommonitoriums von Vincent von Lerina, den Satz aufstellt, daß man in der Kirche keine neuen Entscheidungen geben dürfe, und daß alles, was die im Konzil versammelten Bischöfe tun können, darin bestehe, die Tatsache der in ihren Diözesen allgemein angenommenen Lehre zu bezeugen Auf Holdens »Divinae fidei Analysis« (Paris 1652) hat sich Leibniz wiederholt in seinen Reunionsverhandlungen mit Bossuet bezogen: s. Dutens I, 564, 595; über Vincent de Lerins s. ebendas. p. 564 und 582.. Das Prinzip ist ansprechend, solange man bei Allgemeinheiten stehen bleibt, aber wenn man zur Sache kommt, so findet sich, daß verschiedene Länder seit langer Zeit verschiedene Meinungen angenommen haben, ja daß man auch in ein und demselben Lande von Schwarz zu Weiß übergegangen ist – trotz der Arnauldschen Argumente gegen die unmerklichen Veränderungen –; abgesehen davon, daß man sich oft nicht darauf beschränkt hat, eine Meinung zu bezeugen, sondern sein eigenes Urteil eingemischt hat. Auch die Meinung des gelehrten bayerischen Jesuiten Gretser, des Verfassers einer anderen Glaubensanalyse, die von den Theologen seines Ordens approbiert worden ist, geht im Grunde dahin, daß die Kirche über Streitpunkte richten kann, indem sie neue Glaubenssätze schafft, da ihr der Beistand des heiligen Geistes verheißen ist, obwohl man diese Ansicht meistens zu verhüllen trachte und es, namentlich in Frankreich, so hinzustellen suche, als ob die Kirche nur schon aufgestellte Lehren zu erläutern hätte Über Gretser s. Dutens I, 564.. Aber die Erläuterung selbst muß alsdann in einem schon anerkannten Satz bestehen oder in einem neuen, den man aus der angenommenen Lehre ableiten zu können glaubt. Nimmt man es im ersten Sinne, so widerstreitet dem die Praxis zumeist; nimmt man es im zweiten: was kann der aufgestellte neue Satz anders als ein neuer Glaubensartikel sein? Ich bin indessen nicht der Ansicht, daß man in Religionssachen das Altertum gering schätzen dürfe, und glaube sogar, daß man sagen darf, daß Gott die wirklich ökumenischen Konzilien bisher vor jedem Irrtum, welcher der Heilslehre zuwiderläuft, bewahrt hat. Übrigens ist Parteivorurteil ein wunderliches Ding. Ich habe Leute mit Eifer eine Meinung annehmen sehen, einzig aus dem Grunde, daß sie in ihrem Orden angenommen war, oder auch nur deshalb, weil sie der Meinung eines anderen zuwider war, der einer Religion oder einem Volke, das sie nicht liebten, angehörte, wenngleich die Frage mit der Religion und den nationalen Interessen fast nichts zu tun hatte. Sie wußten vielleicht nicht einmal, daß dies die wahre Quelle ihres Eifers war, aber ich merkte, daß sie auf die erste Nachricht, daß der oder jener dies oder jenes geschrieben habe, in den Bibliotheken herumwühlten und ihren Geist zermarterten, um etwas zur Widerlegung zu finden. So halten es oft auch die, die auf den Universitäten Thesen verteidigen und sich gegen ihre Gegner auszuzeichnen suchen. Was sollen wir aber von den Lehren sagen, die in den symbolischen Büchern einer Partei, selbst unter den Protestanten, vorgeschrieben sind und zu denen man sich oft eidlich verpflichten muß?, ein Eid, von dem manche glauben, daß er bei uns nur die Verpflichtung bedeute, das zu bekennen, was jene Bücher oder Formulare von der heiligen Schrift enthalten, worin wieder andere ihnen widersprechen. In den religiösen Orden der römischen Kirche schreibt man, ohne sich mit den in der Kirche geltenden Lehren zu begnügen, den Lehrern noch engere Schranken vor, wie dies die Sätze bezeugen, die, wenn ich nicht irre, der General der Jesuiten, Claudius Aquaviva, in ihren Schulen zu lehren verbot. Gut wäre es – (um dies im Vorübergehen zu bemerken) –, wenn man eine systematische Sammlung der durch Konzilien, Päpste, Bischöfe, Oberen, Fakultäten entschiedenen und verworfenen Sätze machte, was für die Kirchengeschichte von Nutzen wäre. Man kann zwischen Lehren und Annehmen einer Ansicht unterscheiden. Es gibt auf der ganzen Welt keinen Eid und kein Verbot, das einen Menschen zwingen könnte, bei derselben Ansicht zu bleiben, denn die Überzeugungen sind an sich unwillkürlich; aber er kann und soll sich enthalten, eine Lehre zu lehren, die für gefährlich gilt, wenn er sich nicht in seinem Gewissen hierzu für verbunden hält. In diesem Falle muß er sich aufrichtig erklären und, falls er als Lehrer berufen worden ist, sein Amt niederlegen, immer vorausgesetzt, daß er es tun kann, ohne sich der äußersten Gefahr auszusetzen, in welchem Falle er gezwungen sein könnte, seine Stelle ohne Aufsehen aufzugeben. Man sieht kaum ein anderes Mittel, die Rechte der Allgemeinheit und des Einzelnen zu vereinen, da die erstere verhindern muß, was sie für schlecht erachtet, und der letztere der von seinem Gewissen geforderten Pflichten sich nicht entschlagen kann.

§ 18. Philal. Dieser Gegensatz zwischen der Allgemeinheit und dem Einzelnen, ja auch zwischen den Meinungen, die die verschiedenen Parteien öffentlich lehren, ist ein unvermeidliches Übel. Aber oft sind auch diese Gegensätze nur scheinbar und bestehen nur in den Formeln. Auch muß ich, um dem menschlichen Geschlechte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, erklären, daß es nicht so viele im Irrtum verstrickte Leute gibt, als man gewöhnlich annimmt: nicht daß ich glaubte, daß sie die Wahrheit besitzen, sondern weil sie in der Tat über die Lehren, von denen man so viel Aufhebens macht, absolut keine feste Meinung haben und, ohne etwas zu prüfen, ja ohne in ihrem Geiste auch nur die oberflächlichsten Vorstellungen über die betreffende Angelegenheit zu besitzen, entschlossen sind, sich fest zu ihrer Partei zu halten, wie Soldaten, die die von ihnen verteidigte Sache nicht prüfen. Und wenn das Leben eines Menschen zeigt, daß er der Religion nicht aufrichtig ergeben ist, so genügt es ihm, Hand und Zunge zur Behauptung der gemeinsamen Meinung bereit zu halten, um sich denen, welche ihm Unterstützung gewähren können, zu empfehlen.

Theoph. Die Gerechtigkeit, die Sie hier dem menschlichen Geschlechte zuteil werden lassen wollen, fällt nicht zu seinem Lobe aus; denn die Menschen wären eher zu entschuldigen, wenn sie aufrichtig ihren Meinungen folgten, als wenn sie sie aus Interesse erheucheln. Indessen ist in ihrem Tun vielleicht doch mehr Aufrichtigkeit, als Sie anzudeuten scheinen. Denn sie können ohne irgendwelche Erkenntnis des Grundes zu einem impliziten Glauben gekommen sein, indem sie sich ein für allemal und bisweilen blindlings, aber doch häufig ohne Arg dem Urteile anderer unterwarfen, deren Autorität sie einmal anerkannt haben. Allerdings trägt das Interesse, das sie darin finden, zu dieser Unterwerfung bei, aber das hindert nicht, daß sie sich endlich eine Meinung bilden. In der römischen Kirche begnügt man sich fast mit diesem impliziten Glauben, denn es gibt in ihr vielleicht keinen einzigen offenbarten Glaubenssatz, der als absolut grundlegend angesehen würde und der » necessitate medii« für notwendig gälte, d. h. an den zu glauben eine zur Seligkeit absolut notwendige Bedingung wäre. Sie sind aber alle » necessitate praecepti« notwendig, d. h. vermöge der hier gelehrten Notwendigkeit, der Kirche zu gehorchen, wie man es nennt, und den Sätzen, die sie aufstellt, alle gebührende Aufmerksamkeit zu widmen; alles unter der Strafe der Todsünde. Aber diese Notwendigkeit erheischt nur eine vernünftige Neigung, sich belehren zu lassen und verpflichtet nach den gelehrtesten Kirchenlehrern nicht unbedingt zur Zustimmung. Indessen glaubte selbst der Kardinal Bellarmin Der Kardinal Bellarmin (1542-1621); unter anderm durch seine Beziehungen zu Galilei und durch die Rolle, die er im Prozeß Galileis gespielt hat, bekannt., daß nichts besser sei als dieser Kinderglaube, der sich einer geltenden Autorität unterwirft; und er berichtet mit Billigung von der List eines Sterbenden, der den Teufel durch folgenden Zirkelspruch, den man ihn oft wiederholen hörte, verscheuchte:

Ich glaube, was die Kirche glaubt; die Kirche glaubt, was ich glaube.


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