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Kapitel XV.
Von der Wahrscheinlichkeit.

§ 1. Philal. Wenn der Beweis die Verknüpfung der Ideen ersichtlich macht, so ist die Wahrscheinlichkeit nichts anderes, als der Anschein einer solchen Verknüpfung, der sich auf Gründe stützt, bei denen kein unveränderlicher Zusammenhang ersichtlich ist. Es gibt verschiedene Grade der Zustimmung von der Sicherheit bis zur Vermutung, zum Zweifel, zum Mißtrauen. § 3. Wenn man Gewißheit hat, so besitzt man in allen Teilen des Schlußverfahrens, die seinen Zusammenhang bezeichnen, intuitive Erkenntnis; was uns aber zum Glauben veranlaßt, ist etwas Fremdes. § 4. Die Wahrscheinlichkeit nun gründet sich auf Gleichförmigkeiten mit dem, was wir wissen, oder auf das Zeugnis derer, welche es wissen.

Theoph. Eher würde ich behaupten, daß sich die Wahrscheinlichkeit stets auf eine Ähnlichkeit oder Übereinstimmung mit der Wahrheit selbst gründet: denn auch das Zeugnis eines anderen ist etwas, was die Wahrheit, soweit es sich um nicht zu fernliegende Tatsachen handelt, für sich zu haben pflegt. Man kann also sagen, daß die Ähnlichkeit des Wahrscheinlichen mit dem Wahren entweder von der Sache selbst oder von etwas Fremdem hergenommen wird. Die Rhetoriker nehmen zwei Arten von Beweismitteln (Argumenten) an: die künstlichen, welche vermöge des Räsonnements aus den Dingen hergeleitet werden, und die nicht künstlichen, welche sich lediglich auf das ausdrückliche Zeugnis, sei es des Menschen, sei es vielleicht auch der Sache selbst stützen. Aber es gibt auch gemischte Argumente, denn das Zeugnis selbst kann eine Tatsache liefern, welche zur Bildung eines künstlichen Beweises dient.

§ 5. Philal. Weil die Ähnlichkeit mit dem Wahren ihm fehlt, so glauben wir nicht leicht etwas, was sich in keiner Weise dem, was wir kennen, annähert. So antwortete der König von Siam einem Gesandten, als dieser ihm sagte, daß das Wasser bei uns im Winter so hart werde, daß ein Elefant darüber hinschreiten könne, ohne einzusinken: Bisher habe ich Euch für einen ehrlichen Mann gehalten, aber jetzt sehe ich, daß Ihr lügt. § 6. Wenn indes auch das Zeugnis anderer eine Tatsache wahrscheinlich machen kann, so darf die Meinung anderer nicht an und für sich als eine richtige Begründung der Wahrscheinlichkeit gelten. Denn unter den Menschen gibt es mehr Irrtum als Erkenntnis, und wenn das Vertrauen zu denen, die wir kennen und achten, ein rechtmäßiger Grund für die Zustimmung wäre, so hatten die Menschen recht, in Japan Heiden, in der Türkei Mohammedaner, Papisten in Spanien, Calvinisten in Holland und Lutheraner in Schweden zu sein.

Theoph. Das Zeugnis der Menschen ist ohne Zweifel von größerem Gewicht als ihre Meinung, auch wird es in der Rechtspflege mehr als diese beachtet. Indessen weiß man, daß der Richter mitunter, wie man es nennt, einen Eid de credulitate ablegen läßt, und in den Verhören fragt man die Zeugen oft nicht nur nach dem, was sie gesehen haben, sondern auch nach ihrem Urteil, indem man sie zugleich nach den Gründen ihres Urteils fragt, und schenkt dem dann insoweit Beachtung, als ihm gebührt. Auch geben die Richter sehr viel auf die Ansichten und Meinungen der Sachverständigen in jedem Fach; und auch die Privatleute sind, soweit es nicht angeht, daß sie die Sache selbständig prüfen, hierzu genötigt. So muß ein Kind oder jemand, der, wenngleich er sich in einer gewissen Stellung befindet, in dieser Hinsicht nicht besser als im Stande des Kindes ist, der Landesreligion so lange folgen, als er darin kein Übles sieht, und er nicht imstande ist, zu untersuchen, ob es eine bessere gebe. Ein Pagenmeister mag einer Religionspartei angehören, welcher er wolle, so wird er doch jedem seiner Zöglinge die Verpflichtung auferlegen, in die Kirche zu gehen, die von denen, die dem Glauben dieses jungen Menschen angehören, besucht wird. Man kann, was das Argument der großen Zahl in Sachen des Glaubens betrifft, – dem man bisweilen zu viel Gewicht beilegt, während andere es wieder zu wenig beachten –, die Kontroversen zwischen Nicole und anderen zu Rate ziehen Leibniz bezieht sich hier auf die theologischen Kontroversen, welche sich an Nicoles Schrift »De l'unité de l'église« (1687) schlossen und bei denen auch die Frage erwogen wurde, ob der römische Katholizismus sich auf das allerdings bedenkliche Argument der »Mehrzahl der Bekenner« einlassen dürfe (Sch.). – Näheres über Nicoles Schrift s. bei Sainte Beuve, Port Royal IV, 446 ff.. Übrigens gibt es noch andere ähnliche Vorurteile, durch welche die Menschen sich der Untersuchung gern entziehen möchten. Tertullian nennt sie in einem eigens dazu geschriebenen Traktat Praescriptiones Tertullian, De praescriptione haereticorum.: ein Ausdruck, den die alten Juristen, deren Sprache ihm nicht unbekannt war, für manche Arten von Exzeptionen und von Allegationen, mit dem man einem Anspruch zuvorkommt, gebrauchten, den man aber heutzutage nur von der zeitlichen Präskription (Verjährung) versteht, die man geltend macht, um eines anderen Forderung, weil sie nicht innerhalb der gesetzlich festgestellten Zeit gemacht worden ist, zurückzuweisen. Deswegen hat man auch, sowohl von seiten der römischen Kirche als der Protestanten, »rechtmäßige Vorurteile« veröffentlichen können. Man fand, daß man in bestimmter Hinsicht sowohl den einen als den anderen Neuerungen vorwerfen könne, wenn z. B. die Protestanten größtenteils die Form der alten Weihungen der Geistlichen aufgegeben, oder die Römisch-Katholischen den alten Kanon der Bücher der Heiligen Schrift des Alten Testamentes verändert haben. Dies habe ich ganz klar in einem Streit bewiesen, welchen ich schriftlich und zu wiederholten Malen mit dem Bischof von Meaux, geführt habe, den wir nach Nachrichten, die vor einigen Tagen eingetroffen sind, soeben verloren haben Leibniz verweist hier auf seine weitläufige, aber schließlich erfolglose Korrespondenz mit Bossuet (gedruckt bei Foucher de Careil, Oeuvres de Leibniz, Paris 1859 ff., vol. 1 u. 2). Da Bossuet am 12. April 1704 starb, bildet diese Stelle zugleich ein Mittel, die Abfassungszeit dieses Teils der »Nouveaux Essais« zu bestimmen. (Sch.).. Da diese Vorwürfe also gegenseitig waren, so ist die Neuerung, wenngleich sie in Dingen dieser Art einen Verdacht des Irrtums erwecken mag, doch kein sicherer Beweis davon.


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